Jenseits des Mittelmeeres
Migration und migrantische Selbstsorganisierung in Mali
Von Stephan Dünnwald
In zahlreichen Verhandlungen mit den südlichen Mittelmeeranrainerstaaten hat Europa es geschafft, die Abwehr von Flüchtlingen und Migranten nicht nur aufs Meer, sondern in die afrikanischen Maghrebstaaten zu verschieben. Gegen Visa-Erleichterungen für die eigenen Staatsangehörigen und verstärkte Entwicklungshilfe haben sich Maghrebstaaten bald bereit erklärt, die Ein- und Durchreise von subsaharischen Migranten durch ihr Territorium zu verhindern, obwohl dafür in einigen Fällen nicht einmal eine Rechtsgrundlage besteht. Zahlreiche Internierungslager sind entstanden, vor allem in Libyen und Mauretanien, in denen Migranten festgehalten werden bis zur Abschiebung an die südlichen Grenzen. Dort, besonders in Mali, landen täglich und wöchentlich Transporte von aufgegriffenen Migranten. Auf Lastwagen werden die Migranten, die in den Städten oder entlang der Routen nach Norden aufgegriffen wurden, an die Grenze gefahren und im Niemandsland abgeladen, ohne Wasser, ohne Essen, ohne oft notwendige medizinische Versorgung.
Das „Migrantenproblem“
Seit im Spätsommer 2005 subsaharische Migranten versuchten, in großen Gruppen gegen die Grenzzäune der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko anzurennen, ist in den Augen westlicher Politiker und Öffentlichkeit ein Problem sichtbar geworden, das Problem einer Wanderung von Afrika nach Europa. Im nächsten Jahr, 2006, verschoben sich die Migrationsrouten vom afrikanischen Festland in Richtung Kanarische Inseln, sowie von Libyen aus nach Malta und zur süditalienischen Insel Lampedusa, die Chancen jedoch, von dort aus Europa zu erreichen, sind inzwischen drastisch gesunken. Umgehend werden die mit Migranten überladenen Boote wieder ans afrikanische Festland zurückgedrängt, die europäische Grenzschutzagentur Frontex und nationale Grenz- und Militäreinheiten arbeiten Hand in Hand. Wem dennoch eine Anlandung an europäischen Küsten gelingt, der wird innerhalb weniger Wochen in Herkunfts- oder Transitländer zurückexpediert. So reist alle vierzehn Tage eine Delegation aus Mali nach Spanien, um dort internierte Malier zu identifizieren und damit den Weg für die Abschiebung freizumachen. Mit großem Aufwand bremst Europa afrikanische Migranten und Flüchtlinge aus. Dass die eigenen Behörden wie auch die Maghrebländer bei der Flüchtlingsabwehr Menschenrechte missachten, wird billigend in Kauf genommen.
Was hier als Einwanderungsproblem dargestellt wird, das auf nationalstaatlicher Ebene nicht mehr zu lösen ist, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine grandiose Aufblähung. So erteilte der damalige deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble 2006 spanischen Appellen an eine europäische Solidarität eine herbe Abfuhr, indem er feststellte, 60.000 eingereiste Migranten seien für ein Land wie Spanien durchaus verkraftbar. Wahrscheinlich erinnerte er sich nur zu gut an die frühen 90er Jahre, als er, auch damals deutscher Innenminister, die damaligen Flüchtlingszahlen zum nationalen Notstand hochstilisiert hatte, dem nur mit einer Änderung des Grundrechts auf Asyl zu begegnen sei. Tatsächlich ist die Einwanderung aus dem subsaharischen Afrika nach Spanien wesentlich geringer als die von Marokko, Lateinamerika, oder auch von Europas Rentnern. Einwanderung aus Afrika wird über die Maßen problematisiert, genährt vielleicht von Schreckensbildern einer Massenwanderung, befördert von einem massiven Einsatz militärischer wie diplomatischer Einsätze.
