Wo das Meer die Söhne verschlingt
Selbsthilfe ist für viele Frauen im Senegal das Gebot der Stunde
Von Haidy Damm/Medienkombinat Berlin
Thiaroye-sur-mer. Der Name steht für eine Tragödie. Thiaroye-sur-Mer – kein anderer Ort im Senegal hat so viele Menschen auf dem Weg nach Europa verloren: Zwei Boote mit rund 170 überwiegend jungen Männern aus dem früheren Fischerdorf sind nie an ihrem Ziel angekommen. Ihre Pirogen sind irgendwo in der stürmischen See gekentert.
Einer der Verschollenen ist der Sohn von Aram Laye. Wenn sie an die Kanaren denkt, muss sie weinen. Die Inseln im Atlantik waren das Traumziel ihres Kindes. An diesen Stränden wollte er ankommen und aufbrechen in ein neues Leben. Es war vor etwas mehr als einem Jahr, als der 19-jährige an der westafrikanischen Küste aufbrach. Im Morgengrauen stieg er in eine der bunt bemalten Pirogen und fuhr los. Seitdem gilt das Holzboot mit rund achtzig jungen Männern an Bord als verschollen.
Anfangs ging Aram Laye jeden Morgen ans Meer. Starrte dorthin, wo das Wasser ihren Sohn genommen hatte. “Ich dachte, ich werde verrückt”, sagt die 36-Jährige. Jetzt widersteht sie diesem inneren Zwang und trifft sich mit anderen Frauen im “Collectif des Femmes contre l'immigration clandestine”, einem Verband gegen die heimliche Migration. Dort haben alle die gleichen Nöte. Sie alle haben einen Sohn oder den Ehemann verloren.
Der Verlust bedeutet für die Familien auch ökonomisch eine Katastrophe. Um die Reise zu finanzieren, hatten sie ihr Land, ihr Werkzeug und ihren Schmuck verkauft. Plötzlich stehen sie vor dem Nichts. Doch das Leben muss weiter gehen, und deshalb gibt es das Kollektiv. Die Kehrtwende verdanken die Frauen der Gründerin des Verbands, Yaye Bayam Diouf. Die energische Frau hat beinahe jede von ihnen persönlich aus dem Zustand ohnmächtiger Trauer herausgeholt.
Selbstorganisation im Kollektiv und Unterstützung durch einen Top-Ringer
Alle vertrauen Diouf, denn auch sie hat einen Sohn, ihren einzigen, bei einer der Überfahrten verloren. Zunächst ging die 48-Jährige ganz pragmatisch an die Sache heran. Die Frauen brauchten Geld für ihren Lebensunterhalt. Selbsthilfe war das Gebot der Stunde. Deshalb verkaufen sie jetzt Couscous und Saft aus Hibiskusblüten in den Straßen. Die Zutaten wie Hirse und Früchte kaufen sie gemeinsam, jede von ihnen legt monatlich 1250 cFA, das sind knapp zwei Euro, in den gemeinsamen Topf. Abends wird der Lohn ausgezahlt: 1000 cFA bar auf die Hand. Der Rest des Gewinns wird angespart für Notfälle und Kleinkredite. Außerdem plant der Verband weitere Arbeitsplätze zu schaffen.
Auch Aram Laye wurde finanziell unterstützt. Sie arbeitet nachmittags im Kollektiv und freut sich, die anderen Frauen zu treffen. Morgens verkauft sie Baignets, kleine Hefebällchen, die sie spät abends noch vorbereiten muss. “Das ist viel Arbeit, aber ich habe das Gefühl, mein Leben wieder in der Hand zu haben.” Wenn sie die Trauer überfällt, gibt es immer eine, die zuhört, die versteht.
Wenn die Frauen ihre Körbe voller Essen auf dem Kopf durch die Straßen tragen, nutzen sie viele kleine Gelegenheiten, über ihr politisches Anliegen zu sprechen. Sie wollen andere Männer von der Reise mit den kleinen Pirogen abhalten. “Wir haben ja selbst unseren Söhnen die Tickets nach Europa gekauft”, sagt Aby Samb traurig: “Einige sind ja auch dort angekommen, aber die meisten sind auf der Reise gestorben. Als wir das begriffen, haben wir versucht, den anderen Frauen zu sagen, wir müssen diese Situation ändern, wir können unsere Söhne nicht weiter auf dem Meer sterben lassen.”
