Für Bewegungsfreiheit & selbstbestimmte Entwicklung!

Westafrika: Die Freiheit, die wir meinen

Von Martin Glasenapp

Nur wer sich das Recht nimmt, über Grenzen zu gehen, begegnet dem Anderen – aber für manche Menschen sind Grenzen unpassierbar. Wie in Mali eine mutige Zivilgesellschaft versucht, den Bann der Freihandelsglobalisierung zu brechen.

Dass das Mittelmeer eine tödliche Falle für all jene Lebenshungrigen darstellt, die von den afrikanischen Küsten oft ohne Navigation, Wasser und Nahrung auf dem Seeweg den Sprung nach Europa wagen, ist fast schon ein Gemeinplatz. Wenn der Scirocco im Spätsommer und Herbst an den Pelagischen Inseln die Wellen auftürmt und die Leichen der Ertrunkenen an die Strände der südlichsten Inselgruppe Italiens spült, beginnt das alljährliche Bedauern der Regierungen und Behörden über das große Sterben an der südlichen Front der europäischen Sicherheitsarchitektur. Der Tod im Meer verlangt schnelle Abhilfe, denn “Europa ist kein Ort, sondern eine Idee der Humanität”, wie es Bernard- Henri Lévy einmal formulierte. Aber die Toten im Mittelmeer sind die dunkle Konsequenz des europäischen Zusammenschlusses und eines Globalisierungsversprechens, dass der radikalen Freiheit des Waren- und Güterverkehrs entspringt.

Die Schriftstellerin Aminata Traoré, Sprecherin des “Forum für ein anderes Mali”, bezeichnet die Freihandelsverträge (Economic Partnership Agreements), die die EU zur Zeit mit der westafrikanischen Staatengruppe (ECOWAS) aushandelt, als “Europas Massenvernichtungswaffen”. Wir treffen die “Grande Dame” der malischen Zivilgesellschaft in Bamako. In ihrem Stadtteil Misra, inmitten der hektischen malischen Hauptstadt, gibt es keine stinkenden offenen Abwasserkanäle und keine Müllberge. Die mit Natursteinen gepflasterten Gassen sind auffällig sauber. Bäume vor den niedrigen Stadthäusern spenden Schatten, kleine Garküchen bieten Essbares an, Kinder spielen und auf den zur Straße hin offenen Veranden treffen sich abends die Anwohner. Die ehemalige malische Kulturministerin und Innenarchitektin leitet nicht nur die Modellsanierung ihres Viertels. Sie führt auch ein malerisches Hotel samt afrikanischem Spezialitätenrestaurant und organisiert in Bamako regelmäßige Intellektuellentreffen nach dem Modell von Porto Alegre.
Europas Umgang mit den afrikanischen Migranten ist für die Mitbegründerin des Weltsozialforums Beweis einer kolonialen Kontinuität, die auf “Entwurzelung und fortwährender Deklassierung” beruhe: “Afrika ist für Frankreich nichts anderes als eine erweiterte Banlieue.” Für sie begründet sich die Migration im Freihandel: “Europa schickt uns seine Hühnerbeine, seine Gebrauchtwagen, seine abgelaufenen Medikamente und seine ausgelatschten Schuhe, und weil eure Reste unsere Märkte überschwemmen, gehen unsere Handwerker und Bauern unter.” Im Gespräch bezeichnet Traoré die Globalisierung als eine “Lüge”, weil der Prozess die Welt in Wirklichkeit “nicht vereint, sondern zerstückelt.” Kaum jemand im wohlhabenden Norden könne sich vorstellen, was das In-Kraft-Treten des Schengen-Abkommens im Jahre 1990 und der damit einhergehende Verlust der Visumfreiheit für viele Bewohner afrikanischer Länder nach Frankreich und England bedeutete: “Wir haben unsere Rettungsweste verloren.” Denn noch immer leben geschätzte 4 Millionen Malier, mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung von 11,7 Millionen Menschen, im Ausland, davon eine halbe Million in Europa und den USA.