Le bon droit et la bonne justice égale pour tous et partout
Gutes Recht und Gerechtigkeit für alle und überall, dies ist der Leitspruch der AME, der Association Malienne des Expulsés, der Vereinigung abgeschobener Malier. Die Organisation gründete sich bereits 1996, als Abgeschobene der Sans Papiers Bewegung in Frankreich und Abgeschobene aus Angola und anderen afrikanischen Staaten in Bamako, der Hauptstadt Malis, zusammentrafen. Es waren so viele, erzählt Ousmane Diarra, der Gründer und Vorsitzende der AME, dass man schließlich beschloss, sich zu organisieren. Lange führte der Verein ein Schattendasein, leidend an chronischer Unterfinanzierung und Beschränktheit der Möglichkeiten. Erst seit 2006, als im Nachklang der Abschiebungen aus Ceuta und Melilla beim Weltsozialforum in Bamako afrikanische und europäische Menschen- und Flüchtlingsrechtsorganisationen zusammentrafen, änderte sich die Situation. Die Arbeit der Organisationen vor Ort erfuhr eine internationale Resonanz, transnationale Netzwerke entstanden, zugleich führten gemeinsam veranstaltete Fortbildungen und bescheidene Zuwendungen zu einer deutlichen Effizienzsteigerung der Arbeit von Vereinen vor Ort. Zahlreiche Organisationen, teils Selbstorganisationen von Abgeschobenen wie die AME, teils Menschenrechtsgruppen, die sich auf die Unterstützung von Migranten konzentrierten, bildeten bald ein dichter werdendes Netz von Einrichtungen in Mali, Mauretanien, Senegal und Marokko. Aktivisten aus Afrika wurden regelmäßige Gäste auf Konferenzen und Aktionstagen europäischer Menschenrechtsgruppen. Vielsprachigkeit wurde zum Kennzeichen und Prärequisit von Treffen in Madrid, Rabat, Frankfurt oder Paris.
Der AME gelang es, schrittweise ihre Kapazitäten zur Unterstützung von Flüchtlingen auszubauen. Erst wurde eine Flüchtlingsaufnahme am Flughafen Bamako-Senou eingerichtet, die von der Beratung in eine breitere Aufnahmeunterstützung mündete. Dies wurde wesentlich leichter, als ein alter Benz angeschafft werden konnte, um abgeschobene Flüchtlinge vom Flughafen zu Familienangehörigen in Bamako oder zum Büro der AME zu bringen, wo ein Zimmer mit Matratzen zur vorübergehenden Unterbringung bereit steht. Dabei konzentriert sich die AME auf die Abschiebungen aus Frankreich. Air France und Aigle Azur schieben mehrmals die Woche Personen aus Frankreich ab. Charterabschiebungen vor allem aus Spanien oder Libyen, bei denen oft hundert oder mehr Personen zur gleichen Zeit ankommen, überfordert die Möglichkeiten der AME. Auch andere Abschiebeflüge, zum Beispiel mit Royal Air Maroc, finden in den frühen Morgenstunden statt und sind seltener. Auch hier ist die AME nicht am Flughafen präsent, wird jedoch von der Flughafenpolizei über die Ankunft von Abgeschobenen informiert. Bei Bedarf werden auch hier Migranten vom Flughafen abgeholt und untergebracht.
Neben der Präsenz am Flughafen Bamako unterhält die AME zwei „Antennen“, wie es in Bamako genannt wird, Außenstellen an den Landgrenzen zu Mauretanien und Algerien. Algerien schiebt seit langem schon subsaharische Migranten an die malische Grenze ab. Zu achtzig oder hundert auf Lastwagen gepfercht, werden Migranten nach Tinzaouten in die Wüste deportiert. Vom Niemandsland der Grenze müssen sich die Migranten durchschlagen bis in die malische Stadt Kidal. Dort bekommen sie von der AME Essen, erste Hilfe und eine Übernachtungsmöglichkeit, schließlich bei Bedarf die Mittel für die Weiterreise nach Bamako. Seit Anfang 2009 hat die AME auch eine Anlaufstelle an der Grenze zu Mauretanien in Nioro eingerichtet. Mauretanien interniert Transitmigranten in von Spanien finanzierten Lagern in Noadhibou und Nuakschott, um sie anschließend an die malische Grenze abzuschieben. Auch hier leistet die AME erste Unterbringung und Unterstützung sowie den Transport nach Bamako.
