Dezember 2016 | Keine einfachen Antworten. Stichworte zum Verhältnis von Migration und Entwicklung
Erschienen in der 4-seitigen Aktionszeitung von Afrique-Europe-Interact im Dezember 2016
Ob Migrant_innen der Entwicklung ihrer Länder nutzen oder schaden, ist schon lange Gegenstand kontroverser Debatten – nicht nur in Europa, sondern auch innerhalb der afrikanischen Zivilgesellschaft. Dennoch hat die Frage seit vergangenem Jahr erheblich an Brisanz gewonnen. Migrationspolitisch setzt die EU mehr denn je auf Abschottung, negative Auswirkungen auf die Herkunftsländer von Migrant_innen werden weitgehend ausgeblendet (> S. 1). Gleichzeitig geht Europa davon aus, so genannte Fluchtursachen gezielt bekämpfen und somit junge Menschen von der Migration abhalten zu können.
Beides scheint freilich einigermaßen weltfremd: Zum einen haben die vergangenen zwei Jahrzehnte hinlänglich gezeigt, dass sich potentielle Migrant_innen nicht so sehr an abschreckenden Beispielen orientieren, sondern an Erfolgsgeschichten, sprich: an jenen Migrant_innen, die es bereits geschafft haben. Der immer wieder propagierte Slogan “Europa oder der Tod” ist ein beredtes Zeugnis dieser Haltung. Zum anderen ist aus zahlreichen Ländern bekannt, dass gesellschaftlicher Fortschritt Migrationsbewegungen in einem ersten Schritt anwachsen, nicht zurückgehen lässt. In der Forschung ist deshalb von einem so genannten “Migrationsbuckel” die Rede: Erst wenn ein jährliches Bruttonationaleinkommen von rund 4.000 Euro pro Kopf erreicht ist (wovon die meisten afrikanischen Länder nur träumen können) nimmt die generelle Bereitschaft zur Migration wieder ab. Migration aus dem Süden dürfte also auf absehbare Zeit ein zentraler Faktor bleiben, ihr Verhältnis zu Entwicklungsfragen ist deshalb für alle Beteiligten von hoher Bedeutung.
Gemischte Gesamtbilanz
Aus migrantischer Perspektive liegen die Vorteile klar auf der Hand: Mit den Geldüberweisungen können Familien direkt unterstützt werden. Zudem finanzieren Diaspora-Vereine immer wieder lokale Infrastrukturprojekte wie den Bau von Schulen oder Brunnen. Es dürfte insofern auch nicht überraschen, dass afrikanische Regierungen Migrationsabkommen mit der EU allenfalls unter mehr oder weniger erpresserischem Druck zustimmen – oder im Austausch gegen Geld, punktuelle Visaerleichterungen oder andere Gefälligkeiten (> S. 3). Nicht minder wichtig ist aus staatlicher Sicht, dass durch Geldüberweisungen Devisen reingespült und regionale Wirtschaftskreisläufe stimuliert werden.
Es gibt aber auch kritische Stimmen – hier wie dort. Danach würden die Rücküberweisungen für zahlreiche afrikanische Regierungen lediglich eine günstige Gelegenheit darstellen, sich ihrer elementaren Verantwortlichkeiten zu entledigen. Denn de facto würden so jene Löcher in den öffentlichen Haushalten kompensiert werden, die durch Korruption, Misswirtschaft und neoliberale IWF-Strukturanpassungsprogramme entstanden sind. Weitere Kritikpunkte sind, dass Geldüberweisungen die Inflation anheizen würden, zudem komme es im Zuge von Abwanderung immer wieder zu Arbeitskräftemangel – ob im medizinischen Bereich (Stichwort “brain drain”) oder auf dem Land. Am fragwürdigsten sei allerdings die fehlende Nachhaltigkeit der Geldüberweisungen. Anstatt sich dauerhaft von externer Unterstützung abhängig zu machen, gelte es vielmehr, sich vor Ort für grundlegende Veränderungen einzusetzen – im Übrigen auch angesichts des großen Leids vieler Migrant_innen und ihrer Familien.
