Flucht, Migration & Transit: Zur Situation von Frauen in Marokko
Interview mit HY, Aktivistin für die Rechte subsaharischer Frauen in Marokko, am 6.12.2013 in Rabat
F.: In welcher Organisation bist Du?
H.: „La Voix des Femmes“ heißt unsere Frauenorganisation – sie kämpft für alle migrantischen Frauen in Marokko.
F.: Du bist jetzt sehr aktiv betreffend die Legalisierung in Marokko. Kannst Du ein bisschen erklären, um welches Gesetz es geht und welche Probleme Du siehst?
H.: Ich danke zunächst dem König, dass er auf diesen Aufruf, MigrantInnen in Marokko zu legalisieren, positiv geantwortet hat. Es ist ein Kampf, den wir schon sehr lange geführt haben. Unsere Erwartungen sind sehr hoch und wir müssen uns Sorgen darum machen. Selbst wenn es jetzt eine Legalisierung gibt – was bedeutet das für die Integration der Menschen in die Gesellschaft? Und es wird nur eine bestimmte Zahl an MigrantInnen legalisiert – was wird aus dem Rest? Werden sie noch irgendwelche Grundrechte hier haben?
F.: Vielleicht kannst Du die Bedingungen der Legalisierung ein bisschen erklären und warum Du sie kritisierst?
H.: Ich sage mal: Ich kritisiere nicht, aber ich sehe die Realität. Gibt es wirklich eine Eingliederung der Menschen nach der Legalisierung? Denn Legalisierung muss auch Teilhabe an der Gesellschaft heißen, Integration! Die Leute müssen auch Arbeit haben – wird man die mit der Aufenthaltserlaubnis finden? Und wenn sie Arbeit bekommen, dann zu gleichen Bedingungen und mit gleichen Rechten wie die Einheimischen? Sie tragen ja auch zur marokkanischen Wirtschaft bei! Sie zahlen z.B. Rentenbeiträge ein und müssen dann auch Rente bekommen. Der Lohn muss gleich sein und die Rechte entsprechend den Arbeitsgesetzen gewährt werden!
F.: Es gibt auch das Problem des Schulbesuchs, denn es ist schwierig für MigrantInnen, ihre Kinder hier einzuschulen.
H.: Es gibt ein Rundschreiben des Ministeriums dazu, das ist schon ein Fortschritt. Aber es muss weitergehen. Die Papiere, die für die Einschulung verlangt werden, können oft nicht beigebracht werden. Eltern müssen z.B. das Alter der Kinder durch Geburtsurkunden nachweisen, die sie oft nicht haben. Wird die Regierung uns andere Prozeduren anbieten, um dies Problem zu lösen? Man muss auch die Direktoren der Schulen sensibilisieren, auch in kleinen Dörfern, denn die Legalisierung darf sich nicht auf Rabat und Casablanca beschränken! Auch die Kinder der MigrantInnen in den Wäldern von Gourougou, in Dakhla und anderswo müssen teilhaben können.
Die Zeit, die uns gegeben wird, ist zu begrenzt. Die Eltern müssen zuerst sensibilisiert werden, damit sie Papiere besorgen und die Schulanmeldung der Kinder machen können.
F.: Die Legalisierungsperiode wird ja nur ein Jahr dauern. Was passiert danach?
H.: Wir wissen das selbst nicht. Wir hatten Versammlungen, aber wir haben noch keine Antworten auf solche Fragen bekommen. Wir denken, es muss eine kontinuierliche Legalisierung geben! Und die Prozeduren sind auch noch unklar.
F.: Ihr habt auch ein anderes Verfahren vorgeschlagen, weil viele Leute Angst haben, zu Behörden zu gehen.
H.: Ja, wir haben vorgeschlagen, dass auch die NGOs und die Organisationen der subsaharischen MigrantInnen einbezogen werden bei der Umsetzung der neuen Politik. Wir müssen mit der Regierung zusammenarbeiten. Das heißt, wir müssen die Mobilisierung machen und warum sollen wir dann nicht Büros in den Vierteln eröffnen, in denen die MigrantInnen wohnen? Denn die Leute ohne Papiere haben Angst, zur Polizei zu gehen.
F.: Habt Ihr das vorgeschlagen und mit dem Minister diskutiert?
