Februar 2017 | Gründungstreffen in Niamey/Niger (Bericht & Bilder)
Im Oktober 2014 war Afrique-Europe-Interact an der Gründung des Watch The Med Alarmphone beteiligt – einer Notrufnummer für Geflüchtete in Seenot (das Alarmphone hat keine eigenen Boote, übt aber Druck unter anderem auf die jeweiligen Küstenwachen aus, um eine zeitnahe Rettung zu gewährleisten. Im ersten Jahr seines Bestehens wurde das Alarmphone von über 1.200 Booten angerufen, auf denen sich insgesamt 60.000 Menschen befunden haben. Seit Anfang 2016 ist die Zahl der Anrufe zwar rückläufig (als unmittelbare Folge der immer brutaler werdenden EU-Abschottungspolitik), dennoch ist das Watch The Med Alarmphone bis heute ein wichtiger Pfeiler in der Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer. In diesem Sinne hat Afrique-Europe-Interact zusammen mit Vertreter_innen verschiedener Gruppen und Netzwerke im Februar 2017 erste Schritte zur Gründung eines “Alarmphones Sahara” unternommen.
Denn nicht nur im Mittelmeer, sondern auch in der Wüste verlieren jedes Jahr unzählige Menschen ihr Leben. Offizielle Zahlen liegen zwar nicht vor, doch Migrant_innen, die die Wüste durchquert haben, sowie Akteure aus den unmittelbar betroffenen Ländern (Mali, Niger, Algerien und Libyen) gehen schon lange davon aus, dass die Zahlen ähnlich hoch wie im Mittelmeer sein dürften. Hiermit verbunden ist die vor allem von afrikanischen Aktivist_innen formulierte Kritik, dass in Europa fast ausschließlich die Toten im Mittelmeer beachtet werden, während die nicht minder schreckliche Situation in der Wüste meist nur am Rande Erwähnung findet.
Ein erster Workshop zur Gründung des Alarmphone Sahara hat im September 2016 anlässlich eines Treffens des Watch The Med Alarmphone in Marokko stattgefunden. Dort wurde sodann vereinbart, im Februar 2017 in Niamey – der Hauptstadt Nigers – zu einem 2-tägigen Treffen zusammenzukommen, um genauer über Chancen und Grenzen eines solchen Wüsten-Alarmphones zu sprechen. Denn so viel steht fest: Die Situation in der Wüste kann allenfalls eingeschränkt mit den Bedingungen im Mittelmeer verglichen werden – unter anderem aus folgenden Gründen: Erstens, weil in weiten Teilen der Sahara bewaffnete Konflikte stattfinden und daher Rettungsmaßnahmen nicht problemlos ergriffen werden können – von zivilgesellschaftlichen Rettungsinitiativen wie im Mittelmeer ganz zu schweigen. Zweitens, weil es in der Wüste keine Wüstenwachen gibt (analog zu den Küstenwachen im Mittelmeer), die zur Rettung verpflichtet wären, sobald sie ein Notruf erreicht. Drittens, weil es sich bei der Sahara oftmals um äußerst schwer zugängliches Terrain handelt, für das in den betroffenen Ländern in der Regel die notwendigen Hubschrauber oder geländetauglichen Autos fehlen – oder schlicht das Benzin, letzteres insbesondere in Mali und im Niger.
Vor diesem Hintergrund ist es beim Gründungstreffen in Niamey zunächst einmal um die Frage gegangen, in welchen Ländern welche Unterstützungsmaßnahmen möglich wären. Beispielsweise wurde mit Blick auf den Niger die Idee diskutiert, einen in Agadez im Norden des Landes stationierten Rettungsjeep (“Pick-Up”) zu kaufen, der bei Pannen oder Unfällen via Satellitentelefon angerufen werden könnte – sei es, um direkt zu retten oder Wasser bzw. Ersatzteile zu bringen. Demgegenüber ging es im Falle von Mali in erster Linie darum, über die noch einzurichtende Alarmphone-Nummer sowie andere Wege Infos für Migrant_innen und Geflüchtete zur Verfügung zu stellen. Denn immer wieder werden diese von Schleppern gezielt in die Irre geführt, etwa indem ihnen überteuerte Tickets für reguläre Linienbusse verkauft werden. Gleichzeitig gehört der Norden Malis zu jenen Zonen in der Sahara, wo aufgrund der prekären Sicherheitslage eine (zivilgesellschaftliche) Rettung mit Autos derzeit kaum möglich ist.
Welche Maßnahmen als erstes umgesetzt werden, möchten wir auf einem Treffen in Ouagadougou (Burkina Faso) im Mai 2017 endgültig entscheiden. Allerdings steht bereits fest, dass dieses Projekt ohne erhebliche finanzielle Unterstützung nicht möglich sein wird. Denn die allermeisten Beteiligten kommen aus afrikanischen Ländern (in erster Linie Mali, Niger, Burkina Faso, Algerien, Marokko, Mauretanien und nach Möglichkeit auch Libyen), weshalb wir bereits für die Treffen selbst dringend auf Spenden angewiesen sind (Transport, Unterkunft etc.).