Die Economic Partnership Agreements (EPAs) sind von der EU geforderte bilaterale Abkommen über Freihandelszonen, die nach dem Scheitern der WTO-Verhandlungen 2003 in Cancún derzeit verhandelt werden. Für die westafrikanische Staatengruppe sind die EPAs verheerend, weil sie die lokalen Produktionen weiter den Profitinteressen westlicher Konzerne ausliefern werden. Das Verbot von Exportrestriktionen schafft in der frankophonen Staatengruppe Westafrikas (ECOWAS) nicht “mehr Markt”, sondern wird die ohnehin beschränkten regionalen Handlungsspielräume weiter verengen und besonders die Agrarwirtschaft treffen. In Mali beispielsweise leben noch immer 70 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Im jüngsten UNDP-Bericht über die menschliche Entwicklung ist das Sahelland, das zu 65 Prozent aus Wüste und Halbwüste besteht, auf Platz 175 von 177 positioniert. Geht es nach den Wünschen der EU, sollen weder Steuern auf Importe erhoben, noch die lokale Landwirtschaft (von den EU-Agrarsubventionen ist allerdings nicht die Rede) subventioniert werden. Das wird dazu führen, dass die Märkte Malis mit Billiggemüse, Eiern und Fleisch aus dem europäischen agrar-industriellen Komplex überschwemmt werden. Aber nicht allein die lokale Produktion, speziell die Landwirtschaft, wird kollabieren, sondern auch die öffentliche Infrastruktur. Denn neben den Märkten sollen sämtliche Dienstleistungen und auch die kläglichen Reste des öffentlichen Dienstes, der die IWF-Strukturanpassungsprogramme der 1990er Jahre überlebt hat, europäischen Anbietern geöffnet werden. Selbst eine von der EU-Kommission finanzierte Studie über die Auswirkungen der EPAs für Mali stellt fest: Würde das Abkommen vollständig umgesetzt, wäre der Effekt ein sofortiger Verlust von 28 Mio. Euro oder gut 1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Ihre Verbündeten “für ein anderes Afrika” jenseits des Freihandels, für das sie leidenschaftlich kämpft, sieht Aminata Traoré in den globalisierungskritischen Bewegungen im Norden. Mit ihnen streitet sie für die Öffnung der Grenzen: “Die afrikanischen Einwanderer sind keine Feinde Europas, im Gegenteil: Sie glauben an Europa.” Und als im Herbst 2005 nach dem blutigen Aufstand an den Zäunen vor den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla die Flugzeuge mit den Deportierten in Bamako landeten, war sie sofort zur Stelle und gründete mit der Initiative “Retour Travail Dignité” einen ersten Anlaufpunkt für die Abgeschobenen. Auch heute, mehr als zwei Jahre später, leben noch einige der Betroffenen in Misra, arbeiten in der Stadtteilinitiative, im Hotel Djenné, oder versuchen ihre Erlebnisse künstlerisch zu verarbeiten.
Aber die große Deportation kennt auch andere Formen und Mittel. In der Region des Sahel im Nordosten von Mali liegen am großen Niger die Orte, die fast jeder passiert, der sich aufmacht, den afrikanischen Kontinent zu verlassen: Gao und Kidal. Von dort aus starten die klandestinen Flüchtlingstrecks durch die menschenfeindliche Sahara, um die versteckten Häfen an der algerischen und libyschen Küste zu erreichen. Auch wenn die Wüsten- Route nur einer der Wege ist, den Kontinent zu verlassen, ist sie doch der Pfad für das Proletariat der illegalen Migration, für diejenigen, die sich kein Schengen-Visum, noch nicht einmal ein schlecht gefälschtes, leisten können. “Ein Boot erreichen nur die Auserwählten”, sagt Mamadou Diakité. Der elo quente Mittvierziger versucht mit seiner Hilfsorganisation “Aide Mali” in Bamako einigen zu helfen, die aus Algerien und Libyen deportiert wurden. Er erzählt von seinen Erlebnissen in der Einöde des malischen Nordostens, von traumatisierten und geschlagenen Flüchtlingen, die von algerischen Grenzern ausgeraubt und bis auf die Unterhose entkleidet mit Lastwagen ins Niemandsland der Sahara gekippt wurden: “Menschen”, sagt Mamadou, “die wirken, als seien sie aus der Erde gekrochen.” Dann spricht er über die Scham der Zurückgebliebenen, ihre Sprachlosigkeit und Apathie. Allein der Treck durch die Wüste kostet ca. 4.000 Euro. Bei einem regionalen Durchschnittseinkommen von 60.000 CFA (ca. 80 Euro), entspricht dieses Ticket ins vermeintliche Paradies vier Jahren Arbeit. Ganze Familien und Dörfer verschulden sich, um einem ihrer Söhne den Weg zu ermöglichen – in der Hoffnung, alsbald eine Dividende erwarten zu können. Im Sahel leben ganze Landstriche von dem Geld derjenigen, die ausgezogen sind, ihr Glück woanders zu finden. Viele machen Station in Maghnia, der versteckten Kolonie im algerischmarokkanischen Niemandsland: “Einer Eroberung aus Reifen, Holz und Abfall, in der zeitweilig bis zu 3.000 Migranten in verschiedenen nationalen Gruppen zusammenlebten.” Dort regiert ein gewählter “Präsident” mit eigenen Gesetzen und Milizen. “Hinter Maghnia gibt es keinen Schutz mehr. Hier beginnt unsere Zone des Todes, in der jeder auf sich allein gestellt ist, um das ‚Eldorado' zu erreichen”, sagt der 45-jährige. “Im arabischen Maghreb gilt der schwarzafrikanische Migrant weniger als ein Hund.” Diakaté spricht ohne jegliche Anklage: “Wir wissen das seit Jahrhunderten”, erklärt er. Trotz der Gefahren, die die Wüstenpassage mit sich bringt, ist für ihn das Recht zu gehen unveräußerlich: “Ich sage allen, was sie erwartet. Die Entscheidung umzukehren aber liegt bei jedem selbst.” Ein tiefer Groll ist zu spüren, wenn er über das Verhalten der lokalen Eliten spricht und er greift offen die populistische Befreiungsrhetorik der afrikanischen Führer an, die noch immer nur die weiße Dominanz anklagen, anstatt sich der eigenen Verantwortung für die Nöte ihrer Bevölkerungen zu stellen: “Afrika schiebt die Probleme nur nach Europa.” Dabei suche doch die EU auch den Dialog, weil die bloße Gefahrenabwehr längst gescheitert sei: “Aber wer sitzt ihnen denn gegenüber?”

