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Destination Bamako

Zur alltäglichen Arbeit der AME mit Abgeschobenen am Flughafen

Von Stephan Dünnwald

Die Luft über der Straße ist trübe von Staub und Abgasen, die Straßenlampen geben an diesem Abend nur ein milchig gelbes Licht. Ums Eck vom Hotel Wassoulou, das der Sängerin Oumou Sangaré gehört, habe ich mich in einer kleinen Bar mit Keita verabredet. Eine niedrige Tür führt in einen Innenhof, der nur schummrig ein paar Tische und Stühle beleuchtet. Die Malier, mehrheitlich Muslime, mögen es nicht, beim Trinken gesehen zu werden, auch wenn nur Flag oder Castells konsumiert werden, die hier gebräuchlichen Biersorten. Keita ist noch nicht da, ich setze mich an einen der Tische und bestelle ein Bier. Im Fernsehen wird über neue Entwicklungsprojekte berichtet, höhere Staatsbedienstete üben sich im Eröffnen von Straßen, Geschäftszentren, Anti-Aidskampagnen, man kann den Eindruck gewinnen, das Land boome an allen Ecken, ein bizarrer Kontrast zur Wirklichkeit.

Keita taucht aus dem Dunkel der Kneipe auf und begrüßt mich gewohnt lässig. Er wohnt hier unten in Kalaban Koura, in der Nähe des Flughafens Bamako, weshalb wir die Bar als Treffpunkt ausgemacht haben. Ich zahle und folge ihm auf die Seitenstraße hinaus, wo er den betagten 190er Mercedes geparkt hat, mit dem die AME seit einem guten Jahr an den Flughafen fährt. Erst vor ein paar Tagen war der Wagen im dichten Stadtverkehr von einem Linienbus gerammt worden, doch von den Schrammen und der eingedrückten Seite sieht man heute Abend nichts mehr. Tiefe Schlaglöcher umkreisend rumpeln wir die Nebenstraße hinaus bis auf die Schnellstraße zum Flughafen. Wir sind früh dran. Keita hat die Flughafenauskunft angerufen, die Air France Maschine hat eine Viertelstunde Verspätung. Keita gibt Gas, die Kardanwelle dröhnt als wolle das Auto gleich abheben. Wir passieren die Messe von Bamako, dann geht es durch einen hohen Bogen auf das Flughafengelände. Keita biegt links ab, parkt an einer Apotheke, damit er die Parkplatzgebühren spart. Ich nehme meinen Rucksack und wir gehen zur Abfertigung, wo die meisten Air France Passagiere schon einchecken. Wir gehen an ihnen vorbei, passieren eine Kontrolle, die Keita mit ein paar Worten auf Bamanan begrüßt, und befinden uns in einem toten Winkel des Flughafens, durch Aluminiumwände von der Abflugshalle getrennt. Keita weist mich auf eine der braun gestrichenen Türen hin, die mit der Nummer 118. Hier, so erklärt er, kommen Abgeschobene an und werden von der malischen Polizei identifiziert, bevor er sie in Empfang nehmen kann. Wir steigen eine Wendeltreppe hinauf. Oben öffnet sich ein Raum mit Panoramafenster zum Rollfeld, von der Wartehalle der Passagiere durch eine Glaswand getrennt. Nur ein paar Souvenirverkäufer halten sich hier auf. Der Flughafen wird umgebaut, und so lange hat man sie hier untergebracht, von den potentiellen Käufern isoliert.

Wir treten an das Fenster, die Air France Maschine ist noch nicht da. Jeden Abend fährt Mamadou Keita Im Auftrag der AME an den Flughafen, um Abgeschobene in Empfang zu nehmen, zu ihren Familien oder ins Büro der AME zu begleiten. AME, das ist die Malische Vereinigung Abgeschobener, die Association Malienne des Expulsés. 1996 wurde sie von Abgeschobenen aus Frankreich und Angola gegründet, die sich in Bamako, der Hauptstadt Malis, organisieren wollten. Seit 2006 hat die AME den Flughafenservice eingerichtet, erst seit Anfang 2008 hat sie ein Auto, um Abgeschobene nicht nur in Empfang zu nehmen und zu beraten, sondern auch in die Stadt zu bringen. Ermöglicht wird dies durch die Unterstützung durch französische und deutsche Menschenrechtsorganisationen. Neben der Begleitung Abgeschobener am Flughafen unterhält die AME zwei Außenposten in der Wüste, den einen an der algerischen, den anderen an der mauretanischen Grenze. Auch dort unterstützt die Organisation Abgeschobene, versorgt sie mit dem Nötigsten und bei Bedarf mit einer Fahrkarte nach Bamako. Seit vor allem Spanien und Frankreich, aber auch die Europäische Union die Staaten des Maghreb in die Abwehr von Flüchtlingen und Migranten einbezogen hat, gelingt vielen Migranten nicht einmal mehr das Erreichen der Mittelmeerküste. Schon vorher werden sie von der Polizei Mauretaniens, Marokkos, Algeriens oder Libyens aufgegriffen, in Lagern festgehalten, und dann abgeschoben. Mali, südlich des Maghreb gelegen, ist so zum Auffangbecken Abgeschobener aus dem subsaharischen Afrika geworden.

