Dezember 2016 | "Nicht ernst genommen werden": Die NoStress-Tour als Empowerment-Projekt von Geflüchteten
Stress ist für viele Geflüchtete eine Art Grundzustand. Vor diesem Hintergrund hat eine Gruppe Geflüchteter in Berlin und Brandenburg – darunter mehrere Aktivist_innen von Afrique-Europe-Interact – zwischen Juni und September 2016 in vier Flüchtlingslagern in Berlin und Bielefeld die NoStress-Tour durchgeführt. Ziel war es, mit niedrigschwelligen Angeboten wie Sport, Musik und Kinderprogramm die Lagerbewohner_innen aus ihrem Stress zu holen, dies jedoch in einem zweiten Schritt mit einer ausdrücklichen Empowerment-Perspektive zu verbinden. Zudem sollten mittels der NoStress-Tour Kontakte zu Nachbar_innen und Willkommensinitiativen aufgebaut werden. In dem Interview berichten Geraud Potago und Darik Yonkeu über ihre Erfahrungen in dem Projekt, beide sind Geflüchtete aus Kamerun. Das Gespräch ist erstmalig in der der 4-seitigen Infozeitung von Afrique-Europe-Interact im Dezember 2016 erschienen
Wenn ihr eine erste Bilanz zieht, wie ist die NoStress-Tour gelaufen?
Insgesamt war die NoStress-Tour ein voller Erfolg. In allen vier Heimen haben sich viele Bewohner_innen beteiligt, hauptsächlich aus den Ländern des Balkans und des Vorderen Orients, nicht ganz so viele afrikanische Leute. Am zahlreichsten waren die Kinder vertreten, die hatten sehr viel Spaß. Wir konnten das Lachen zu vielen dieser Menschen zurückbringen, die dort mehr oder weniger weggesperrt werden, jedenfalls wenn man bedenkt, dass in vielen Lagern am Eingang kontrolliert wird, wer rein und raus geht. Wir hatten Momente der Verständigung, der Freude und der Begegnung. Das wichtigste war für uns aber die Sensibilisierung: Werden die Menschenrechte in den Lagern respektiert? Wir haben uns mit den Bewohner_innen über diese Frage ausgetauscht, der Schwerpunkt lag dabei darauf, sie darüber zu informieren, wie sie sich für ihre eigenen Rechte einsetzen können.
Und hat das geklappt, konntet ihr die Leute stärken?
Viele haben jeden Tag Angst, dass die Ausländerbehörde kommen und sie abschieben könnte. Dieses Trauma ist so mächtig in ihrem Leben, dass sie sogar ihre Rechte vergessen. Insofern hat die Tour in der Tat eine Atmosphäre des Lachens und der Freude geschaffen. Sie hat die Geflüchteten bestärkt, die Türen zu öffnen und ihre Zimmer zu verlassen, um sich gegen den Stress und seine Ursachen zu wehren, und natürlich auch, um ihre europäischen Nachbar_innen kennenzulernen. Dabei ist es sehr wichtig, nicht nur zu sehen, dass die Leute – um es symbolisch zu formulieren – getanzt haben, sondern auch zu verstehen, dass eine solche Freude Voraussetzung dafür ist, sich nicht als Opfer zu fühlen. Denn wer sich als Opfer fühlt, kann nicht mit anderen friedlich und ausgeglichen zusammenleben, ganz gleich, ob es sich um die Nachbar_innen handelt oder das Land, in dem man lebt. Es ist also nötig, sich von diesem Gefühl des Opfer-Seins zu befreien und zu zeigen, dass man das Leben von seiner guten Seite nehmen kann. Deswegen sollten die Leute tanzen und das Leben jeden Tag genießen.
Lasst uns ein bisschen über die Organisation der NoStress-Tour reden. Wer hat das Ganze organisiert?
Das Team der NoStress-Tour bestand aus 20 Personen, überwiegend Geflüchtete aus afrikanischen Ländern, aber auch fünf europäische Aktivist_innen, die verbindlich mitgearbeitet haben. Am Anfang haben wir uns mit sehr großem Aufwand um die Mobilisierung gekümmert. Wir haben offene Treffen organisiert, wobei wir uns insbesondere an selbstorganisierte Geflüchteten-Gruppen gewendet haben. Wir waren auch bei der Welcome to Stay-Konferenz in Leipzig, um das Projekt vorzustellen. Aber leider blieb die Resonanz insgesamt eher schwach. Erst nachdem die ersten beiden Tour-Stationen stattgefunden hatten, wurde das Echo stärker. Von zwei Heimen haben sich sogar die Verantwortlichen gemeldet und gefragt, ob wir mit ihnen im nächsten Jahr etwas gemeinsam machen wollen.