Die praktische Unterstützung ist aber nur ein Teil der Arbeit. Die AME versteht sich primär als eine Menschenrechtsorganisation, die politisch Stellung bezieht. Die praktische Arbeit umfasst die Aufnahme von Abgeschobenen, die juristische und soziale Beratung sowie bei Bedarf medizinische Hilfen. Die politische Tätigkeit besteht darin, den Regierungen Malis und Europas deutlich zu machen, welche menschenrechtlichen Folgen ihre Politik der Abwehr von Migranten hat. Im Zusammenschluss mit Menschenrechtsorganisationen in den Nachbarländern und Europa dokumentiert die AME die Menschenrechtsverletzungen und bringt sie an die Öffentlichkeit, sei es im Radio in Bamako, in Berichten oder auf Konferenzen und Demonstrationen in Mali, Frankreich oder Deutschland.
In Bamako auf Tuchfühlung mit Europa
Die Europäer kümmert bislang wenig, was mit den zurückgewiesenen und abgeschobenen Migranten passiert. Das Funktionieren der Abschottung hat deutliche Priorität bei den Aktivitäten, die besonders Frankreich und Spanien in Mali entfalten. Die Franzosen stützen sich auf ihren Status und ihre Beziehungen als ehemalige Kolonialmacht, eine Rolle, die allerdings zunehmend angefochten wird. Ein Indiz für den Wandel der malisch-französischen Beziehungen ist die fortdauernde Weigerung Malis, mit Frankreich ein Rückübernahmeabkommen zu schließen. Zahlreiche Malier und insbesondere die Malier in Frankreich nehmen es der „Grande Nation“ übel, mit welcher Härte sie Abschiebungen durchsetzt. Denn natürlich finden Abschiebungen statt, auch ohne Rückübernahmeabkommen. Die malische Botschaft in Frankreich erkennt in zahlreichen Fällen an, dass es sich bei aufgegriffenen Migranten ohne Aufenthaltsrecht um malische Staatsangehörige handelt, doch, ginge es nach dem Willen Frankreichs, sollte dies noch erheblich erweitert werden. Als Gegenleistungen bietet Frankreich mehr Entwicklungshilfe und auch – einige wenige – Visaerleichterungen.
Einen weiteren Fuß in der Türe hat Frankreich mit dem CIGEM, dem Zentrum für Information und Steuerung von Migration. Das CIGEM ist eigentlich ein europäisches Projekt, gefördert aus Mitteln des Entwicklungsfonds der Europäischen Union, doch nach einigen Reibereien in der Startphase arbeiten dort inzwischen nur noch Franzosen. Das Zentrum soll Informationen sammeln zu Migrationsbewegungen, Ausreisewillige beraten und Alternativen aufzeigen, Rückkehrer unterstützen sowie – und hierin liegt wahrscheinlich die größte und gleichzeitig schwierigste Aufgabe – malische Ministerien darauf vorbereiten, all diese Aufgaben selbst zu übernehmen. Bislang kümmern sich malische Behörden weder um Ausreisewillige noch um Rückkehrer. Während die Malier im Ausland hofiert werden, weil sie Geld ins Land schicken und ein wichtiges Wählerpotential sind, rührt die malische Regierung bei Abgeschobenen keinen Finger.