Das Thema Abschiebung ist sensibel. Gerade den Franzosen als ehemaliger Kolonialmacht wird es in Mali sehr übel genommen, dass man in Frankreich mit Sans Papiers wenig Federlesen macht. Greift man sie ohne gültiges Aufenthaltspapier auf, werden sie umgehend in das nächste Flugzeug gesetzt, und mittellos und mit großem Polizeiaufgebot nach Bamako abgeschoben. In Mali erwartet Abgeschobene keinerlei Hilfe, wäre da nicht die AME, die eine Erstaufnahme gewährleistet. Wer sind die, die aus Frankreich abgeschoben werden? Wo kommen sie her, und was erwartet sie nach der Abschiebung? Das sind die Fragen, die mich an den Flughafen Bamako bringen.

Gerade ist die Air France Maschine gelandet. Mit etwas Glück wird sie genau gegenüber parken. Die allabendliche Flugverbindung Paris Bamako ist die wichtigste und prestigeträchtigste Verkehrsader, die Mali mit dem Land der ehemaligen Kolonialherren verbindet. Die Linie wird auch von anderen Fluggesellschaften bedient, aber Air France ist, wie alles Französische in Mali, noch immer etwas Besonderes. Air France setzt den Standard, den alle anderen, insbesondere die heimische Air Mali, zu erreichen suchen. Langsam rollt der Airbus heran, schwenkt herum und steht nun seitlich vor dem Flughafengebäude. Treppen werden herangefahren, und eine kleine Schar Leute in Signalwesten macht sich am Flieger zu schaffen. Ein paar Polizisten stehen am Rollfeld, Keita bedeutet mir, vorsichtig zu sein beim Fotografieren; sollten sie es merken, dann werden sie die Kamera konfiszieren. Unter den Leuten ist auch der Chef der Polizeiabteilung, die am Flughafen Bamako nur für den Empfang von Abgeschobenen zuständig ist. Keita kennt ihn noch nicht besonders gut, erst vor ein paar Monaten ist die komplette Abteilung ausgetauscht worden, angeblich wegen Verwicklung in Korruption und andere Geschäfte.