Innerhalb eines Jahres hat sich die Mitgliederzahl des Frauenkollektivs auf 550 verdreifacht. Alle in dieser Stadt sind betroffen. Die Mütter hatten sie schnell auf ihrer Seite. Was aber tun, um ihre Söhne zu behalten? Aby Samb, Generalsekretärin des Verbands, lacht: “Es ist bei uns ja wie überall auf der Welt, Kinder gehen ihre eigenen Wege und hören irgendwann nicht mehr auf die Alten. Also versuchen wir, die Menschen auf unsere Seite zu ziehen, auf die sie hören.” Während des Ramadan organisierte das Kollektiv ein Treffen zwischen Imamen und Jugendlichen, denn fast alle haben einen Marabout, einen islamischen Heiler, dem sie Vertrauen schenken. Bevor sich einer auf die Reise macht, fragt er ihn um Rat. Nach Ansicht der Frauen, kann der Rat nur lauten: Steig nicht in das Boot.
Für ihre Sache überzeugen konnten sie auch Baye Mandione Fall. “Kennen sie ihn nicht?”, fragt Aby Samb. “Er ist ein berühmter Ringer. Wir organisieren Wettkämpfe und versuchen durch Stars wie ihn, den Jugendlichen zu erklären, dass man auch hier im Senegal eine Arbeit finden kann.” Ringkampf ist neben Fußball eine der ganz großen Sportarten im Senegal. Am Rande der Kämpfe diskutiert Baye Mandione mit seinen Fans. “Selbst wenn einer keine großen Chancen hat, ist das kein Grund, sein Leben zu riskieren”, erklärt ihnen der 120-Kilo-Mann. Einige kann er überzeugen, wie den 20-jährigen Fischer Gorgui: “Ich hatte mein Gepäck bereits vorbereitet. Aber nach der Diskussion habe ich mich entschieden zu bleiben. Vielleicht habe ich ja auch hier eine Chance.”
Ohne Arbeit keine Perspektive
Aber die meisten jungen Männer, die am Strand für einen Job anstehen, warten weiter auf einen Platz in einem der Boote. Die Mütter können zwar moralischen Druck aufbauen, aber die finanzielle Situation ihrer erwachsenen Söhne und Töchter können sie kaum verändern. Denn die bekommen keine regelmäßige Arbeit und sie wollen ihren Familien nicht auf der Tasche liegen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 48 Prozent. In Thiaroye-sur-Mer haben viele Fabriken geschlossen, der Küstenboden gibt für Landwirte kaum etwas her und das Meer, jahrhundertealte Haupteinnahmequelle, ist von europäischen und japanischen Fangflotten leer gefischt.
Um Arbeit zu finden, wollen die jungen Männer bis nach Europa. Wie Mamadou Tall. Der 22-jährige Fischer hatte die Chance ergriffen, als ihm ein freier Platz als Fahrer auf einem Boot angeboten wurde. Noch vor Marokko entdeckte sie ein Hubschrauber des Grenzschutzes. Kurz darauf wurden sie von der bewaffneten Küstenwache aufgegriffen und zurückgeschickt. Mit einem Boot würde er nicht nochmal fahren, auch weil seine Mutter ihm ins Gewissen geredet hat. Jetzt hofft Mamadou Tall auf ein Flugticket nach Europa. “Warum dürfen unsere Jungs nicht legal einreisen? Warum können sie nicht dort Geld verdienen, wo sie wollen? Ihr kommt doch auch hierher und fischt unsere Meere leer”, ruft eine Händlerin, die am Strand Fische verkauft.
Es ist der Strand, den Aram Laye meidet. Könnte ihr zweiter Sohn sicher nach Europa fliegen, wie die Urlauber zu den Kanaren, wäre sie beruhigt. Stattdessen versucht sie ihn von seiner geplanten Reise abzuhalten: “Geh nicht”, habe ich ihm gesagt. “Ich überlebe das nicht, wenn du auch stirbst.”