18.12. 2015 | DEKLARATION VON AFRIQUE-EUROPE-INTERACT (SEKTION MALI)
Gedenkveranstaltung in Kita in Mali für die malischen Migrant_innen, die ihr Leben bei Bootsunglücken im Mittelmeer verloren haben.
Am 19. Dezember führt die malische Sektion von Afrique-Europe-Interact (www.afrique-europe-interact.net) eine Gedenkveranstaltung in Kita durch, um an die Bootsunglücke im Mittelmeer zu erinnern. Denn es handelt sich um eine Region, die viele ihrer Kinder auf ihrem Weg nach Europa im Meer verloren hat, so wie auch vielen weitere Malier_innen ums Leben gekommen sind. Mehrere Dutzend Eltern und Familien der betroffenen Migrant_innen aus verschiedenen Dörfern in der Region werden an der Aktion teilnehmen, um die Erinnerung an die Toten aufrechtzuerhalten, um ihr Leid zu teilen und um die Botschaft der Sensibilisierung weiterzutragen.
Vor dem Hintergrund mehrerer tausend Toter seit Januar 2015 im Mittelmeer und der jüngst seitens der EU-Aufnahmeländer beschlossenen Maßnahmen, die auf eine verstärkte Einbindung der subsaharischen Länder in die Abwehr potentieller Migrant_innen aus dem Süden zielen, werden wir eine Verlängerung der menschlichen Dramen erleben, was immer wieder eine Verletzung universeller Werte und Prinzipien darstellt.
Ausgehend von den verheerenden Auswirkungen der IWF-Strukturanpassungsprogramme seit Anfang der 1980er Jahre, die den Entwicklungsländern aufgezwungen wurden (zusammen mit Verträgen, die ebenfalls an harte Konditionen gebunden waren), haben sich die sozioökonomischen und politischen Rahmenbedingungen derart verschlechtert, dass sie zu einer extremen Schwächung der Haushalte bei den sozialen Basisdienstleistungen geführt haben. Die entsprechenden Konsequenzen wurden zudem durch Privatisierungen und durch ungleiche Handelsbeziehungen massiv zugespitzt. Daher verschaffte die saisonale und grenzüberschreitende Migration den Familien in den Herkunftsorten der Migrant_innen jene ökonomischen und materiellen Möglichkeiten, die ansonsten fehlen würden – so, wie es nicht nur die Mutter formuliert hat, deren Sohn bereits seit 13 Jahren in Libyen lebt, sondern auch zwei weitere Personen, die als Vater bzw. Bruder an der Gedenkveranstaltung am 19. Dezember teilnehmen werden:
- “Angesichts unserer prekären Existenz, bringen unsere Kinder den Mut auf, um unsere Würde aufrechtzuerhalten. Und jede Mutter unseres Dorfes hofft, einen Sohn zur Welt zu bringen, der seine Familie so mit Stolz erfüllt.”
- “Unsere Väter sind über St. Louis gegangen, um Frankreich per Boot zu erreichen und in Marseille haben sie Einreisevisa erhalten, unsere Erstgeborenen sind mit dem Touristenvisum gekommen und wir sind heute im Stadium der Pirogen – allerdings aus den gleichen Gründen.”
- “Wie können sie sich über die Dramen im Meer wundern, während ihre Botschaften umgekehrt den Leuten in unseren Ländern Visa verweigern und sie zudem die Länder des Maghreb dazu bringen, Jagd auf uns zu machen. Es bleibt uns daher nur das Meer, und die Schlepper werden zu unserer Hoffnung, um anderswohin zu fliehen.”
Die Familien der Migrant_innen können nur schwer begreifen, dass es häufiger zu Bootsunglücken als zu Rettungen kommt, während FRONTEX gleichzeitig seine Mittel aufstockt, einfach um von der Überfahrt abzuschrecken.
Die Spirale der Dramen hat 2005 rund um die Ereignisse von Ceuta und Melilla begonnen – Hand in Hand mit den ersten FRONTEX-Operationen gegen die Durchbrüche an den Zäunen, die Marokko von den sogannten spanischen Enklaven trennen. Mit Blick darauf, dass die Mehrheit der EU-Aufnahmeländer noch nicht die UN-Konvention unterschrieben hat, die alle Sorten von Migrant_innen schützt (einschließlich der Mitglieder ihrer Familien und ihren Besitz bzw. ihre Ansprüche), hören wir nicht auf, dieses auf Sicherheit zielende Herangehen zu kritisieren und stattdessen das Ende einer solchen Migrationskontrolle zu fordern.
Denn die zur Überfahrt bereiten Migrant_innen nehmen seit der Gründung von FRONTEX immer risikoreichere Wege auf sich, so dass sich die Umwege entlang der von den Schleppern und anderen mafiösen Banden neu erschlossenen Möglichkeiten ständig verlängern. Die menschlichen und finanziellen Kosten der Bootsunglücke widerlegen die Wirksamkeit der Überwachung der Außengrenzen in ihrer aktuellen militarisierten Form.
All dies sind die Gründe, weshalb die malische Sektion des Netzwerks Afrique-Europe-Interact – angestoßen von seiner Mitgliedsgruppe ECK – im Rahmen des Internationalen Tags der Migrant_innen und ihrer Familien die Zeremonie im Gedenken an die verstorbenen Migrant_innen initiiert hat – an die im Meer Ertrunkenen und Verschwundenen, an die Männer, Frauen und Kinder, die zu Fuß in Richtung der Europäischen Mauer sind.