Pressekonferenz in Bamako: Massive Schikanen auf den Migrationsrouten Richtung Norden
Um unser Verständnis für die Situation auf den beiden Hauptmigrationsrouten Richtung Wüste zu vertiefen, sind Aktivist_innen von Afrique-Europe-Interact auf zwei Wegen zum Alarmphone-Treffen nach Niamey gereist: Eine Gruppe hat den Weg über Gao genommen (d.h. über den Norden Malis), die andere ist von Bamako über Ouagadougou (der Hauptstadt Burkina Fasos) nach Niamey gefahren. Während dieser Reise mussten wir feststellen, dass der von der Europäischen Union ausgeübte Druck auf die verschiedenen afrikanischen Länder mittlerweile dazu geführt hat, dass auf diesen Strecken unzählige Kontrollposten eingerichtet wurden, die sich in erster Linie gegen (mutmaßliche) Migrant_innen richten. Denn an jedem Posten wurden vor allem jene (jungen) Leute ausgefiltert, die allem Anschein nach auf dem Weg Richtung Norden waren. Und zwar einzig deshalb, um von ihnen Geld einzutreiben (ca. 15 Euro pro Posten und Person auf der Gao-Route und ca. 6 Euro pro Posten und Person auf der Ouagadougou-Route). Und auch andere Fahrgäste mussten zahlen, vor allem jene, die abgelaufene Ausweispapiere hatten (was in Westafrika gang und gäbe ist) oder solche, die lediglich über zeitlich begrenzte Passierscheine verfügten, wie sie unter anderem von Kleinhändler_innen benutzt werden. Doch damit nicht genug: Die Kontrollen wurden auch dafür genutzt, um mutmaßliche Migrant_innen aus den Bussen zu ziehen und an der Weiterreise zu hindern, was schlicht eine Verletzung des innerhalb der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS verbürgten Rechts auf Bewegungsfreiheit darstellt. In ähnlicher Form wurden auch Abgeschobene malträtiert, also jene jungen Migrant_innen, die aus Algerien oder Libyen Richtung Mali oder Niger abgeschoben wurden und die sich wieder auf dem Weg in ihre Herkunftsländer befanden. Viele von ihnen hatten alles verloren, inklusive ihrer Ausweispapiere. Und genau deshalb wurden sie ebenfalls zu Opfern polizeilicher Willkürmaßnahmen, d.h. auch sie mussten an jedem Posten zahlen.
In der Summe heißt dies, dass es derzeit ein fatales Zusammenspiel zwischen EU-Kontrolldruck und korruptem polizeilichen Handeln gibt. Und das mit fatalen Konsequenzen für den gesamten öffentlichen Transportsektor. In diesem Sinne gab es während unserer Rückfahrt von Niamey nach Bamako in Ouagadougou einen ganztägigen Streik aller Busunternehmen in Burkina Faso. Und zwar deshalb, weil es durch die ständigen Kontrollen zu stundenlangen Verspätungen der Busse kommt, ganz davon abgesehen, dass sich die Busunternehmen auch ihren Fahrgästen gegenüber verpflichtet fühlen. Schlussendlich hat Afrique-Europe-Interact eine große Presskonferenz in Bamako durchgeführt, bei der nicht nur über das Projekt eines Alarmphone für die Sahara berichtet wurde, sondern auch über die sprunghaft angestiegenen Kontrollen auf den verschiedenen Migrationsrouten.
Dazu noch zwei Anmerkungen: In der westafrikanischen Öffentlichkeit werden die Kontrollen in erster Linie mit der allgemeinen Sicherheitslage begründet, also mit dem ja durchaus sehr realen und hochgradig dramatischen Phänomen des grenzüberschreitenden Terrorismus. Einziger Haken: Kontrolliert werden auf den großen Migrationsachsen nur Busse, nicht aber PKWs oder LKWs, was deutlich macht, dass es sich beim Terrorismus-Argument um eine reine Schutzbehauptung handelt. Zur skandalösen Kontrollpraxis gehört im Übrigen auch der Umstand, dass es an den Grenzen ebenfalls zu maßlosen Bereicherungspraktiken seitens der Grenzbeamt_innen kommt. So mussten die malischen Businsass_innen auf der Einreise von Burkina Faso nach Mali an die Grenzbeamt_innen von Burkina Faso ca. 5 Euro pro Person zahlen – angeblich, weil Reisenden aus Burkina Faso in Mali das Gleiche widerfahren würde. Auch dies sind Vorgänge, die es in dieser Form früher nicht gegeben hat. Vielmehr handelt es sich um Begleiterscheinungen eines intensivierten Kontrollregimes an den innerafrikanischen Grenzen (das nicht nur von Europa, sondern absurderweise auch von Ländern wie Japan finanziert wird, wie eine Infotafel an einem der nagelneuen Grenzübergänge zwischen Mali und Burkina Faso verkündet).