Um Kosten und Dialog geht es auch in der Vertretung der Europäischen Union in Bamako. Damit die EU angesichts des Drucks auf die afrikanischen Regierungen nicht ganz so hartherzig dasteht, stellte der EU-Kommissar für Entwicklungshilfe Louis Michel im Februar 2006 ein erstes “EU-Jobcenter” in Aussicht. Wer eine Chance sieht, mit Stempel und Jobzusicherung nach Europa einzureisen, so das Kalkül, der werde vielleicht von der lebensgefährlichen Fahrt übers Meer absehen. Aber das geplante Startbudget von 40 Mio. EU wurde klammheimlich auf ein dreijähriges Volumen von lediglich 10 Mio. EU aus Restmitteln zusammengestrichen, so eine Mitarbeiterin vor Ort. “Nennen sie es bloß nicht 'Job-Center'”, berichtigt uns die junge Sachverwalterin sofort, “das hören die europäischen Botschafter hier überhaupt nicht gerne.” Besonders die deutsche Vertretung lehnt eine solche Arbeitsagentur light rundweg ab, würden damit doch offene Stellen suggeriert, die es in Europa gar nicht gebe. Das erste “europäische Arbeitsamt” in Afrika ist in Wahrheit nicht mehr als ein sog. “Zentrum für Fragen der Migration” (CIGEM). Hier sollen Bedarfsstudien erstellt und handverlesene Jugendliche beraten und ein wenig ausgebildet werden. All dies wird weniger ein Angebot für diejenigen sein, die nach Norden drängen, als für solche, die bereits weg waren, sprich: für die aus den EU-Staaten und besonders aus Frankreich wieder Ausgewiesenen.
Ihnen begegnet Keita Mohamadou. Täglich fährt er zum Flughafen von Bamako hinaus und empfängt die meist mit Air-France-Maschinen ausgeflogenen Deportierten. Keita ist Generalsekretär der Association Malienne des Expulsés (AME), die 1996 von Abgeschobenen gegründet wurde, die an der berühmten Besetzung der Kirche Saint Bernard teilgenommen hatten: Ausgangspunkt der Bewegung der Sans Papiers (“Papierlosen”). Heute kümmert sich AME auch um Abgeschobene aus dem Maghreb oder aus anderen afrikanischen Staaten, von denen viele an der algerisch-malischen Grenze ankommen und medizinische Hilfe, eine Notunterkunft, Rechtsbeistand oder das Fahrgeld bis in ihren Heimatort benötigen. Keita kennt die Nöte der Angekommenen aus eigener Erfahrung, war er doch selbst 14 Jahre ein Papierloser in Paris. “Viele waren auch in Europa völlig am Ende, lebten in alltäglicher Angst auf der Straße oder fristeten ihr Überleben als Tagelöhner.” Und Frankreichs Humanität? “Wir waren doch nur der Kampfgaul von Sarkozys Wahlkampagne”, lacht er bitter. Auch die eigene Regierung tue nichts: “Hier in der Wartehalle sind wir noch immer die Einzigen, die versuchen, unsere Wegwerfmigranten mit Würde zu empfangen.”

