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Marokko – Grenzwächter der EU in Afrika

Von Conni Gunnßer

Fast 2,5 Millionen Marokkaner_innen leben heute in Ländern der EU und arbeiten meist in schlecht bezahlten Jobs. Fast jede zweite Familie in Marokko ist auf die Rücküberweisungen ihrer Angehörigen in Europa angewiesen. Auch der marokkanische Staat hat deshalb ein Interesse an Arbeitsmigration und verhandelt mit der EU über Visaerleichterungen für seine Staatsbürger_innen, z.B. als Billigarbeitskräfte in der Erdbeerernte oder im Hotelgewerbe – im Gegenzug für seine Rolle als Grenzwächter der EU gegen unerwünschte oder sogenannte „illegale“ Migration.
Gar kein Interesse hat die marokkanische Regierung an Migrant_innen und Flüchtlingen – vor allem aus Subsahara-Afrika, aber inzwischen auch aus Asien (z.B. aus dem Irak, Afghanistan und Bangladesch) -, die seit einigen Jahren bei ihrem Versuch, nach Europa zu gelangen, in diesem nordafrikanischen Land stranden. Ihre Zahl ist schwer zu schätzen, denn die meisten von ihnen sind ständig in Bewegung. Offiziell wird von 10-15.000 Transitmigrant_innen in Marokko gesprochen – Tendenz steigend, denn ihre Weiterreise in die EU wird zunehmend blockiert. Rückübernahmeabkommen von EU-Staaten mit Marokko gibt es zwar schon lange für dessen eigene Staatsbürger_innen, aber ein Abkommen zur Rücknahme auch von Transitmigrant_innen wurde trotz Druck der EU und einer neuerlichen Zahlung von 80 Millionen Euro für Modernisierungsprojekte (zwischen 2007 und 2010 sollen 654 Mio. Euro aus EU-Töpfen nach Marokko geflossen sein) noch nicht unterschrieben, denn dann müsste Marokko wiederum entsprechende Abkommen mit deren Herkunftsstaaten abschließen, um sie wieder los zu werden. Algerien z.B., durch dessen Territorium viele Migrant_innen nach Marokko einreisen, weigert sich, sie zurück zu nehmen.

Ausdruck für die gemeinsamen Bemühungen Marokkos und der EU, die Grenzen für die Unerwünschten dicht zu machen, sind u.a. die Zahlen der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex: Auf der westlichen Mittelmeerroute zwischen Nordafrika und Spanien sei 2009 eine zunehmende Zahl Migrant_innen aufgegriffen worden. Hierbei handele es sich allerdings mehr um marokkanische und algerische Staatsbürger_innen als um Subsahara-Afrikaner_innen. Es seien auch immer mehr Minderjährige unter ihnen. Im Hafen von Tanger sind seit kurzem moderne Scanner im Betrieb, die Container auf ihren Inhalt hin analysieren und „blinde Passagiere“ ausfindig machen. Die Küstenpatrouillen wurden verstärkt. Im ersten Quartal 2010 habe Frontex nur noch 500 Migrant_innen und damit 72% weniger als im 4.Quartal 2009 aufgegriffen. Auf der Route über den Atlantik zu den Kanarischen Inseln habe es dank der Frontex-Operation Hera und Rückübernahmeabkommen mit westafrikanischen Ländern in den ersten drei Monaten 2010 nur noch fünf Aufgriffe gegeben – im Gegensatz zu 31.700 im gesamten Jahr 2006.

