Dezember 2017 | Ab in die Wüste (Foreign Policy)
German Foreign Policy | 01.12.2017
BERLIN/PARIS/TRIPOLIS (Eigener Bericht) – Berlin und Paris treiben die Massenabschiebung von Flüchtlingen aus Libyen voran und wollen nicht abschiebbare Flüchtlinge in Lagern in zwei Wüstenstaaten Nordafrikas festsetzen. Dies haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron gemeinsam mit weiteren Staats- und Regierungschefs aus Europa und Afrika beschlossen. Demnach sollen Mitarbeiter des UNHCR und der International Organization for Migration (IOM) Migranten in Libyen überprüfen. Wer politische Fluchtgründe geltend machen kann, wird in Lager in Niger und Tschad gebracht und kann in europäische und außereuropäische Länder weiterverteilt werden. Alle anderen werden auf Kosten afrikanischer Staaten in ihre Herkunftsländer gebracht. Mit dem Vorstoß kommen Konzepte zum Tragen, wie sie in Australien gegen Protest der UNO und verschiedener Menschenrechtsorganisationen praktiziert werden und wie sie der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) schon 2004 vorgeschlagen hat. Zu ihrer Realisierung ist ein Militäreinsatz in Libyen im Gespräch.
Der Abschiebedeal
Der Deal, auf den sich Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron sowie die Staats- und Regierungschefs einiger weiterer Länder Europas und Afrikas am Rande des gestern zu Ende gegangenen EU-Afrika-Gipfels geeinigt haben, sieht die Massenabschiebung von Flüchtlingen aus Libyen vor. Demnach wird die sogenannte libysche Einheitsregierung Vertretern des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sowie der International Organization for Migration (IOM) Zugang zu den Flüchtlingslagern im Land gewähren. Dort sollen UNHCR und IOM prüfen, wer von den Lagerinsassen vor politischer Verfolgung oder Krieg geflohen ist. Alle, auf die dies laut Auffassung der Prüfer nicht zutrifft, werden unmittelbar in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Die Feststellung ihrer Personalien sowie die Ausstellung womöglich notwendiger Reisedokumente sollen afrikanische Staaten übernehmen – und anschließend auch Abschiebeflüge organisieren und bezahlen. Alle, die die Prüfer als politische oder Kriegsflüchtlinge identifizieren, werden hingegen in die Wüste außerhalb Libyens verbracht – in Lager in Niger oder im Tschad.1 Dort sollen sie sich um die Aufnahme in einem Drittstaat bewerben können, der innerhalb, aber auch außerhalb Europas liegen kann. Zu ihrer Aufnahme soll offenbar kein Land verpflichtet sein; es handelt sich laut aktuellem Stand lediglich um ein rechtlich unverbindliches „Ansiedlungsverfahren“.
Das australische Modell
Wenngleich viele Fragen offen bleiben, zeichnet sich mit dem Plan doch der weitere Übergang der EU zum australischen Modell der Flüchtlingsabwehr ab. Australien verbindet eine vollständige Abriegelung seiner Seegrenzen mit der Einrichtung von Internierungslagern außerhalb seines Hoheitsgebiets; in die Lager werden ausnahmslos alle bei der versuchten Einreise aufgegriffenen Flüchtlinge verbracht. Dort können sie einen Asylantrag stellen; ein Recht auf die Aufnahme in Australien erhalten sie dadurch aber nicht. Stattdessen hat Canberra eine Vereinbarung mit Kambodscha geschlossen, die vorsieht, dass Flüchtlinge aus den Internierungslagern dorthin übersiedeln dürfen. Kambodscha gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Die einzige Alternative für die Flüchtlinge besteht darin, in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Die Internierungslager auf Nauru und auf Manus (Papua-Neuguinea), die Australien bislang nutzt bzw. genutzt hat, sind für ihre katastrophalen Lebensbedingungen berüchtigt; Missbrauch und Gewalt sind dort an der Tagesordnung, es kommt häufig zu Suizidversuchen. Menschenrechtsorganisationen haben die Behandlung der Flüchtlinge offen als „Folter“ eingestuft.2 Das Lager auf Manus ist inzwischen geschlossen und unter skandalösen Umständen geräumt worden: Uniformierte gingen mit Stöcken gegen wehrlose Flüchtlinge vor und zerstörten dabei deren letzte Habseligkeiten. Die Flüchtlinge, die Manus nicht verlassen dürfen, fürchten nun gewalttätige Übergriffe der feindlich gesinnten Bevölkerung.
Keine Aufnahmepflicht
Bereits der EU-Flüchtlingsabwehrdeal mit Ankara vom März 2016, der maßgeblich auf Betreiben der Bundesregierung zustandegekommen ist, weist klare Parallelen zum australischen Modell auf. Er sieht zwar noch vor, dass Flüchtlinge, die es über die Türkei bis auf griechische Inseln schaffen, dort formal Asyl beantragen dürfen; weil die Türkei aber als sicheres Drittland gilt, können sie – dem Grundgedanken zufolge – jederzeit dorthin abgeschoben werden. Damit sitzen sie außerhalb des EU-Territoriums fest. Allerdings hat sich Ankara noch zusichern lassen, im Gegenzug Migranten in die EU überstellen zu dürfen. Dies wäre im Falle der Lager in Niger und Tschad mutmaßlich nicht mehr gegeben. Die EU wäre mit ihnen – ähnlich wie Australien mit dem Lager auf Nauru – jegliche Verpflichtung zur Aufnahme der Flüchtlinge los.
