Dezember 2016 | Grenzregime als Fluchtursache. Wie Abschottungspolitik afrikanische Länder destabilisiert
Erschienen in der 4-seitigen Aktionszeitung von Afrique-Europe-Interact im Dezember 2016
Die Zustimmungsraten zu einer humanitären Asyl- und Migrationspolitik sind in Deutschland dramatisch eingebrochen. Hierzu passt, dass die Bundesregierung in den vergangenen 12 Monaten ihre zahllosen, eng mit der EU abgestimmten Abschottungsmaßnahmen gegen Geflüchtete vergleichsweise geräuscharm durchsetzen konnte. Spürbar ist dies bereits im November 2015 anlässlich des afrikanisch-europäischen Migrationsgipfel in Maltas Hauptstadt Valletta geworden. Damals verpflichtete sich Europa, die grotesk niedrige Summe von 1,8 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, um Fluchtursachen in Afrika zu “bekämpfen”. Im Gegenzug sollten sich die afrikanischen Länder bereit erklären, Abschiebungen aus Europa zu akzeptieren und Geflüchtete Richtung Norden bereits frühzeitig auf dem afrikanischen Kontinent abzufangen.
Seitdem vergeht kaum eine Woche, in der nicht Vertreter_innen der EU oder einzelner EU-Staaten irgendwo in Afrika unterwegs sind, um Abkommen bezüglich Abschiebung und Migrationskontrolle einzufädeln – wie etwa Bundeskanzlerin Merkel bei ihrer Stippvisite Anfang Oktober in West- und Ostafrika (> S. 3). Problematisch ist hieran nicht nur, dass der inhumane Charakter dieser Abkommen in der deutschen bzw. europäischen Öffentlichkeit kaum noch diskutiert, geschweige denn offensiv in Frage gestellt wird. Verkannt wird auch, dass Abschottung die Probleme in vielen Herkunftsländern verschärfen und somit am Ende zu mehr Geflüchteten führen wird, nicht zu weniger. Zu beachten sind in diesem Kontext mindestens fünf Aspekte:
Erstens: Zusätzliche Migrationskontrollen an innerafrikanischen Grenzen, in der Wüste oder auf dem Mittelmeer bedeuten vor allem, dass Migrant_innen und Geflüchtete längere, schwierigere und gefährlichere Reisewege in Kauf nehmen müssen. Konsequenz ist, dass noch mehr Menschen auf dem Weg Richtung Europa brutale Gewalt erfahren oder sogar ums Leben kommen, wobei Vertreter_innen der afrikanischen Zivilgesellschaft immer wieder darauf hinweisen, dass in der Wüste ähnlich viele Menschen sterben wie auf dem Mittelmeer.
Zweitens: Ebenfalls dramatisch, ja zynisch ist, dass im Zuge dieser Abschottungspolitik nicht zuletzt jene Geflüchteten von Europa ferngehalten werden (und genau darum geht es), die eigentlich beste Chancen hätten, einen Schutzstatus zu erhalten. Hierzu gehören unter anderem Menschen aus Eritrea, Somalia, Äthiopien und Sudan – alles Länder, wo die Schutzquoten nicht nur in Deutschland zwischen 52 und 99 Prozent liegen.
Drittens: Abschiebung heißt, dass die Betroffenen aus ihren sozialen und persönlichen Alltagsbezügen herausgerissen werden. Auch dies stellt eine massive Menschenrechtsverletzung dar, zumal Abgeschobene durch ihre Familien und Nachbar_innen oftmals soziale Ächtung erfahren und sich deshalb nicht selten wieder neu in die Migration begeben.
Viertens: Indem an den innerafrikanischen Grenzen immer mehr Kontrollen eingeführt werden, wird die traditionelle, im Rahmen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) vertraglich abgesicherte Reisefreiheit zwischen den afrikanischen Ländern unterminiert, was mit erheblichen wirtschaftlichen Folgeschäden einhergeht, etwa für Kleinhändler_innen oder innerafrikanische Pendelmigrant_innen (75 Prozent aller afrikanischen Migrant_innen sind innerhalb ihres Kontinents unterwegs – häufig angelehnt an die Rhythmen der Erntezeit).
Fünftens: Migrant_innen und Geflüchtete – die Übergänge zwischen den beiden Gruppen sind fließend – leisten nicht nur durch regelmäßige Geldüberweisungen an ihre Familien einen bedeutsamen Beitrag zur Entwicklung ihrer Gesellschaften, sondern auch durch neu erworbene Kompetenzen. Abschiebungen bzw. Maßnahmen zur Verhinderung von Flucht und Migration ziehen daher ebenfalls eine massive ökonomische und soziale Destabilisierung der betroffenen Länder nach sich.
Vor allem Letzteres sollte näher beleuchtet werden: Bereits seit vielen Jahren weisen internationale Organisationen wie die OECD oder die Weltbank auf den Umstand hin, dass Geldüberweisungen von Migrant_innen ein Vielfaches der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit ausmachen. So haben im Jahr 2012 – um nur ein Beispiel zu nennen – Migrant_innen aus dem Senegal 1,4 Milliarden US-Dollar an ihre Familien geschickt, was 11,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmacht (und diese Summe steigt noch um 20 bis 40 Prozent, wenn die in bar nach Hause gebrachten Gelder miteingerechnet werden). Kurzum: Wenn diese Beträge wegbrechen, ist das nicht nur für die Armutsbekämpfung dramatisch – insbesondere was Ernährung, Gesundheitsversorgung und Schulbildung betrifft, wofür die Rücküberweisungen in aller Regel verwendet werden. Vielmehr sind auch lokale Ökonomien negativ betroffen, schlicht deshalb, weil die lokale Gesamtnachfrage sinkt. Was im Zuge der brutalen Abschottungspolitik ebenfalls verloren geht, sind die positiven Effekte, die immer dann greifen, wenn Migrant_innen temporär oder dauerhaft zurückkehren und ihre neu erworbenen Kompetenzen, Qualifikationen und Ideen praktisch anwenden. Schließlich sollte nicht unterschätzt werden, welche traumatisierenden und somit lähmenden Konsequenzen es für Mütter, Väter, Geschwister, Freund_innen oder Nachbar_innen haben kann, wenn nahe stehende Personen während der Migration ums Leben kommen. Hierzu gehören auch finanzielle Folgeprobleme, etwa dadurch, dass Schulden aufgenommen wurden, um die Reise zu finanzieren.
Wer Fluchtursachen wirklich bekämpfen will, muss also Geflüchtete und Migrant_innen unterstützen, nicht Krieg gegen sie führen. Denn Entwicklung und Migration sind keine Gegensätze. Vielmehr sollten Geflüchtete und Migrant_innen als potentielle Stabilitätsanker für ihre Herkunftsländer betrachtet werden. Dafür gilt es, auf internationaler und nationaler Ebene Rahmenbedingungen zu schaffen, die einen sicheren Zugang nach Europa gewährleisten – einschließlich menschenwürdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen. Und doch: Bei aller Kritik an der aktuellen Abschottungspolitik der EU sollten zwei Dinge nicht aus dem Blick geraten: Zum einen, dass das Wechselspiel zwischen Migration und Entwicklung äußerst komplex und keineswegs automatisch von Erfolg gekrönt ist (> S. 2). Zum anderen, dass sich die sozialen und ökonomischen Verhältnisse in Afrika nur dann verbessern können, wenn die reichen Industrieländer endlich von ihrer rücksichtslosen, tief im Kolonialismus verankerten Wirtschafts- und Interessenpolitik ablassen, zu der bis heute leider auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit korrupten und autoritären Regimen gehört.