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Dezember 2018 | "Totale Perspektivlosigkeit": Migrant_innen aus Nordafrika. Gespräch mit Riadh Ben Ammar

Das Interivew ist erstmalig in der 4-seitigen Zeitung Nr. 9 von Afrique-Europe-Interact erschienen, die unter anderem der “tageszeitung taz” am 29.11.2018 beigelegen ist.

Riadh Ben Ammar gehört zu den Gründern von Afrique-Europe-Interact. Seit dem Arabischen Frühling 2011 ist er auch regelmäßig in Tunesien aktiv. Ab 2019 möchte er sich in seiner Heimatstadt Hammam-Lif am Aufbau eines offenen Begegnungszentrums in einem alten Kino beteiligen.

Riadh, du unterstützt Migrant_innen aus den Maghreb-Staaten – wie sieht ihre Situation aktuell aus?
Seit der Silvesternacht 2015 hat sich unser Leben als Nordafrikaner sehr verändert. Das ist eine krasse Entwicklung, alles ist verbunden mit dem rassistischen Bild vom Nordafrikaner als einem Kriminellen – dieses Bild ist heute sehr stark. Die meisten Asylbewerber_innen aus Nordafrika, und da geht es hauptsächlich um Männer, werden heutzutage nach Sachsen geschickt. Ich lebe auch in Sachsen und suche regelmäßig die Orte auf, wo viele Nordafrikaner sind, die kein Recht auf Arbeit haben und daher Drogen verkaufen. In Leipzig ist das unter anderem die Eisenbahnstraße, die angeblich gefährlichste Straße Deutschlands. Das ist ein Ort totaler Perspektivlosigkeit, ganz ähnlich wie beim Leipziger Hauptbahnhof. Entsprechend ist in den Medien nur von unserer Kriminalität die Rede, von sonst nichts.

Wie gehen die Behörden vor?
Meine Landsleute sprechen über Rassismus, also von Behörden, die alles verweigern, auch Leuten, die eigentlich ein Recht auf Aufenthaltspapiere hätten, etwa, weil sie Kinder bekommen und geheiratet haben. Was ich mitbekomme, ist völlig anders als das, was ich früher erlebt habe, als ich noch als Illegaler in Mecklenburg-Vorpommern gelebt habe. Viele berichten auch von krasser Gewalt gegenüber Nordafrikanern seitens der sächsischen Polizei. Das hat auch damit zu tun, dass es keine Beobachter_innen gibt. Wir sind nicht gut organisiert, wir haben keine Vereinsstrukturen, wir sprechen nicht öffentlich über unser Leben.

Und wie hat sich die Situation bei den Abschiebungen entwickelt?
Inzwischen gibt es eine Abschiebemaschinerie, das hat ungefähr vor einem Jahr begonnen. Die Jungs erzählen mir am Telefon, dass sie mit nichts als einer kleinen Flasche Wasser abgeschoben wurden. In der Regel kommt die Polizei um 3 oder 4 Uhr morgens ins Asylheim und holt dich ab. Das macht bei denen, die noch hier sind, viel Druck. Sie denken ständig: Wann kommt die Nacht, in der ich abgeschoben werde? Viele Jungs versuchen daher, sich die Pulsadern aufzuschneiden, viele Nordafrikaner hier in Sachsen haben solche Narben. Und es gibt auch Selbstmorde: In Chemnitz hat sich einer erhängt, in Leipzig ist die Polizei zu einem Jungen in die Wohnung gekommen, der dann aus dem 4. Stock gesprungen ist.

Das eine ist die Angst vor Abschiebung, aber wie fühlen sich die Leute grundsätzlich?
Sie sind depressiv, haben das Gefühl, nicht akzeptiert zu werden. Gerade wenn man versucht, Arbeit zu finden – und es gibt genug Arbeit in Deutschland, die Jungs wissen das –, dann merkt man immer wieder: Ich bin unerwünscht hier und das macht die Menschen sehr wütend. Und diese aggressive Depression ist gefährlich! Das zeigt auch der Dschihadismus in Europa. Die nordafrikanischen Männer, die in Nizza und Berlin mit ihren LKWs viele Menschen getötet haben, waren in der Vergangenheit ebenfalls illegalisiert.