Die spanische Vertretung ist erst seit kurzem in Mali. Spanien hat – gedrängt durch zunehmende Einwanderung aus dem subsaharischen Afrika, erst in den letzten Jahren eine Reihe von Botschaften in Westafrika eröffnet, die Einfluss nehmen sollen auf das Migrationsgeschehen. So finanziert Spanien zum Beispiel Maßnahmen und Ausrüstung malischer Grenzbehörden, auch das malische Rote Kreuz bekommt Unterstützung zur Versorgung von Abgeschobenen an den Grenzübergängen. Bei all dem hält sich Spanien jedoch sehr bedeckt, es gibt keine Informationen seitens der Botschaft, und gegenüber der Öffentlichkeit stellt sich Spanien auf den Standpunkt, man unterstütze lediglich die malische Regierung bei der Wahrung ihrer Interessen.
Die Abwehr unerwünschter Migranten hat somit längst sogar die Grenzen der Transitstaaten überschritten und operiert in den Herkunftsländern. Arbeiten die europäischen und einzelstaatlichen Akteure im Bereich der Transitstaaten schon durchaus erfolgreich, so bleibt abzuwarten, inwieweit es ihnen gelingt, auch in den Herkunftsländern das Interesse an einer Migration nach Europa zu dämpfen oder sogar Alternativen aufzuzeigen. Bislang ist davon noch nicht viel zu sehen. Zwar gibt es einige Ansätze, zum Beispiel Kampagnen zur Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahren der irregulären Migration oder zur Unterstützung von „freiwilligen“ Rückkehrern, doch über den Erfolg lässt sich streiten.
Armut und Auswanderung
Es ist tatsächlich das Fehlen von Alternativen, welches junge Männer weiterhin in die Migration drängt. Im Land gibt es kaum Arbeit, und ein üblicher Lohn reicht oft nicht aus, um eine Familie zu ernähren. In mehreren Regionen Malis wird die Lage verschärft durch eine zunehmende Dürre, die zu Bodenverarmung führt und zu sinkenden und in steigendem Maße unsicheren Ernten. Hier zeigen sich auf eine schleichende, kaum wahrnehmbare Weise die Effekte des Klimawandels, der die Bevölkerung erst in die Städte und dann ins Ausland treibt. Mit Bewässerungsprojekten versuchen die malische Regierung und ausländische Entwicklungsorganisationen dem gegenzusteuern, doch insbesondere in den nördlichen Regionen des Landes zeigen die Bemühungen wenig Erfolg. So sammeln sich zunehmend die jungen Leute in den Städten, vor allem in Bamako, schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch und träumen davon, irgendwo Geld zu verdienen, um zum Unterhalt ihrer Familien beitragen zu können. Es sind Armut und Perspektivlosigkeit, welche die jungen Leute aufbrechen lassen. Um diese Situation zu ändern, müssten große Anstrengungen unternommen werden, die Landwirtschaft zu verbessern und die Weiterverarbeitung und Vermarktung einheimischer Produkte zu fördern. Stattdessen jedoch macht die hohe Subventionierung amerikanischer und europäischer Baumwolle den Anbau in Mali unrentabel, und die von der Weltbank forcierte Öffnung malischer Märkte setzt die Produzenten und die Bevölkerung den heftigen Schwankungen der Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt aus, vor allem beim Grundnahrungsmittel Reis. Misswirtschaft und Korruption malischer Behörden tragen schließlich auch dazu bei, dass die Wirtschaft stagniert und viele die Hoffnung auf Verbesserungen im eigenen Land verloren haben. Wenn nun gleichzeitig Europa alles daransetzt, die Migrationsrouten zu sperren und unerwünschte Einwanderer abzuschieben, verliert Europa die Glaubwürdigkeit, an der desolaten Lage vieler afrikanischer Staaten südlich der Sahara etwas ändern zu wollen.