Die Jahrhunderte alte Wanderkultur der malischen Soninké kennt keinen Begriff für “Migration”. In Bambara, einer ihrer Hauptsprachen, welche von ca. 30 Millionen Menschen in zehn Ländern Westafrikas verstanden wird, gibt es allein tama, zu deutsch: “sich auf den Weg machen”. Die Freihandelsglobalisierung im subsaharischen Afrika dekonstruiert nicht nur die bestehenden territorialen Einheiten, sie verflüssigt auch die bisher geltenden Grenzen. Zugleich entsteht ein geschlossener Raum für “überflüssige” Bevölkerungsgruppen. An der Peripherie der großen technologischen Veränderungen bildet sich eine Zwangsherrschaft heraus, deren einziger Zweck in der Verwaltung von Ausschussbevölkerungen und in der Ausbeutung von Rohstoffen zu liegen scheint. Den individuellen Fluchten aus diesen Elendszonen liegt nicht allein der hunderttausendfache Wunsch nach Sicherheit, Rechten und Glück zugrunde, sondern in den Bewegungen der Migranten selbst scheint, ohne jegliche Romantisierung ihrer Nöte und Verzweiflungen, auch eine erste Spur zurückeroberter Autonomie auf. Denn erst in dem Verlassen des Eingeschlossenseins in Armut und korrupten Machtverhältnissen wird die eigene Zukunft überhaupt wieder entscheidbar. Nach Berechnungen der Weltbank überweisen in Europa und Amerika lebende Afrikaner bis zu 4 Milliarden Dollar jährlich zurück in ihre Heimat. Es ist die mit Abstand größte und direkteste Überlebenshilfe des Kontinents. Noch immer.

Projektstichwort
Die „Malische Vereinigung der Abgeschobenen“ (AME) setzt sich nicht nur in ihrem Heimatland Mali für die Rechte und die Gesundheitsversorgung von Abgeschobenen ein. Der medico-Projektpartner ist mittlerweile auch ein wichtiger Akteur in einem Netzwerk von Menschenrechtsgruppen, migrantischen und antirassistischen Initiativen, das sich im subsaharischen Westafrika, dem Maghreb und in Europa gebildet hat. Unser Spendenstichwort lautet: Migration.
Konto: Spendenkonto von medico international: Konto-Nr. 1800, Frankfurter Sparkasse BLZ 500 502 01, medico international ist als gemeinnütziger Verein anerkannt. Ihre Spende ist daher steuerlich absetzbar.