Auch die malische Polizei wird von Frankreich nicht vorab informiert, ob Abgeschobene auf dem Flug sind; so müssen sie wie wir jeden Abend die Ankunft der Maschine abwarten. Für heute war uns von Cimade die Ankunft eines Abgeschobenen angekündigt worden. Dies war schon ein paar Mal geschehen, doch die letzten Abende war ich vergeblich zum Flughafen rausgefahren – keine Abgeschobenen aus Frankreich. Während in 2007 und 2008 von Frankreich jeweils rund 500 Personen nach Bamako abgeschoben wurden, sind es im November 2009 erst gut 130. Von Keita wird das auf das nach wie vor nicht unterzeichnete Rückübernahmeabkommen zurückgeführt. Frankreich, so meint er, will den Druck rausnehmen, um die Verhandlungen zu einem Abschluss zu bringen. Wir beobachten mit mäßigem Interesse, wie die Passagiere die Maschine verlassen. Sie kommen die Treppen herunter, gehen ein paar Schritte über den Asphalt und besteigen dann einen Bus, der sie die vielleicht dreißig Meter zum Flughafengebäude fährt. Früher ist man hier immer zu Fuß über das Rollfeld zur Abfertigung gegangen. Wenn es Abgeschobene gibt, dann verlassen diese immer zuletzt das Flugzeug. Bisher deutet nichts darauf hin. Doch dann zeigt Keita nach vorn. Mehrere malische Polizisten in Zivil versammeln sich an der hinteren Treppe. Dann kommen französische Polizisten herunter, zwischen sich drei Afrikaner. Tatsächlich eine Abschiebung heute. Die drei Männer werden von acht Franzosen in Zivil begleitet. Ohne Zwischenfall kommen alle die Treppe herunter und gehen auf das Flughafengebäude zu. Keita geht hinunter, ich soll hier oben warten, bis die Identifizierung vorbei ist. Sobald die Polizisten mit den drei Männern das Flughafengebäude betreten haben, verlasse auch ich meinen Aussichtsplatz und gehe zur Wendeltreppe, von der man auf die Türe zum Büro 118 schauen kann. Die Abgeschobenen gehen hinein, begleitet von malischen Polizisten. Die Übergabe hat schon stattgefunden, die französischen Polizisten werden mit der gleichen Maschine wieder nach Paris zurückkehren. Auch Keita geht in das Büro. Schließlich kommt er mit den drei Männern wieder heraus, ich folge ihnen in einigem Abstand. Keita hatte mir vorher gesagt, er werde mich nicht kennen, um seinen guten Kontakt zur Polizei nicht zu gefährden. Wir gehen über den Parkplatz zum Auto, dort stellt Keita mich den drei Männern vor. Er geht mit einem der Männer zurück zur Abfertigungshalle, diesmal zum Ankunftsbereich, es könne sein, so meint er, dass dort Familienangehörige auf den Mann warten. Ich komme mit den anderen beiden ins Gespräch. Beide sind in Paris auf dem Weg zur Arbeit aufgegriffen worden, und ohne gültiges Aufenthaltspapier gleich verhaftet worden. Sie haben jeweils mehrere Tage in einem Abschiebehaftzentrum verbracht, durften nicht mehr zu Hause vorbei, mitgebracht haben sie fast nichts. Der eine hat eine Plastiktüte dabei und ein paar Papiere, der andere hat gar nichts außer einer eleganten Lederjacke.
Keita und der dritte Mann kommen zurück. Tatsächlich wird er von der Familie abgeholt. Keita versammelt alle drei um sich. Er erklärt ihnen die Rolle der AME und welche Unterstützung sie sich erwarten können. Er gibt jedem eine Visitenkarte, auf der er seine Mobiltelefon-Nummer notiert. Sie können ihn jederzeit anrufen, sagt er, wenn sie Hilfe bräuchten. Er erklärt, selbst 14 Jahre in Frankreich gelebt zu haben vor seiner Abschiebung, er kenne also die Situation und wüsste, wie sie sich fühlten. Zum Beweis zieht er seine alte Sozialversicherungskarte hervor. Die drei nicken, dann verabschieden wir uns von dem einen, der sich auf den Weg zu seiner Familie macht. Keita fragt die anderen, wo sie hinwollen. Der mit der Plastiktüte wohnt im Süden der Stadt, im gleichen Viertel wie Keita. Der mit der Lederjacke wohnt weiter im Norden, in der Nähe des Stadions. Wir steigen ins Auto. Erst fahren wir den Mann mit der Plastiktüte (Name) heim. Nachdem er uns den Weg gezeigt hat, steigen wir alle aus. Er unterhält sich mit Keita auf Bamanan, und beschließt schließlich, allein hineinzugehen. Wieder verabschieden wir uns, sehen ihn durch die offene Hoftüre auf ein paar Leute zugehen. Wir fahren weiter, Keita bringt mich zu meinem Moped, das ich bei der Bar geparkt habe. Wir diskutieren, ob ich den Jungen mit der Lederjacke mitnehmen soll, es wäre der gleiche Weg, und Keita würde sich die Tour sparen. Doch er beschließt, nach einem Wortwechsel auf Bamanan, ihn selbst zu fahren. Später erzählt er mir, der Junge hätte ihn darum gebeten, dass er ihn begleite und seiner Familie die Umstände seiner Rückkehr erkläre.

Am nächsten Tag treffe ich alle drei im Büro der AME wieder. Sie sprechen zunächst mit Ousmane Diarra, dem Präsidenten der AME, der ihnen erklärt, was die Organisation für Abgeschobene tun kann. Es ist nicht viel. Eine kleine Hilfestellung für die Heimkehr ins Dorf, juristische Beratung und Unterstützung beim Versuch, in Frankreich gelassene Wertgegenstände, ausstehenden Lohn und ähnliches zu bekommen. Dies, erklärt mir Ousmane, ist ihm wichtig, weil die meisten Abgeschobenen in Frankreich in die Sozialversicherung eingezahlt haben, häufig sogar Steuern bezahlten, und viele nicht einmal die wichtigsten Sachen und Wertgegenstände mitnehmen können. Er selbst hat die gleiche Erfahrung gemacht. Er war erfolgreicher Diamantenhändler in Angola, als sich nach dem Ende des Machtkampfes zwischen Regierung und Rebellen die Verbitterung vieler Angolaner gegen Einwanderer richtete. Wie viele andere wurde Ousmane in ein Flugzeug gesteckt, sein Geschäft wurde beschlagnahmt, von seinem Geld sah er nie etwas wieder. Auch Ousmane macht die eigene, bittere Abschiebeerfahrung geltend, es ist das eigentliche Kapital der Organisation, mit der sie bei den Abgeschobenen das nötige Vertrauen gewinnt, um ihnen überhaupt helfen zu können.