H.: Es gab einen Runden Tisch mit der Regierung in Casablanca und dort haben wir das vorgeschlagen. Aber es gab keine Antwort.
F.: Du arbeitest vor allem mit Frauen, mit Migrantinnen. Wie ist ihre Situation, z.B. wenn sie schwanger oder krank sind? Viele Frauen haben keine Arbeit, auf den Straßen hier sitzen Frauen mit Kindern, die betteln. Was ist zu tun, um für diese Frauen eine Lösung zu finden?
H.: Ich denke, diese Frauen sind die am meisten verletzlichen Menschen. Auch ihre psychologische Situation muss gesehen werden. Manche sind aufgrund ihrer Situation verrückt geworden. Sie finden keine Arbeit, so müssen sie betteln. Sie haben Kinder. Unter ihnen sind sehr qualifizierte Frauen, mit Diplom, aber man gibt ihnen keine Arbeit, selbst wenn sie Papiere als anerkannte Flüchtlinge haben. Ich entschuldige mich für den Begriff, aber es gibt hier eine Diskriminierung. Wir hoffen, dass das mit der neuen Politik besser wird. Zumindest in den großen Städten gibt es jetzt weniger offenen Rassismus und mehr Respekt gegenüber Subsahara-AfrikanerInnen. Ich selbst spüre das.
F.: Ist das ein Ergebnis der Kämpfe von MigrantInnen?
H.: Ganz sicher, es ist ein Ergebnis. Der Kampf um Legalisierung war ein langwieriger. Wir danken auch der CNDH (dem- offiziellen – nationalen Menschenrechtsrats), dass er wesentliche Probleme in seinem Bericht benannt hat. Er hat uns langen Atem gegeben und es gab eine für uns günstige Antwort darauf durch den König. Wir sind hier in Afrika, aber die MarokkanerInnen haben ihre afrikanische Identität verloren.
F.: Du hast mir auch von Frauen erzählt, die im Krankenhaus starben, weil sie dort vernachlässigt wurden.
H.: Die Mentalität des Personals in den Krankenghäusern muss auch verändert werden! Es gibt sehr oft eine vernachlässigende, schlechte Behandlung Schwarzer durch Krankenschwestern und anderes Personal. Ich habe Zeuginnenaussagen, z.B. von der Bettnachbarin einer kongolesischen Frau, die ein Kind zur Welt gebracht hat und dabei starb mitsamt ihrem Baby, und ich weiß, dass es dazu kam, weil sie wegen fehlender Krankenversicherung nicht rechtzeitig und ausreichend behandelt wurde. Eine andere Frau, die ich heute traf, eine 20jährige, berichtete auch, dass sie im Krankenhaus bei der Geburt ihres Kindes vernachlässigt wurde, in ihrem Blut lag und niemand sich um sie kümmerte.
F.: Denkst Du, das ist ein Problem von Rassismus oder liegt es an den fehlenden Papieren?
H.: Rassismus gibt es überall auf der Welt. Das Problem hier entsteht, wenn jemand keine Papiere hat. Aber ein bisschen ist es auch ein Rassismusproblem. Ich selbst war im August krank und ging zum Arzt. Der große Chef musste sich einmischen, um meine Aufenthaltserlaubnis zu kopieren, bevor ich behandelt wurde. Und ich musste alles bezahlen, obwohl Marokko meine zweite Heimat ist (H. hat dort studiert und lebt – nach kurzem Aufenthalt in Frankreich – seit vielen Jahren in Marokko, d.Ü.). Es ist etwas, was man nicht sieht und es muss offen gesagt werden: Es gibt hier Rassismus – in den Krankenhäusern, auf den Arbeitsplätzen und an vielen anderen Orten, wo Beleidigungen vorkommen. Wenn etwas nicht kritisiert wird, kann es nicht verändert werden. Die Leute müssen sensibilisiert werden, damit wir Hand in Hand in diesem Afrika leben können!
F.: Gibt es einen speziellen Rassismus gegen Frauen aus Subsahara-Afrika?
H.: Ja, ich arbeite sehr lange mit Frauen und habe viele Zeuginnenaussagen gesammelt. Z.B. erzählte eine kongolesische Frau, dass ihr Vermieter sich jedes Mal, wenn sie sich wusch, vor die Tür stellte, um sie nackt zu sehen. Und viele Frauen werden von Marokkanern vergewaltigt.