Bamako, Sammelbecken gescheiterter Migranten
Die Aktivitäten der EU, Spaniens und Frankreichs in Mali gegen irreguläre Migration sind angesichts dieser Lage nicht geeignet, Alternativen zur Auswanderung bereitzustellen. Migration, in der Regel für ein paar Jahre, hat in Mali Tradition. Migration gehört in vielen Gegenden Malis zum Erwachsenwerden. Junge Männer beweisen sich und der Familie, dass sie auf eigenen Füßen stehen und einen Beitrag zum Unterhalt der Familie zu leisten vermögen. Gelingt dies nicht, werden die jungen Leute abgeschoben, so schämen sie sich ob ihres Versagens oft so sehr, dass sie der Familie nicht mehr unter die Augen treten wollen. Sie bleiben in Bamako, suchen Unterschlupf bei Freunden, oder erzählen der Familie, dass sie nur vorübergehend wieder im Land sind. Die Furcht vor der Rückkehr mit leeren Händen ist nicht unbegründet. Nicht selten ist es auch die Familie, die vom gescheiterten Rückkehrer nichts mehr wissen will. Abgeschobenen wird von der eigenen Familie oft bedeutet, dass es keinen Platz für sie gebe, manchen wird das Leben so sauer gemacht, dass sie von allein wieder gehen. So enden Abgeschobene häufig in einer Situation, die dem sozialen Tod nicht unähnlich ist. Abgeschnitten von der Familie, verlieren sie die wichtigste soziale Bindung.
Nicht wenige halten den starken emotionalen Stress, der mit der Abschiebung und einer anschließenden Zurückweisung verbunden ist, nicht aus, zerbrechen an dieser Lage, retten sich in den Traum einer neuen, nun erfolgreichen Migration, ohne dafür die Voraussetzungen mitzubringen. In Bamako trifft man Abgeschobene, die seit vier Jahren dort leben, getrieben einzig von dem Wunschtraum, es wieder zu schaffen, am Ende doch wieder nach Europa zu kommen.
Zirkuläre Sinnlosigkeit
Unter den politischen Absurditäten europäischer Migrationssteuerung tut sich das Konzept der zirkulären Migration durch besondere Unsinnigkeit hervor. Migration in Mali ist traditionell eher zirkulär angelegt. Zwar bleiben bisweilen auch Migranten an ihren Zielorten hängen, holen die Familie nach und lassen sich nieder, doch das Gros der Migranten sieht in der Migration den Zweck, vor der eigenen Familie zu bestehen und nach erfolgreicher Migration auch wieder zurückzukehren. Die zunehmende Blockade dieser Migration führt dazu, dass irreguläre Migranten in Europa unter größeren Risiken leben, weil ihnen beständig die Abschiebung droht, und dass sie nicht zurückkehren, weil sie unter diesen Umständen sehr viel länger brauchen, um das notwendige Kapital für die Rückkehr zu erwirtschaften. Unter diesen Umständen ist es fast frivol zu nennen, dass die Europäische Kommission wie auch zahlreiche Mitgliedstaaten das Konzept der zirkulären Migration favorisieren, während sie in der Praxis alles tun, um sie zu verhindern.
Hintergrund dieser Scharade ist das von Europa vertretende Modell der regulären Migration. Irreguläre Migration war nur so lange tolerabel, wie europäische Arbeitsmärkte auf die billigen Arbeitskräfte aus dem Subsaharischen Afrika angewiesen waren. Mit wirtschaftlichen Krisen, Wachstumseinbrüchen und einer zunehmend globalen Konkurrenz auf allen Märkten ist der Bedarf an Migranten nicht mehr uneingeschränkt. Die Politik tendiert zu einer „migration choisi“, einer Wahl- und Wunscheinwanderung, bei der nur diejenigen eine Chance haben, die das Einwanderungsland auch will. Um der regulären Migration zur Durchsetzung zu verhelfen, muss die irreguläre Migration aktiv in Misskredit gebracht werden. Die Unterscheidung regulär/irregulär im Hinblick auf Migration hat in Afrika nämlich wenig Substanz. Migration ist ein Alltagsphänomen, unter den Staaten des ECOWAS in Westafrika herrscht Reisefreiheit, Staatsgrenzen oder Reisepässe bedeuten wenig. Erst die europäische Offensive gegen irreguläre Migration verleiht Staatsbürgerschaft und Grenzkontrollen neues Gewicht, bringt irreguläre Migration mit Menschenhandel in Verbindung und finanziert die Ausstattung von Grenzposten und biometrischen Datensammlungen. Kaum eine Konferenz vergeht, auf der nicht europäische Vertreter oder die IOM, die Internationale Organisation für Migration, irreguläre Migration an den Pranger stellen und so eine bislang irrelevante Unterscheidung zur Maßgabe für politisches Handeln machen. Nur: Europa bleibt bislang die Einlösung des Versprechens, reguläre Migration zu fördern, schuldig. Nur wenige Visa und Arbeitserlaubnisse rückten die Botschaften Spaniens oder Frankreichs in Bamako heraus, es bleibt bei leeren Versprechungen.
