Wenn sich die Blicke Richtung Senegal wenden
Weshalb junge SenegalesInnen immer wieder die Bootspassage über den Atlantik wagen
Von Spitou Mendy
Die Anzahl der Toten, die das Abenteuer der Migration fordert, ist unaufhörlich gestiegen. Die Opfer, oft junge Leute, die noch kaum die Kindheit hinter sich haben, gehen mit großer Hoffnung an Bord der kleinen Holzboote, um den Ozean zu überqueren und haben den Traum, in einem Land anzukommen, in dem sie ihr Leben radikal verändern können, wie auch das Leben ihrer Familien, die sie in einem Land voller Elend zurückgelassen haben, in Afrika, im Senegal.
Und dennoch…
Migration ist kein neues Phänomen, es ist keine Realität, die ausschließlich Afrika, Lateinamerika bzw. die Länder der so genannten Dritten Welt betrifft. Es ist vielmehr ein globales Phänomen, das mit der Menschheitsgeschichte beginnt. Wenn wir davon ausgehen, dass Afrika die Wiege der Menschheit ist, dann verstehen wir auch, dass ohne Migrationsbewegungen Europa, Asien, Amerika und Ozeanien nicht bevölkert wären. Die Entwicklung der Zivilisationen verdankt der Fähigkeit der verschiedenen Ethnien, ihre jeweiligen Fähigkeiten auszutauschen, sehr viel. (…)
Ohne weit zurückblicken zu müssen, kann gesagt werden, dass es bereits in den 1960er Jahren eine große Einwanderungswelle in Richtung der Länder Zentralafrikas, vor allem nach Zaire, gab. Damals haben sich MigrantInnen mit Tollkühnheit und unter Lebensgefahr in den Diamantenhandel hineinbegeben und (einige) sind reich geworden und mit Ruhm zurückgekommen. In den 1970er Jahren hat sich dann die Migration Richtung Europa verlagert und seither nicht mehr aufgehört.
Das Errichten wie das Überwinden von Grenzen war also immer eine Form der Konstruktion von verschiedenen Gesellschaften. In dieser Dynamik wurden die Grenzen abgesteckt und verändert – in Friedenszeiten geschah dies mittels Verträgen, nach Kriegen wurden den Besiegten Grenzen aufgezwungen, wie Madjiguene Cisse in ihrem Buch „Papiere für alle“ nachweist. Auf diese Weise haben lokale oder globale Kriege immer wichtige Bevölkerungsbewegungen verursacht, einfach aus der Notwendigkeit für die Betroffenen, vor Tod, Gewalt, Not und Armut zu fliehen. (…). Das Europa des beginnenden 21. Jahrhunderts versucht jedoch, seine Grenzen vor den Armen dieser Welt zu schließen. Hierbei übernimmt FRONTEX die Rolle, jeden Versuch der Grenzüberschreitung zu verhindern.
Der Fall Spanien schockiert…
Heute ist Spanien für eine Vielzahl von Immigrationsgesetzen bekannt. Es wird verkündet, dass diese Gesetze „zu Gunsten der ImmigrantInnen“ erlassen und geändert würden. Es ist aber vielmehr so, dass sich vieles zum Schlechten verändert. Die spanischen Botschaften in den Herkunftsländern haben daran einen wichtigen Anteil – sie sind eine wichtige Stütze für die Politik der Selektion und der Limitierung der Einreise von MigrantInnen.
Die MigrantInnen in Spanien wissen nicht mehr ein noch aus, da weder die Gesetze noch die Kollektivverträge (saisongebundene Arbeitsverträge für ausländische Arbeitskräfte – die Red.) ihnen gegenüber respektiert werden. Dies trifft besonders auf die Provinz Almeria zu, die nach wie vor das Zentrum der Verweigerung der Rechte für MigrantInnen bleibt. Diese Region zeichnet sich durch den dort vorherrschenden Machiavellismus aus, durch Aggressionen, die ohne Konsequenzen bleiben, durch seine mafiösen Strukturen und all das, was nach geschminkter Ausgrenzung riecht. Mit dem neuen System der Rekrutierung der Arbeitskräfte aus den Herkunftsländern – in diesem Fall aus dem Senegal – durch spanische Betriebe wird Beihilfe für die Rückkehr der Sklaverei betrieben, denn die Bedingungen der Unterbringung und der Arbeit sind mit letzterer vergleichbar.
…mit den mehr als waghalsigen jungen SenegalesInnen…
In Afrika hat Senegal in den letzten Jahren traurige Berühmtheit erlangt – wegen der Findigkeit der jungen Leute, dem Land den Rücken zu kehren. Die Krise im Land hat ihnen Flügel, oder besser gesagt, Ruder gegeben. Die Leichen derjenigen, die nicht angekommen sind, liegen auf dem Grund der Ozeane. Sie haben Hunger: die Landwirtschaft ist zu Schleuderpreisen verkauft worden, sie sind krank, denn das Gesundheitssystem ist veraltet, sie haben nicht mehr die Möglichkeit zu studieren, das Bildungssystem entspricht nicht mehr ihren Ansprüchen. Sie gehen weg, und werden weiterhin weggehen, solange sie keinen Streifen Hoffnung am Horizont sehen und nicht die Überzeugung haben, dass ihr Herkunftsland nicht auch für sie Perspektiven bieten kann.