„Migration steuern“
Mit Australien stehen deutsche und andere europäische Stellen in Sachen Flüchtlingsabwehr schon seit Jahren in Kontakt. Bereits im April 2015 warb die australische Außenministerin Julie Bishop in Berlin anlässlich von Gesprächen mit ihrem Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier für die brutale Abschottungspolitik ihres Landes. Mitte 2016 sprach sich Österreichs Außenminister Sebastian Kurz für die Übernahme des australischen Modells aus (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Im November 2016 schloss sich das Bundesinnenministerium dem Vorstoß im Grundsatz an: Es plädierte dafür, Flüchtlinge auf dem Mittelmeer aufzugreifen und sie unmittelbar nach Nordafrika zurückzuschicken.4 Vor vier Wochen hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen Besuch in Australien genutzt, um sich mit der dortigen Regierung über deren Flüchtlingsabwehr auszutauschen. Man müsse ohne Zweifel „die Migration nach unseren Maßgaben kontrollieren und steuern“, erklärte Steinmeier in einem australischen Presseinterview.5
Schilys Lager
Dabei kann die Urheberschaft für den Plan, Lager in Afrika zu errichten und Flüchtlinge dorthin zurückzuschieben, Steinmeiers Parteikollege Otto Schily beanspruchen. Migration bedürfe „der Steuerung und der strikten Begrenzung“, schrieb Schily im Juli 2004 in einem Zeitungsbeitrag.6 Würden Flüchtlinge auf dem Mittelmeer aus Seenot gerettet, müssten sie „in die Herkunftsländer oder die Transitstaaten zurückgeführt werden“. Nun dürften zwar Menschen, die „Fluchtgründe nach der Genfer Flüchtlingskonvention geltend“ machten, nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden. Doch könne man in diesem Fall „die Prüfung der Fluchtgründe in einer von der EU probeweise in einem nordafrikanischen Staat mit dessen Billigung einzurichtenden Außenstelle“ vornehmen. Ohnehin sollten „Menschen, die sich zu Recht auf Fluchtgründe berufen“, am besten „in der Nähe ihres Heimatlandes“ Aufnahme finden. In diesem Zusammenhang sprach Schily sich schon damals explizit für die Errichtung von Flüchtlingslagern in Nordafrika aus.7 Damals ist in seinem Innenministerium der Jurist Jan Hecker tätig gewesen – als Persönlicher Referent des Staatssekretärs für den Sicherheits- und Migrationsbereich. Hecker, der 2015 zum Leiter des Koordinierungsstabs Flüchtlingspolitik im Bundeskanzleramt berufen wurde, ist seit Oktober als außenpolitischer Chefberater der Kanzlerin tätig. Beobachter spekulieren schon, inwieweit in dem neuen Flüchtlingsabwehrdeal „die Handschrift von Hecker erkennbar ist“.8
Mit militärischer Gewalt
Zu den gänzlich ungeklärten Fragen des aktuellen Flüchtlingsabwehrdeals zählt, wie der Zutritt zu den Lagern in Libyen durchgesetzt werden soll. Diese werden in der Regel von Milizen betrieben; die sogenannte Einheitsregierung, die beim EU-Afrika-Gipfel ihre Unterstützung für den neuen Deal zugesichert hat, kontrolliert – höflich formuliert – nur geringe Teile des Landes und kann die Durchführung der UNHCR- und IOM-Prüfung nicht zuverlässig garantieren. In Einzelfällen sind Abschiebungen bereits gelungen; Mitte November meldete der UNHCR, die ersten 25 Flüchtlinge aus Libyen nach Niger gebracht zu haben, wo sie nun – ohne rechtlichen Anspruch – auf die Umsiedlung in andere Länder warten. Es handelt sich dem UNHCR zufolge um Flüchtlinge aus Eritrea, Äthiopien und Sudan. Die IOM hat darüber hinaus in diesem Jahr bereits mehr als 10.600 Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer rückgeschoben – offiziell auf freiwilliger Basis.9 Erste Abschiebeflüge sind angekündigt; sie betreffen ein Lager mit 3.800 Flüchtlingen in der Nähe von Tripolis und sollen in Kürze mit marokkanischen Flugzeugen bewerkstelligt werden.10 Der französische Präsident Macron dringt nun zusätzlich darauf, ergänzend bewaffnete Einheiten nach Libyen zu senden, um den Zutritt zu allen Flüchtlingslagern und die Abschiebeoperationen gegen den Willen einschlägiger libyscher Milizen sicherzustellen. Er spreche sich für den Einsatz von Polizei und Militär aus, bekräftigte Macron am Rande des EU-Afrika-Gipfels in Abidjan. Die Diskussion dauert an.
[1] Robin Alexander: Merkels spontaner Flüchtlings-Deal für Libyen. welt.de 30.11.2017.
[2] Regierung zahlt 48 Millionen Euro an klagende Asylsuchende. zeit.de 14.06.2017.
[3] S. dazu Die Abriegelung des Mittelmeers.
[4] Manuel Bewarder, Marcel Leubecher: Europa soll Flüchtlinge direkt nach Afrika zurückschicken. welt.de 06.11.2017.
[5] S. dazu Flüchtlingsabwehr im Pazifik.
[6] Otto Schily: Afrikas Probleme in Afrika lösen. faz.net 23.07.2004.
[7] S. dazu Schilys Schleuser.
[8] Manuel Bewarder, Marcel Leubecher: Europa soll Flüchtlinge direkt nach Afrika zurückschicken. welt.de 06.11.2017.
[9] Aidan Lewis: U.N. evacuates first group of refugees from Libya to Niger. in.reuters.com 13.11.2017.
[10] Europäer wollen Migranten aus Libyen ausfliegen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.12.2017.