Für Bewegungsfreiheit & selbstbestimmte Entwicklung!

Fluchtursachen bekämpfen, aber richtig!

Afrique-Europe-Interact hat am 15. Oktober 2016 auf Seite 1 der bundesweiten Ausgabe der tageszeitung “taz” nebenstehende Spendenanzeige veröffentlicht. Unmittelbarer Anlass für die Anzeige war die 3-tägige Afrika-Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 9. bis 11. Oktober 2016 – mit Stationen in Mali, im Niger und in Äthiopien (siehe unten). Denn diese Reise hat aus Sicht von Afrique-Europe-Interact einmal mehr die hochgradig fragwürdige Vorgehensweise europäischer Regierungen gegenüber Afrika deutlich gemacht: Jenseits eigener wirtschaftlicher Interessen ist Europa in erster Linie daran interessiert, Migrant_innen und Geflüchtete aus afrikanischen Ländern möglichst frühzeitig abzufangen oder wieder abzuschieben, sollten sie es trotz des immer repressiveren EU-Grenzregimes bis nach Europa geschafft haben. Entsprechend hat Angela Merkel zwar viel davon geredet, Fluchtursachen bekämpfen zu wollen, doch de facto ist es vor allem um die Frage gegangen, wie afrikanische Regierungen durch eine Politik aus Zuckerbrot und Peitsche in das Projekt der Festung Europa miteingebunden werden können. Demgegenüber geht unser transnationales Netzwerk Afrique-Europe-Interact von völlig anderen Voraussetzungen aus:

  • Wir sind erstens davon überzeugt, dass Europa weniger Feuerwehr als vielmehr Brandstifter ist. Davon zeugt die seit vielen Jahrhunderten währende Geschichte von Dominanz und Ausbeutung des afrikanischen Kontinents – angefangen bei der Sklaverei über den Kolonialismus bis hin zu einer Vielzahl neokolonialer Praktiken, die eine eigenständige Entwicklung in Afrika extrem erschweren.
  • Wir glauben zweitens, dass Europa und andere Industrie- und Schwellenländer ihre knallharte Interessenpolitik nicht durchsetzen könnten, würden sie nicht von häufig korrupten, unfähigen und klientelistischen afrikanischen Regierungen unterstützt werden, die oftmals – zum Schaden der eigenen Bevölkerung – als Türöffner externer (Investoren-)Interessen fungieren. In diesem Sinne scheint uns eine Unterstützung politischer und sozialer Basisbewegungen in Afrika unabweislich, denn nur sie können letztlich einen wirklichen Wandel vor Ort einleiten, wie zuletzt im Oktober 2014 der durch Massenproteste möglich gewordene Sturz des langjährigen Diktators Blaise Compaoré in Burkina Faso eindrücklich vor Augen geführt hat.
  • Drittens sind wir davon überzeugt, dass Migration und Entwicklung kein Gegensätze darstellen. Erinnert sei nur, dass Migrant_innen durch ihre regelmäßigen Rücküberweisungen an ihre Familien einen bedeutsamen Beitrag zur Entwicklung ihrer Länder leisten, und sei es nur, um das alltägliche Überleben zu gewährleisten. Entsprechend berichtet die UN, dass die Summe der jährlichen Rücküberweisungen von Migrant_innen dreimal so hoch ausfällt wie die der gesamten Entwicklungszusammenarbeit. Ihr Anteil am Investitionsvolumen liegt laut eines Berichts der Weltbank und der Afrikanischen Entwicklungsbank in Burkina Faso bei 36 Prozent, in Kenia bei 55 Prozent, in Nigeria bei 57 Prozent, im Senegal bei 15 Prozent und in Uganda bei 20 Prozent. Umgekehrt heißt das aber auch, dass die auf Abschottung und Repression setzende europäische Migrationspolitik in erster Linie jene Länder zusätzlich unter Druck setzt, ja destabilisiert, aus denen viele Migrant_innen oder Geflüchtete kommen. Hierdurch erweist sich die europäische Abschottungspolitik letztlich – so paradox das klingen mag – als eigenständige Fluchtursache, nicht jedoch als ein Maßnahmenbündel, das in irgendeiner Form einen produktiven Beitrag zur Verbesserung der ökonomischen und politischen Situation in Afrika leisten würde.