Die wichtigste Hilfestellung der AME ist wohl tatsächlich, Abgeschobene zu begleiten und ihren Familien zu erklären, was eine Abschiebung heißt. Denn nach der häufig brutalen Abschiebung erwartet die Rückkehrer oft ein herber, ein harter Empfang. Viele Familien weigern sich, die Rückkehrer aufzunehmen. Durch die Abschiebung geht ihnen nicht nur die finanzielle Unterstützung verloren, die der Migrant aus dem Ausland leistete: mit einer Abschiebung ist auch ein Statusverlust verbunden, vor allem für den Rückkehrer selbst, aber auch für die Familie. So kommt es oft vor, dass Abgeschobene nicht zu ihrer Familie zurückkehren, dass sie ihnen nicht die Wahrheit erzählen, sie sich und andere in der Hoffnung wiegen, nur befristet zurückgekehrt zu sein und bald wieder nach Frankreich zu fahren. Hier setzt die Arbeit der AME an, und behutsam wird Rückkehrern und deren Familien klar gemacht, dass an eine baldige Rückkehr nicht zu denken ist. Manchmal hilft das, manchmal nicht. Im Büro der AME treffe ich einen aus Paris Abgeschobenen, der seine Frau und sein Kind in Paris gelassen hat. Seinen Sohn hat er nie gesehen, er ist einige Tage nach der Abschiebung des Vaters auf die Welt gekommen. Nun geht er bald in die Schule, fast sechs Jahre sind seit der Abschiebung vergangen. In dieser Zeit hat Abdelkader, der Abgeschobene, in Bamako nichts gemacht außer vergeblichen Versuchen, ein Visum für die Wiedereinreise zu bekommen. Nun wiegt er sich in der Hoffnung, dass seine Frau bald einen legalen Aufenthaltsstatus in Frankreich bekommt und er dann wieder zurück kann. Fünf Jahre hat Abdelkader vertan, alle Hoffnungen auf Frankreich gerichtet, und die Zeit totgeschlagen. Seiner Familie in Mali ist er aus dem Weg gegangen, er hat sich bei einem Freund einquartiert der mietfrei in einer Wohnung für Staatsangestellte wohnt. Essen bekommt er mal bei den einen, mal bei den anderen Nachbarn. Als in ihn in dem Zimmer besuche, das er bei seinem Freund bewohnt, beginne ich zu begreifen, dass er, genau wie er mir gesagt hat, tatsächlich nichts macht seit Jahren. Er klammert sich an die Hoffnung, eines Tages nach Frankreich, nach Paris zurückkehren zu können. Dabei stehen seine Chancen schlecht. In der AME weiß man, dass die Sache mit dem Aufenthaltspapier seiner Frau noch lange nicht geklärt ist. Schlimmer noch: seine Frau will sich von ihm scheiden lassen. Damit würde er seine letzte Chance verlieren, legal nach Frankreich zurückzukommen. Ich treffe noch mehrere Abgeschobene, die sich mit der gleichen Hoffnung und Verzweiflung an eine vage Rückkehrmöglichkeit nach Europa klammern, viele von ihnen mit einer Beharrlichkeit, die immun gemacht hat gegen die Wirklichkeit.

Bamako ist ein Sammelbecken für Migranten. Aus allen Richtungen spült es Menschen in diese Stadt, die mehr ein Konglomerat wuchernder Viertel ist als eine richtige Stadt. Aus dem Norden kommen gescheiterte Migranten, abgeschoben aus Europa oder den Maghrebstaaten, aus dem Süden erreichen Migranten aus Kamerun, Flüchtlinge aus dem Kongo oder Sierra Leone, Vertriebene aus der Elfenbeinküste oder Ghana die Stadt, tauchen ein in das Gewimmel der Busbahnhöfe, schlagen sich durch, mieten kleine, lichtlose Kammern für die Nacht, treffen sich frühmorgens am Raida im Zentrum, um vielleicht einen Job für den Tag zu ergattern, stoßen dort auf Leute, die vom Land kommen, auch sie auf der Suche nach Arbeit und einem Auskommen. Wer genug beisammen hat, um einen Coxer, einen Schlepper zu bezahlen, der legt umgerechnet 800 bis 1.200 Euro hin für eine organisierte Tour durch Mauretanien und Marokko und den Versuch einer Überfahrt auf die Kanaren oder an die andalusische Küste. Doch in Bamako ist so viel Geld kaum zu erwirtschaften, Tagelöhner bekommen oft kaum einen Euro am Tag, das reicht gerade für eine warme Mahlzeit am Tag. Auch dies ist ein Grund, sich möglichst bald wieder aufzumachen in reichere Nachbarstaaten, gen Norden in den Maghreb, in Richtung Europa.

Erstmalig erschienen in: Hinterland 11/2010 (Zeitung des bayrischen Flüchtlingsrats)