Reintegration – eine Aufgabe der Zukunft
Es ist nicht verwunderlich, dass es zunehmend Initiativen gibt, die sich auf einen Neuanfang im eigenen Land richten. Zahlreiche Selbstorganisationen Abgeschobener sind in den letzten Jahren entstanden. Nur wenige dieser Organisationen verfolgen wie die AME dezidiert das Ziel, andere, gerade ankommende Rückkehrer zu unterstützen. Die meisten dieser Zusammenschlüsse haben in erster Linie den Zweck, den eigenen Mitgliedern beizustehen und Mittel zu sammeln, um eine Wiedereingliederung zu ermöglichen und sich aus der desolaten Situation nach der Rückkehr zu befreien. Das Scheitern der Migration soll so schließlich doch noch in einen Erfolg umgemünzt werden.
Das Cigem, wo man das Potential dieser inzwischen mehr als 100 Initiativen erkannt hat, hat die Gründung eines Dachverbandes initiiert und vergab Gelder für die Aufnahme von Neuankömmlingen. Einige Vertreter von Selbsthilfegruppen wurden überdies in den Status von Beratern des CIGEM erhoben. Die AME ist unter den zahlreichen Organisationen die einzige, welche die Gelder des CIGEM ausschlagen konnte. Die Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen aus Europa verleiht der AME eine Eigenständigkeit, die sie zunehmend zum Gegenpol der staatlichen europäischen Interessen in Mali macht. Mit einigen anderen Akteuren und Gruppen in Bamako arbeitet die AME daran, ein eigenes Netzwerk aufzubauen, das nicht in die Abhängigkeit des CIGEM gerät.
Auch auf der praktischen Seite ist die AME die mit Abstand stärkste Organisation. Die Aufnahme und Begleitung von Abgeschobenen wird effizient durchgeführt, seit ein paar Monaten kooperiert die AME mit den Ärzten der Welt zudem in einem Projekt zur psychosozialen Betreuung von Abgeschobenen. Finanziert wird das Projekt von der Europäischen Union und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen.
Doch auch die AME sieht ihre Defizite. Während die Aufnahme und Erstbetreuung von Abgeschobenen inzwischen gut organisiert ist, leistet keine Organisation eine wirkliche Hilfe zur Reintegration der Rückkehrer. Nur Rückkehrer, die ökonomisch wieder Fuß fassen im Herkunftsland, haben Chancen, von der Familie wieder akzeptiert zu werden. Aber es fehlt an Geld, und es fehlt auch an guten Projektideen, die Rückkehrern die Gelegenheit zur Selbständigkeit oder zu einer festen Arbeit verschaffen. Nun will die AME, erst mal mit geringen Mitteln, einige Versuche starten, um Erfahrungen in diesem Bereich zu sammeln. Und letztlich, das weiß man auch bei der AME, wird man über ein paar Modellprojekte nicht hinauskommen. Wenn aber ein Projekt gelingt und vielleicht auch noch Schule macht, dann ist schon was gewonnen. Erst dann hat die AME auch für gescheiterte Migranten etwas zu bieten.