Migrant_innen in Diaspora stärken
Und doch sollte ein grundlegender Unterschied zur europäischen Mainstream-Debatte nicht verkannt werden: Wie immer Migration auf afrikanischer Seite kritisiert wird, es wäre völlig undenkbar, dass dies mit einer Relativierung des fundamentalen Rechts auf Bewegungsfreiheit einhergehen würde. Die hier skizzierten Einwände sprechen also keineswegs gegen Migration an sich. Sie unterstreichen lediglich den ebenso simplen wie grundlegenden Sachverhalt, dass Migrant_innen umso nachhaltiger zur Entwicklung beitragen können, je besser die Rahmenbedingungen sowohl in den Herkunftsländern als auch in den Zielländern sind. Auf europäischer Seite stehen vor allem vier Aspekte zur Debatte: Erstens sollten möglichst rasch reguläre Zugänge für Migrant_innen und Geflüchtete nach Europa geschaffen werden – einschließlich gesicherter Aufenthaltsperspektiven. Zweitens ist es dringlich erforderlich, ein neues und kostengünstiges Überweisungssystem aufzubauen. Denn nur die wenigsten Haushalte in Afrika haben ein eigenes Konto, so dass Rücküberweisungen vor allem über Privatbanken wie Western Union oder Moneygram zu exorbitant hohen Gebühren abgewickelt werden müssen. Drittens sollte die europäische Politik Konzepte entwickeln, wie sie Existenzgründungen von freiwilligen Rückkehrer_innen besser unterstützen könnte. Die bislang hierfür zur Verfügung gestellten Mittel reichen meist nicht aus. Noch problematischer ist, dass sich Rückkehrer_innen von der Idee eines Lebens in Europa verabschieden müssen: Die einen, weil sie ihren Aufenthaltsstatus nach längerer Abwesenheit im Ausland automatisch verlieren (mit Ausnahme von Sondergenehmigungen). Die anderen, weil sie mit ihrer staatlich subventionierten Existenzgründung ohnehin nur ihrer Abschiebung als Papierlose zuvorkommen wollen. Das aber heißt, dass unter solchen Bedingungen kaum jemand bereit ist, freiwillig nach Afrika zurückzukehren. Denn Existenzgründungen können scheitern, in Afrika wahrscheinlich noch öfter als hierzulande. Und da erscheint vielen eine Rückkehr ohne Rückkehroption schlicht zu risikoreich – und das mit der Konsequenz, dass Migrant_innen nicht ihre in Europa erworbenen Kompetenzen für ihre Herkunftsländer fruchtbar machen können. Viertens sollte Europa alles dafür tun, die derzeitigen Abhängigkeits- und Dominanzverhältnisse zwischen Nord und Süd abzubauen und somit eine eigenständige Entwicklung der afrikanischen Länder überhaupt erst zu ermöglichen.
Zirkuläre Migration
Spätestens an dieser Stelle ist auch zu berücksichtigen, dass Migration im (west-)afrikanischen Kontext überwiegend zirkulär verläuft, das heißt die Leute gehen (oft im Rhythmus der Erntezyklen), um wiederzukommen. Es muss daher als einer der paradoxesten Effekte europäischer Abschottungspolitik betrachtet werden, dass sie afrikanische Migrant_innen zwingt, in Europa auszuharren, anstatt realistische Möglichkeiten zu eröffnen, nach Afrika zurückzukehren. Denn hätten sie Papiere und halbwegs stabile Erwerbsmöglichkeiten (so stabil, wie das auf umkämpften Arbeitsmärkten halt möglich ist), gäbe es ein ständiges Kommen und Gehen – so wie das bereits in den 1960er und 1970er Jahren zwischen Frankreich und zahlreichen west- und nordafrikanischen Ländern der Fall gewesen ist. Auf diesen in der europäischen Debatte viel zu häufig vernachlässigten Sachverhalt hat unter anderem Alassane Dicko von der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact immer wieder hingewiesen, zuletzt in einem Anfang 2016 veröffentlichten Interview: “Die zirkuläre Migration ist kein Konzept aus einer, sagen wir, westlichen Sprache. Sie ist auch mehr als ein Konzept, sie ist ein Paradigma, unser Paradigma – unser Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschheit. Es ist ein menschliches Prinzip, die Energien zirkulieren zu lassen. Es geht um Migration, um Bewegung, um Geben und Nehmen. Das sollte Europa fördern, nicht blockieren.”