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Das Dorf ihrer Träume

Kabaté, ein Weiler im Westen Malis, lebt von seinen Migranten. Eine Erfolgsgeschichte - mit absehbarem Ende

Von Charlotte Wiedemann

Wenn es geregnet hat, überzieht sich die Sahelzone mit einem flüchtigen Liebreiz; ein Grün, so intensiv, dass es die Augen blendet, denn sie blicken den Rest des Jahres auf ausgebrannte gelbe Trockenheit. Dies ist der Nordwesten Malis, flaches karges Land. Seit einem halben Jahrhundert haben hier junge Männer im ersten Licht des Morgens ein Bündel geschnürt, haben sich aufgemacht, nach Arbeit zu suchen in anderen Teilen der Welt. Weil es so üblich war. Und weil das Grün immer flüchtiger wird und das Gelb immer trockener.

Am Horizont die Silhouette des Dorfs Kabaté: zwei Minarette und ein Wassertank. Ein Eselskarren rumpelt uns entgegen, von Kindern gelenkt. Dann die ersten Männer in wehenden Bubus, weiten Gewändern. Wir halten an. In ein
malisches Dorf fährt man nicht einfach hinein, man muss die Traditionen beachten, sich vorstellen, sein Anliegen erklären, zuerst den Älteren, den Autoritäten. Ein Bericht über den Beitrag der Migranten zur Entwicklung des Dorfs? Die Mienen der Männer hellen sich auf. Fast jeder über 50 ist hier in Kabaté ein ehemaliger Migrant.

Ibrahima Traoré kommt vom Feld, klopft sich die Erde vom gestreiften Bubu. Die bäuerliche Erscheinung täuscht;
Traoré, seit einigen Jahren Bürgermeister, wirkt vor der dörflichen Kulisse von Lehmbauten und Lehmstraßen geradezu weltmännisch. Ohne Umschweife rückt er in seinem Hof ein paar Plastikstühle zusammen, beginnt in bestem Französisch zu erzählen: Von Entwicklungshilfe aus eigener Kraft, finanziert durch die Arbeit im Ausland.

Er war 17, als er aufbrach; das war 1967. Fast seine gesamte Altersklasse aus dem Dorf ging damals nach Paris, ganz
legal. In Frankreich boomte die Wirtschaft; Gastarbeiter waren gefragt, genauso wie in Deutschland. Im berühmten Pariser Mai 1968 war Traoré dann schon im Getümmel des großen Streiks – ein schwarzer Müllmann, der nur gebrochen Französisch sprach. „Es war wie eine Initiation. Wir wussten doch nichts von der Welt.“ Später arbeitete er in Fabriken, lernte Elektriker. „Das Klima war gut, es gab kaum Feindseligkeiten. Wir Afrikaner waren willkommen.“ Ein Satz wie aus einer völlig anderen Zeit; für ein Moment bleibt er in der Luft stehen, untermalt vom rostigen Schrei eines Dorfesels.

Traoré kam 1988 zurück, den Kopf voller Ideen. 21 Jahre hatte er in Frankreich gearbeitet, hatte wie fast alle anderen
Malier von seinem Lohn stets soviel wie möglich nach Hause geschickt, ins Dorf. Nun gründete er eine eigene Entwicklungs-Organisation, damit die Gelder der Migranten planmäßig in die Zukunft von Kabaté und seinen Nachbardörfern investiert würden. „Das Wichtigste waren Wasser und Bildung“, sagt er. Also gruben sie Brunnen, stauten den nahen Fluss, bauten eine kleine Schule, machten eine Kampagne zur Alphabetisierung der Frauen. Ein paar Kilometer entfernt entstand ein kleines Gesundheitszentrum, wo nun die Frauen der umliegenden Dörfer
entbinden. Später holte Traoré andere Geldgeber dazu; bei der Versorgung mit Trinkwasser half aus Deutschland die
Kreditanstalt für Wiederaufbau. Doch stets traten die Migranten in Vorleistung.

Die kleine Schule in Kabaté wird heute „die ehemalige“ genannt. Sie steht zwischen Mais und Hirse, zwei Klassenräume, ein Wellblechdach; so hielt Anfang der 90er Jahre im Dorf die Bildung Einzug. Die Männer, die dafür das Geld sammelten, waren selbst als Kinder stundenlang bis zum nächsten Lehrer gelaufen. Erstmals saßen in der Migranten-Schule nun auch Mädchen auf den Bänken. Mittlerweile ist der kleine Bau zwischen Mais und Hirse durch eine größere Schule mit sechs Klassen ersetzt worden, wieder wesentlich mitfinanziert von Migranten. Von den sechs Lehrern werden nur drei vom malischen Staat bezahlt; die anderen drei entlohnt das Dorf – und das heißt: die Migranten.