Diese humanistische Aktion ruft den Verlust unserer starken Leute auf den Migrationsrouten in Erinnerung, sie appelliert an die Europäischen Staaten, ihren Blick auf Migrant_innen zu ändern, die Dynamik von Migration und Entwicklung voranzubringen, das Verhältnis zwischen Individuum und seinem tatsächlichen Migrationsprojekt ernst zu nehmen und zu unterstützen.
Als Antwort auf die sich wiederholenden Dramen im Meer, fährt die EU weiter damit fort, die Auswirkungen, nicht aber die Ursachen dieser Migration anzugehen, während die afrikanischen Länder keine Initiativen für einen wirklichen Dialog mit den Partneraufnahmeländern wie den Maghrebstaaten ergreifen. Über Entwicklungsabkommen werden diese Staaten in der Überwachung der Grenzen ausgebildet, um zu verhindern, dass potentielle Asylbewerber_innen überhaupt die Küsten des Mittelmeers erreichen. Das aber ist eine vertragswidrige und kontraproduktive Strategie, die nicht die wirklichen Ursachen der Migration in den Blick nimmt: Die Armut (unter anderem wegen der Strukturanpassungsprogramme), ungerechter Handel, Landraub, ethnische Kriege und Bürgerkrieg, Terrorismus, Korruption im Allgemeinen und Besonderen, schlechte Regierungsführung, ein Mangel demokratischer Regierungswechsel, zudem die Auswirkungen des Klimawandels. Das sind die Hauptursachen, die unzählige jungen Afrikaner_innen dazu bringen, den Weg des Exils zu wählen und sich an den Illusionen eines besseren Morgens zu wärmen, was auf der anderen Seite des Mittelmeers warten würde. “Wie jemanden aufhalten, der Hitze unter den Füßen hat”, sagt ein Sprichtwort in Mali.
Jenseits der gemeinsamen Behandlung von Migrationsfragen sollten sich die afrikanischen Führer endlich der Verbesserung der Existenzbedingungen ihrer Mitbürger_innen widmen und ihnen einen besseren Alltag ermöglichen. Die Migrant_innen sind die Akteure der Mobilität, die eine Umverteilung vornehmen möchten. “Denn wir brechen in die Migration auf, indem wir den Routen unserer landwirtschaftlichen Produkte und unserer Mineralien nach Europa folgen, die Korruption und der Neoliberalismus drängen uns, unsere Länder zu verlassen, so sagte uns ein junger Diplomierter ohne Arbeit.
Diese Stimme unter so vielen anderen, die man mit der abwertenden Bezeichnung der “Migrant_innen” versieht, flieht vor allem vor den schlechten Lebensbedingungen, in die sie in ihren Herkunftsländern hereingezwungen wird, welche – wie gesagt – aus dem unheilvollen Handeln unserer Regierungen herrühren. In einer offensichtlichen Komplizität unter dem Deckmantel der Partnerschaft mit selbstsüchtigen Regimen in Afrika, fährt die EU fort, mit afrikanischen Ländern zu kollaborieren, mit dem einzigen Ziel, den Strom der Migrant_innen zu reduzieren. Die schreckliche Tatsache des Verlusts unserer Arbeitskräfte muss ein Ende haben und die EU muss sich mit Nachdruck für die gleichberechtigte Entwicklung der Herkunftsregionen der Migrant_innen aus dem Süden einsetzen.
Die afrikanischen Regierungen müssen sich zuallererst von den Tragödien berührt zeigen, die ihre Bürger_innen treffen. Es ist beispielsweise erbärmlich, dass sich Hunderte junge Afrikaner_innen in die Ghettos der Schlepper quetschen, die sie dann zwingen, die alten Boote zu besteigen, um zu ertrinken. Wir laden unsere Regierungschefs also ein, konkrete Vorschläge zu präsentieren, wie den Leuten die Hoffnung zurückgegeben und wie das Recht zu bleiben gefördert werden kann, damit die Einzelnen motiviert sind, sich in ihrer lokalen Umgebung zu verwirklichen. Denn jede Person hat das Recht, sich frei zu bewegen und niederzulassen, wie es Artikel 13 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung fordert und wie es sich in Gänze in der Konvention der Vereinten Nationen von 1992 wiederfindet, die wir heute feiern.
Europa hat seine Verantwortlichkeiten, aber die Herkunftsländer der Migrant_innen haben auch ihre direkten Verantwortlichkeiten in der Schaffung irregulärer Migration. Wir appellieren an die Entwicklungspartner, hinsichtlich unserer Regierungen genaue Prüfungen vorzunehmen, um Unterschlagungen zu minimieren. Um zu vermeiden, immer wieder schlecht in der Öffentlichen Meinung dazustehen, sollten die afrikanischen Staatschefs eine Wirtschaftspolitik des guten Willens in die Wege leiten, um Wohlstand für ihre Bevölkerung zu schaffen, d.h. um konkrete Maßnahmen zu ergreifen, die Energien auf dem Weg zum Aufschwung freisetzen, die insbesondere demokratische Wechsel erlauben, um auf diese Weise endlich der Instabilität und der Unsicherheit ein Ende zu bereiten. Ohne diese Überlegungen und ohne die Bemühung, sich hierauf zugunsten der großen Mehrheit einzulassen, wird man immer fortfahren, dem betrüblichen Spektakel der Ohnmächtigen beizuwohnen, was heute auch als der Friedhof der Migrant_innen im Mittelmeer tituliert wird. Wir handeln im Namen der universellen Werte der Bewegungsfreiheit und des Rechts zu bleiben.
Kita, 17. Dezember 2015