…und ihren Gründen wegzugehen
Im Senegal genießt einE MigrantIn, die es schafft, in den Westen zu kommen, ungeheures soziales Prestige. Bei der Auswanderung handelt sich um den Versuch, das eigene Schicksal zu bezwingen, auf einem Kontinent, der von allen als unheilbar verloren wahrgenommen wird und der keinerlei Perspektiven bietet. Der/die MigrantIn, das ist also eine Person, die es geschafft hat, rauszukommen aus einem mühsamen, ja unerträglichen Alltag und die zurückkommt am Steuer eines Autos mit vielen Zylindern und die sich eine riesige Villa hat bauen lassen, in einem Land, in dem Konsum und Überfluss selbstverständlich sind. Darüber hinaus verstehen die Jugendlichen ihre Odyssee als eine Art „ökonomischen Djihad“, und sie haben das Gefühl, dass sie sich für das Kollektiv bzw. die Familie opfern, um schließlich ihre Verwandten von der Armut zu befreien. Deshalb werden diejenigen, die im Zuge dieser Reise zu Tode kommen, als MärtyrerInnen gesehen, als heroische Kamikaze-KriegerInnen, die es vorgezogen haben, ihr Glück herauszufordern, anstatt vor dem Schicksal zu resignieren.
Hinzu kommt eine katastrophenähnliche Sicht auf den afrikanischen Kontinent und eine soziale Hoffnungslosigkeit, sodass diese Verdammten der Erde, die nun Verdammte des Meeres geworden sind, davon überzeugt sind, dass die einzige Lösung ihrer Probleme im Westen zu finden ist – nichts klarer als das.
Es sollte genügen, dieses düstere Bild zu zeichnen, um das Ausmaß und den Ernst jenes komplexen Phänomens der Migration begreiflich zu machen – diese Bewegungen von Menschen, welche in einer totalen Verzweiflung leben und welche die einzige Alternative darin sehen, um jeden Preis wegzugehen.
Alles in allem ist es überhaupt nicht notwendig, auf die Zahlen zurückzugreifen, um sich von dieser Tatsache zu überzeugen. Die Situation ist mit Tausenden von Toten mehr als dramatisch. Es sind im Wesentlichen junge Leute, deren einziges Verschulden darin besteht, aus einem Land zu kommen, wo sie jede Hoffnung auf eine sozial- ökonomische Eingliederung verloren haben, die ihrem Streben als moderne Menschen in einer globalisierten Welt gerecht werden könnte.
Was tun? Welche Perspektiven?
Es ist klar, dass es in diesem Strudel der „modernen Zeit“ ebenso viele Antworten wie beteiligte AkteurInnen gibt. JedeR entsprechend der eigenen Interessen und der Situation, in der sie bzw. er sich im Moment der Antwort befindet. Zur Veranschaulichung: Während die Herren Zapatero und Wade in Dakar ein „Memorandum der Verständigung über die bilateralen Beziehungen“ zwischen Spanien und dem Senegal unterschrieben, in dem es um den Kampf gegen das organisierte Verbrechen wie um den Schutz der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ging, die in Spanien ankommen, haben sich die AktivistInnen der SOC, SpanierInnen und MigrantInnen, um junge Leute aus Afrika gekümmert, die komplett desorientiert und Spielball der sie marginalisierenden Gesetze waren.
Die SOC hat sich dazu entschlossen, für die Respektierung der Menschenrechte und die Würde des einzelnen Menschen zu kämpfen. Diese Gewerkschaft verwendet ihre Energie darauf, sich der Orientierung, der Ausbildung und der Selbstermächtigung der MigrantInnen in der Region von Almeria im Süd-Osten von Spanien zu widmen.
Überzeugt von der Richtigkeit ihrer gewerkschaftlichen Aktion für die Respektierung der Menschenrechte und der Rechte der MigrantInnen im speziellen, plant die SOC nun, eine internationale Kampagne zum Austausch und zum sozialen Dialog rund um das Thema Migration zu lancieren, sowohl in den Herkunftsländern (speziell im Senegal) wie auch in den Aufnahmeländern (Spanien, Frankreich, Schweiz, Italien etc.).
- Der Autor Spitou Mendy war im Senegal Professor für Sprachen. Vor 7 Jahren ist er nach Spanien gekommen. Heute ist er als Gewerkschafter in der andalusischen LandarbeiterInnengewerkschaft SOC-SAT tätig.