Denn von Kabatés 4000 Einwohnern leben zwei Drittel von der Hilfe, die aus dem Ausland geschickt wird. Statistiken
sind keine afrikanische Leidenschaft, und so haben auch im schmucklosen Gemeindebüro von Kabaté alle Zahlen einen
Hauch des Ungefähren. Im Dorf, noch immer ohne Strom, werden Akten handgeschrieben, ein staubbedeckter Karton heißt „Archiv“. Gegenwärtig seien 200 Leute „draußen“, sagt der Gemeindesekretär; es klingt, als seien sie auf hoher See. 200, das sind weniger als früher; es ist zu schwierig geworden, ein Visum zu bekommen. Und diese 200, sagt der Sekretär, bezahlen die Steuern für alle im Dorf, auch die Schulgebühren. Bei großen Festen, wie am Ende des Fastenmonats Ramadan, wird auf Kosten derer da draußen Essen für alle aufgefahren, auch für die Familien, die keinen Verwandten im Ausland haben.

Einmal im Monat oder zumindest jeden zweiten Monat kommt jemand aus Frankreich zu Besuch, er bringt Geld mit,
Geld für alle. 7000 Euro, 8000 Euro in bar, in einer Tasche, um den Leib geschnallt. Der Bote hat während des
nächtlichen Flugs nach Mali kein Auge zugemacht, auch danach nicht, während der achtstündigen Busfahrt ins Dorf. In der Tasche steckt eine Liste, welcher Betrag für wen bestimmt ist. So werden Bank-Gebühren vermieden, erst recht die hohen Kommissionen von Transfer-Agenturen wie Western Union. 122 Millionen Euro haben die Auslands-Malier aus Europa und aus anderen Teilen Afrikas im vergangenen Jahr nach Hause geschickt – mehr als die offizielle Entwicklungshilfe. Und anders als die offizielle Hilfe kommt das Migrantengeld ohne Korruptions-Abzug an der Basis an. Die Malier in Frankreich sind bekannt für ihre gut funktionierenden kollektiven Strukturen. So wird der Geldtransfer nach Kabaté über ein Netzwerk von Vertrauensleuten geregelt; es heißt „Marenkafo“, ein Wort der
Soninké-Sprache für engsten geschwisterlichen Zusammenhalt. Im Dorf oder in Kayes, der nächsten Stadt, gehen manche alten Leute seit Jahren in einen Laden, ohne je zu bezahlen. Sie nehmen sich Reis, Speiseöl, Zucker, Salz, und alles wird bargeldlos abgerechnet mit einem Mittelsmann des Sohnes in Frankreich. Die Alten kennen oft die Preise gar nicht mehr, sie wissen kaum, wie teuer der Reis geworden ist in den vergangenen zwölf Monaten, wie viel mehr der Sohn in Europa nun dafür arbeiten und zurücklegen muss.

Moussa Konaté war 32 Jahre in Frankreich. Nun ist er Rentner, ein kranker Heimkehrer mit aufgedunsenen Zügen. 32
Jahre lang hat er gewaschen, Kleider in Wäschereien, Teller in Restaurants. Er spricht mit Selbstachtung und mit Leidenschaft von dieser Zeit, auch wenn ihn das Reden rasch ermüdet. Als er zum erstenmal das Dorf verließ, hatte es drei schlechte Regenzeiten hintereinander gegeben und fast nichts zu ernten. „Ein Migrant zu sein,“ sagt er, „das war nie einfach. Aber im Vergleich zu heute hatten wir es damals viel leichter. Früher war Europa offener. Heute ist alles blockiert. Sie mögen die Muslime nicht mehr.“ Von seiner Rente, es sind um die 600 Euro, lebt der ganze Familienverband: mehr als 35 Menschen. „So ist das bei den meisten Rentnern hier“, sagt Moussa Konaté und schweigt
erschöpft.

So viele haben Kabaté verlassen, für drei Jahre oder für drei Jahrzehnte – aber das Dorf ganz aufzugeben, das war nie
einen Gedanken wert, mag die Dürre noch so arg sein. Die Männer kamen immer zurück. Vielleicht nach einer Saison, wenn sie auf den Erdnussfeldern im Senegal gearbeitet hatten. Vielleicht erst am Ende der Saison des Lebens, wie der alte Wäscher Konaté. Und gerade für die, die „draußen“ sind, muss das Dorf erhalten bleiben. Sie wollen an ihr Dorf denken, wollen es in ihren Träumen sehen, wollen stolz sein auf ihr Dorf – und damit stolz auf sich selbst. Wenn in der Heimat viele an den Wohltäter in der Ferne denken, dann fühlt der sich stärker – und manche fühlen sich dadurch sogar auf geheimnisvolle Weise beschützt.