Was bedeuten diese „Erfolgszahlen“? Ein Beispiel: 68 Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika machten sich in der Nähe der marokkanischen Stadt El Hoceima in zwei mit Luftkissen stabilisierten Booten auf den Weg Richtung Europa. Die marokkanische Küstenwache stoppte sie. Didier Fabien von der Flüchtlingsorganisation ADESCAM, der Überlebende getroffen hat, berichtete einem Reporter der Tagesschau vom 8.5.2008: „Ein marokkanischer Soldat hat dann einen langen spitzen Stock genommen. Er hat einmal in eine der Luftkammern des Bootes gestochen, dann noch einmal.“ Unter den Flüchtlingen brach Panik aus, sie flehten die Grenzschützer an, sie nach Marokko zurück zu nehmen und zeigten auf ihre Kinder und Babies. Aber die Soldaten stachen weiter auf das Boot ein und ließen 34 Flüchtlinge ertrinken. Verurteilt wurden im Januar 2010 nicht die im Sinne der EU agierenden Mitarbeiter der Küstenwache, sondern zwei senegalesische Fluchthelfer zu sechs Monaten Gefängnis.

Ebenfalls verurteilt – zu einem Monat Gefängnis und einer Geldstrafe – wurden Anfang August 2009 fünf Flüchtlinge in Rabat, die dort zusammen mit ca. 200 anderen Mitte Juni ein „Sit in“ vor dem Sitz des UNHCR begonnen hatten und mit Polizeigewalt vertrieben wurden. Sie forderten Resettlement, d.h. eine Umsiedlung in andere Länder, da ihre Rechte in Marokko nicht respektiert würden. Tatsächlich ist es so, dass der UNHCR zwar seit 20.7.2007 ein offizielles Abkommen mit Marokko hat und Asylanträge entgegen nehmen kann, aber ein entsprechendes Gesetz, das den 842 vom UNHCR anerkannten Flüchtlingen (von denen aber nach Aussagen von Flüchtlingen nur noch ca. 500 in Marokko sind) auch eine Aufenthaltserlaubnis und entsprechende Rechte z.B. auf Arbeitsaufnahme, Wohnung, Gesundheitsversorgung und Schulbildung gibt, existiert trotz mehrfacher Ankündigung in Marokko immer noch nicht. Stattdessen leben anerkannte Flüchtlinge ebenso wie andere Migrant_innen ohne Rechte und finanzielle Unterstützung, die Frauen oft von Prostitution, die Männer von „illegaler“ Gelegenheitsarbeit. Sie sind immer wieder von Razzien und Festnahmen betroffen, auch wenn diejenigen, die den (inzwischen „fälschungssicheren“) UNHCR-Flüchtlingsausweis vorzeigen, meist wieder freigelassen werden. Die übrigen werden im Niemandsland an der algerischen Grenze ausgesetzt. Von dort versuchen sie, zu Fuß in die Grenzstadt Oujda zu gelangen, wo sie vom ABCDS, einem Verein marokkanischer Freiwilliger, notdürftig versorgt und politisch unterstützt werden.

Auch in Oujda und im gesamten Norden Marokkos steigt die Zahl der gestrandeten Migrant_innen, denn die Grenzzäune zu den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla sind seit ihrer Aufrüstung und der Abholzung der umliegenden Wälder nach den Ereignissen vom Oktober 2005, als dort bei einem Sturm auf die „Festung Europa“ mindestens 11 Migrant_innen ums Leben kamen, unüberwindbar. Nur während des Finales der Fußball-WM 2010, als die spanischen Grenzwächter „ihrer“ Mannschaft zujubelten, gelang es einigen, die Grenze zu überwinden.

Zum Gedenken an die tragischen Ereignisse von 2005 sollen am 5./6.Oktober dieses Jahres eine Konferenz in Oujda und eine Demonstration in die Nähe des Zauns von Melilla stattfinden unter dem Motto „5 Jahre Ceuta und Melilla, 5 Jahre Frontex“. Marokkanische Gruppen, Flüchtlingsorganisationen und Eingeladene aus Europa, die seit 2006 im Rahmen transnationaler Netzwerke zusammen arbeiten, sowie aus der Türkei, das inzwischen für das östliche Mittelmeer eine ähnliche Rolle spielt wie Marokko im Westen, rufen gemeinsam dazu auf.

Mehr Infos und Dokumente zu Marokko auf: http://no-racism.net/thema/115/