F.: Heißt das, mann denkt, sie seien Prostituierte oder es seien eben Frauen, mit denen das erlaubt ist?
H.: Beides. Manche Frauen müssen sich prostituieren, um zu überleben, und viele Frauen werden vergewaltigt. Ich habe auf einer Konferenz die Frage gestellt, ob solche Fälle von Vergewaltigung vor Gericht verfolgt werden können?
F.: Du warst auch in Tunesien, zum Weltsozialforum im März 2013 und hast mit subsaharischen MigrantInnen dort gesprochen. Hast Du einen Unterschied zu Marokko festgestellt?
H.: Ja, in Tunesien ist der Rassismus offensichtlicher. Ich selbst habe einen Fall miterlebt und denke, in Marokko ist es besser.
F.: Denkst Du, das ist deshalb so, weil die Subsahara-AfrikanerInnen hier besser organisiert sind?
H.: Ja, auch die subsaharischen TransitmigrantInnen müssen sich organisieren!
F.: Aber sie wollen nicht dort bleiben. Hier war es bei den meisten zuerst auch so, dass sie nicht bleiben wollten, aber jetzt sind viele 10, 15 Jahre in Marokko!
H.: Es gibt Leute, die in ihrem Kopf haben, nicht hier bleiben zu wollen und Marokko als Transitland sehen, in dem sie nur Zeit verlieren. Und oft wollen Eltern nicht, dass ihre Kinder die Schule auf Arabisch machen. Und sie beschweren sich, dass die Schule auf Arabisch stattfindet. Und die ChristInnen befürchten die islamische Erziehung. Es müsste Alternativen geben, z.B. dass christliche Kinder nicht am islamischen Religionsunterricht teilnehmen müssen. Meiner Meinung nach ist aber das Arabische ein zusätzlicher Wert, und es sollte unterrichtet werden zur Integration in die Gesellschaft, auch damit die Kinder sich verteidigen und ihre Rechte wahrnehmen können.
F.: Was denkst Du zu dem, was an den Grenzen Marokkos passiert: die Aufrüstung an den Enklaven Ceuta und Melilla, die geplante Mauer an der algerischen Grenze, die Toten – ist das auch die „neue Politik“?
H.: Jedes Land hat seine Politik und begründet sie mit seiner Sicherheit und es gibt angeblich ja auch „Terroristen“, die die Chancen nutzen. Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fordert Bewegungsfreiheit, aber fast jeden Tag gibt es Tote an den Grenzen und bei Razzien. Das kann nicht akzeptiert werden! Das ist der Druck der EU, die aus Marokko ihren Gendarm machen will. Ich habe in Marokko studiert, und es war immer ein offenes und gastfreundliches Land, aber die EU will daraus ihren Wachhund machen. Marokko ist ein afrikanisches Land, und alle AfrikanerInnen sollten das Recht haben, sich auf diesem Kontinent frei zu bewegen!
Angesichts all dieser Toten muss aber auch das subsaharische Afrika gefragt werden, ob es sich dessen bewusst ist, was hier passiert. Das schwarze Afrika muss aufwachen! Wir müssen Hand in Hand mit dem Maghreb auf dem afrikanischen Kontinent arbeiten, um das Sterben in der Wüste und auf dem Meer zu verhindern.
F.: Eine letzte Frage: Wie könnte eine gute Zusammenarbeit zwischen AktivistInnen in Europa, im Maghreb und in Subsahara-Afrika aussehen?
H.: Wir müssen mit Synergie und Hand in Hand arbeiten und die wesentlichen Probleme kennen. Es sind ja nicht nur Subsahara-AfrikanerInnen, die sterben – ich erinnere an Syrien, an Osteuropa, an all die Menschen, die ums Leben kommen. Wir müssen voneinander lernen und gemeinsam dafür kämpfen, diese Welt zu verändern! In Tunesien habe ich z.B. Flüchtlinge aus Choucha kennen gelernt und wir sind immer noch in Kontakt und tauschen Erfahrungen aus, denn wir haben hier ja auch Demonstrationen vor Botschaften und dem UNHCR gemacht, und an deren Politik muss sich wirklich etwas ändern!
Interview und Übersetzung aus dem Französischen: Conni Gunßer