Das heißt, die meisten haben keine Geschichte von Kriminalität, bevor sie nach Europa kommen?
Ja, so wie das bei mir der Fall war. Ich war ein sehr schüchterner und lieber Mensch, ich hatte nie etwas mit der Polizei zu tun, bis ich 27 Jahre alt war. Dann kam ich nach Deutschland und habe 8 Jahre ohne Papiere gelebt und immer wieder war ich im Knast. Wegen kleiner Sachen, aber trotzdem war ich einer von denen. Während des G8-Gipfels in Heiligendamm habe ich mich dann politisiert und habe mir die Frage gestellt: Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich mein Visum nicht hätte kaufen müssen und anschließend ohne Papiere dagestanden wäre? Deshalb ist es mir so wichtig, dass meine Landsleute verstehen, dass sie das Recht haben zu protestieren und klar und deutlich zu sagen, wie es dazu gekommen ist, dass viele in die Kleinkriminalität gerutscht sind.

War es früher eigentlich anders?
Klar, vor 1992, also bevor wir ein Visum brauchten. Da waren wir als Wanderarbeiter_innen unterwegs und da war Kriminalität kein Thema. Die Tunesier_innen in Europa waren in dieser Zeit ganz anders, alles war friedlich. Aber heutzutage gibt es zwischen den Alten aus Tunesien, die seit den 1970er Jahren hier leben und den Jungen, die seit den 1990er Jahren gekommen sind, immer wieder Konflikte. Denn die Alten fragen: Warum sind die Jungen so komisch geworden, warum verkaufen sie Drogen? Sie verstehen nicht, dass das etwas mit der Grenze zu tun hat. Ich selbst glaube, dass jede Gesellschaft so etwas erst nach vielen Jahren spürt. Am Anfang denkt man drüber nicht nach. Aber jetzt, nach fast 30 Jahren, spürt man, was die Grenze gemacht hat.

Ich möchte mal umgekehrt fragen: Wie wirkt sich das repressive EU-Grenzregime in Tunesien aus?
Geographisch sind wir sehr eng mit dem Mittelmeer verbunden, wir haben eine 1.200 Kilometer lange Küste und das Bedürfnis, zu reisen oder in Europa Arbeit zu suchen, ist sehr stark. In der Zeit, als der Kanal von Sizilien ein Ort des Hin und Zurücks für alle gewesen ist, waren die Tunesier_innen sehr offen. Doch jetzt gibt es diese offene Beziehung zu den Anderen auf der anderen Seite des Mittelmeers nicht mehr. Wir haben vielmehr eine Gesellschaft, wo eine ganze Menge Aggression und Perspektivlosigkeit in der Luft liegt. Es gibt viele Probleme mit Dschihadismus und jungen Leuten, die ans Sterben glauben, anstatt das Leben zu genießen. Und auch gibt es viele Selbstmorde, erst letzte Woche hat sich in Tunis eine Frau mitten auf einer Hauptstraße in die Luft gesprengt. Tunesien ist kein stabiles Land mehr.

Wird in der Bevölkerung über die von dir geschilderten Zusammenhänge gesprochen?
In jeder Familie existiert das Thema Migration. Wenn ich in Tunesien bin, frage ich immer: Wo ist der? Er ist weg. Wo ist der? Er ist weg. Wo bin ich? Ich bin auch weg. Gleichzeitig gibt es in den tunesischen Medien keine Nachrichten über Abgeschobene aus Deutschland oder aus anderen Ländern. Dabei ist eine Abschiebung das Schlimmste, was dir passieren kann. Denn die Leute in Tunesien wissen nichts über die Notwendigkeit, einen Asylantrag zu stellen, und was das bedeutet. Die Abgeschobenen schämen sich und ziehen sich zurück, du bist gescheitert, ein Verlierer, auch für die Familie, die oft viel investiert hat.

Aber die Gesellschaft ist doch selbst betroffen, warum ist das so tabuisiert?
Ja, es gibt viele Opfer des europäischen Grenzregimes in der tunesischen Gesellschaft. Wie zum Beispiel die Familien der vermissten Migrant_innen, die seit Jahren um Aufklärung kämpfen. Aber die Gesellschaft reagiert nicht, es gibt stattdessen immer die Diskussion, dass wir mehr Arbeitsplätze schaffen müssen, damit die jungen Leute nicht mehr weggehen. Doch das ist aus meiner Sicht eine falsche Diskussion. Ich habe das Bild, dass die Grenze selbst die Fluchtursache ist. Ich bin nämlich überzeugt davon, dass alles anders aussehen würde, gäbe es ein Hin und Zurück mit einer offenen Grenze. Dann würde es ein anderes Tunesien geben, andere junge Leute, vor allem würden wir wieder einen wirklichen Mittelmeer-Raum haben – mit seiner ursprünglichen Identität des Tausches, bei der du auf die andere Seite gehen kannst und willkommen bist.