Womit hat Eures Erachtens die schwache Resonanz insbesondere der Willkommensinitiativen zu tun?
Es gibt ein Problem mit der Solidarität. Denn wir haben den Eindruck gewonnen, dass alles, was die Geflüchteten selber organisieren, tendenziell ignoriert wird. Wenn aber umgekehrt eine der Willkommensgruppen aktiv wird, sind viele Geflüchtete mit von der Partie. Wir wollen wirklich nicht polemisch sein, aber uns scheint, dass selbstorganisierte Geflüchteten-Aktivist_innen oft nicht ernst genommen werden.
Und welche Erfahrungen habt ihr mit den Leitungen der Unterkünfte gemacht?
Insgesamt haben wir ungefähr 20 Heime kontaktiert. Zuerst haben die Verantwortlichen spontan zugestimmt, aber als sie bei unseren Besuchen erfuhren, dass wir mit den Bewohner_innen Workshops zu deren Rechten machen wollen, haben sie wieder abgewunken. Wenn überhaupt, wurde uns angeboten, ein Kulturprogramm für Kinder zu organisieren, was natürlich eine sehr frustrierende Erfahrung war. Dort aber, wo unser Projekt akzeptiert wurde, gab es eine gute Zusammenarbeit. Genauso schwierig war der Annäherungsprozess mit den Geflüchteten in den Heimen. Nicht nur wegen der verschiedenen Sprachen, es gab auch großes Misstrauen, insbesondere bei den Geflüchteten aus dem Balkan, die ja derzeit ganz besonders im Fokus der Ausländerbehörden stehen. Außerdem mussten wir erfahren, dass es verschiedenen Leuten nicht leicht fiel, sich auf Afrikaner_innen als Ansprechpersonen einzulassen. Insofern war es sehr beeindruckend, dass während der Vorbereitungssitzungen irgendwann immer mehr Bewohner_innen den Raum füllten, die quasi die gleiche Motivation wie wir hatten!
Welche Erfahrungen habt ihr mit den Nachbar_innen gemacht, das war ja auch ein wichtiges Ziel des Projekts?
Das war ebenfalls schwierig, obwohl wir rund um die Heime im Vorfeld Flyer verteilt hatten, um auf die NoStress-Tour aufmerksam zu machen. Viele, mit denen wir gesprochen haben, meinten zwar, dass sie vorbeikommen würden, aber das war nur vereinzelt so. Ja, in diesem Bereich gibt es noch viel zu tun in den nächsten Jahren!
Zum Abschluss: Was bleibt für euch und was heißt das für die Zukunft des NoStress-Projekts?
Als Fazit kann man sagen, dass es von hoher symbolischer Bedeutung war, dass wir, die Organisator_innen, Geflüchtete gewesen sind. Denn dies hat eine ganz andere Wahrnehmung produziert, die das Gegenteil dessen darstellt, was sich europäische Initiativen normalerweise unter einem solchen Event vorstellen. Konkreter: Deutlich wurde, dass es möglich ist, eine solche Tour trotz all der Schwierigkeiten zu organisieren, die es für uns als Geflüchtete gab, wie etwa die Instabilität der Gruppe, die Aufenthaltsprobleme der Einzelnen, das fehlende Geld, der schlechte Zugang zu Computern und anderen technischen Mitteln etc. Gleichzeitig hat diese Initiative die Geflüchteten in den Heimen sehr ermutigt, sich zu öffnen. Vor allem in Bielefeld hat die Tour äußerst positive Spuren hinterlassen: Es gibt jetzt dort regelmäßig Treffen von Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, die sich gegenseitig bekochen oder zusammen Fußball spielen. Um diese Dynamik der NoStress-Tour aufrechtzuerhalten, muss in Zukunft aber noch viel getan werden. Bei uns sagt man in solchen Situationen, die Wiederholung ist der beste Lehrer, lasst uns also in diesem Geist weitermachen!
Die NoStress-Tour wurde von der Robert Bosch Stiftung gefördert. Ein Film über das Projekt wird wahrscheinlich ab März 2017 zu sehen sein.