Über all das sprechen die Männer in Kabaté nicht gern. Ältere Malier zeigen ihr Inneres nicht, schon gar nicht einer
Fremden. Soviele Auslandsjahre sich hier unter einem Palaverbaum addieren mögen: Die patriarchalen Sitten haben
überlebt, zumindest im öffentlichen Leben des Dorfes. Manche Männer haben viele Jahre ihre Familien nur im Urlaub gesehen, im Urlaub ein Kind gezeugt, es im nächsten Urlaub angeschaut. Geld zu schicken, das ist auch Entschädigung für entgangenes Leben. Im Pariser Vorort Montreuil, den die Malier ihre „zweite Hauptstadt“ nennen, teilen sie sich über Jahre zu dritt oder viert eine Schlafstelle im Ausländerheim; währenddessen wächst im Dorf ihr Prestige.

Dieses Ansehen zu mehren, dafür gibt es verschiedene Wege. Für das Dorf sorgen, das ist ein Weg. Eine große Moschee
bauen, ein anderer. Oder alles nur der Familie geben, damit sie mit dem prächtigsten Neubau im Dorfe glänzt? Kabaté hat nun schon die zweite Moschee, die von Migranten gebaut wurde. Die erste war eine kollektive Anstrengung; die neue Moschee, deren hohe Minarette von weither zu sehen sind, wurde von vier Brüdern finanziert. Es hat nicht allen im Dorf gefallen, wie nun eine einzige Familie das religiöse Prestige monopolisiert.

Der Maler Mahmadou Kébé hat sich das Geld für seinen Betrieb in Kamerun verdient. Nun gibt er dem privaten
Wohlstand seiner Migranten-Kollegen ein Gesicht, streicht die Neubauten ihrer Familien in leuchtenden Farben, verziert sie mit üppigen Dekorationen: große Blumen, manchmal Tiere, und auffallend oft ein Flugzeug. Der Maler begleitet uns im weißen Kittel freundlich durchs Dorf, zieht uns hier und dort zu seinen Werken: „Beachten Sie meine Kunst!“ Jetzt malen auch seine Kinder. Ein Sohn hat ein Wandbild gemacht mit einer Art Disko, man sieht Sänger mit Mikrofon – in einem Dorf ohne Strom. Die Jugend von Kabaté ist aufgewachsen mit den Bildern von Flugzeugen und mit den Geldkurieren ihrer Väter. Nun ahnen die Jungen, dass sie keine Chance mehr haben werden, sich Prestige zu erwerben wie die Alten. Die Türen schließen sich – und der Nordwesten Malis, die Region Kayes, zu der unser Dorf gehört, ist wie ein Spiegel der europäischen Migrationspolitik. Früher zogen Malier aus anderen Landesteilen sogar eigens hierhin, denn Personalpapiere aus dieser klassischen Auswanderregion waren von Vorteil. Die Botschaften wussten:
Der will bloss arbeiten. Heute ist es umgekehrt; wer aus Kayes stammt, gilt den Botschaften als verdächtig. Vorsicht, der will arbeiten!

So hat die Geschichte vom Dorf Kabaté, die eigentlich als eine gute Geschichte begonnen hat, doch kein gutes Ende. Denn wie sollte die Jugend des Dorfs verstehen, dass ein Modell, das sich so sichtbar zum allseitigen Vorteil entwickelt hat, vor ihren Augen abrupt endet? Vor einem Kiosk in Kabaté lassen sich die Jungen auf ein Gespräch ein; von den Alten ist keiner in Hörweite. Der Kiosk ist mit Bildern von Mekka beklebt; Religion wird wichtiger für die Jungen. Sie wirken zerrissen, loben zuerst artig Schule, Brunnen, Wasserleitung, die Errungenschaften des Dorfs – und sagen im nächsten Moment bitter: „Hier gibt es doch nichts.“ Sie denken ans Weggehen, permanent denken sie danach. Mali hat keine Küste, aber die Küste von Mauretanien ist nicht fern, dort starten die Boote in die Träume und Tragödien
der sogenannten illegalen Migration.

Unser Abschied vom Dorf ist wie der Anfang. Die Sitten verlangen, dem Dorfchef die Aufwartung zu machen. Der
Dorfchef ist das traditionelle Oberhaupt, ein Mann mit Stock und blindfleckiger Brille und einer Zahl von Enkeln, die er selbst nicht überblickt. Auch er war ein Migrant – aber, ach!, nur für neun kurze Monate. Dann erreichte ihn in Paris die Depesche der Familie: Er müsse heimkommen, das erbliche Amt antreten. 40 Jahre ist das nun her; ein Moment des Bedauerns huscht hinter den blindfleckigen Brillengläsern vorbei. Der Alte wohnt noch immer in einem Haus aus gestampftem Lehm. Um ihn herum stehen die Besitzer der bunten Neubauten mit aufgemalten Flugzeugen und nicken dem Alten zu, wohlwollend, respektvoll. Hat er sich nicht für die Liebe zum Dorf und zu den Traditionen entschieden? Die Jungen, sie werden nun viel Liebe zum Dorf mobilisieren müssen. Während das Grün der Sahelzone immer flüchtiger wird und das Gelb trockener.

Quelle: Publik, 2008

Copyright Charlotte Wiedemann 2009