Vor diesem Hintergrund hat unser Ende 2009 entstandenes Netzwerk (an dem Basisinitiativen oder Einzelpersonen insbesondere in Mali, Burkina Faso, Togo, Guinea, Tunesien, Marokko, Deutschland, Österreich und den Niederlanden beteiligt sind) von Anfang an ein gänzlich anderes Vorgehen gewählt als das von Europa praktizierte: Wir unterstützten nicht nur Migrant_innen und Geflüchtete auf ihrem Weg Richtung Richtung Norden, sondern beteiligen uns auch an sozialen Auseinandersetzungen in einzelnen afrikanischen Ländern, bislang vor allem in Mali. Darüber hinaus setzen wir uns durch systematische Öffentlichkeitsarbeit sowohl in Afrika als auch Europa kritisch mit den bestehenden Verhältnissen auseinander.

Was das konkret bedeutet, können Sie bzw. könnt Ihr auf dieser Webseite erfahren. Unter Kampagnen und Einzelprojekte berichten wir von unseren praktischen Aktivitäten (sei es im Bereich Migration oder selbstbestimmte Entwicklung), unter der Rubrik Themen finden sich zu zahlreichen Fragestellungen und Problembereichen teils umfassende, teils schlaglichtartige Sammlungen von Texten und Analysen sowohl zur europäischen Migrationspolitik als auch zu den strukturellen Ursachen von Flucht und Migration (Stichwort: Neokolonialismus). Grundsätzlich freuen wir uns über jede Form der Unterstützung oder Kooperation – ob durch gemeinsame Veranstaltungen und Interventionen oder durch Spenden an Afrique-Europe-Interact.

Kritische Berichterstattung zu Merkels Afrikareise (Kommentar tagesthemen)

Nicht nur zivilgesellschaftliche Akteure haben eine äußerst kritische Bilanz von Merkels Afrikareise gezogen. Auch die großen Medien äußerten sich skeptisch. Stellvertretend sei der tagesthemen-Kommentar von Shafagh Laghai zitiert, in dem kurz und bündig festgehalten wird: “Sollen Fluchtursachen bekämpft werden – muss Schluss sein mit ungerechten Verträgen, die den Namen Partnerschaft nicht verdienen”.

Wider den Selbstbetrug der EU: Globales Nord-Süd-Gefälle überwinden, Bewegungsfreiheit herstellen

Als Reaktion auf den afrikanisch-europäischen Regierungsgipfel in Valetta (November 2015) hat sich Afrique-Europe-Interact bereits Ende letzten Jahres in einer 4-seitigen Beilage in der taz kritisch mit der Art und Weise auseinandergesetzt, wie in Europa das Motto “Fluchtursachen bekämpfen!” üblicherweise ausbuchstabiert wird.

“Fluchtursachen bekämpfen” – spätestens seit Geflüchtete und Migrant_innen das europäische Grenzregime massenhaft überrannt haben, ist das martialisch anmutende Motto zu einer Art Hoffnungsanker europäischer Politiker_innen geworden. Mehr noch: Die EU hat das Thema Mitte November ins Zentrum des afrikanisch-europäischen Migrationsgipfels auf Malta gerückt. Und auch die Medien ziehen mit. In zahlreichen Hintergrundberichten werden derzeit Armut, Umweltzerstörung oder Krieg thematisiert. Gleichwohl bleibt die öffentliche Debatte seltsam steril. Denn ein Blick hinter die Kulissen findet nur selten statt, Europa scheint mit den strukturellen Ursachen von Flucht und Migration kaum etwas zu tun zu haben – jedenfalls was Afrika betrifft. Handfeste Ergebnisse konnten daher auf Malta nicht erzielt werden, zur Diskussion stehen stattdessen aberwitzige Szenarien. Beispielsweise im Niger riesige Auffanglager für Geflüchtete zu bauen – also in einem Land, das im UN-Index für menschliche Entwicklung seit Jahren auf dem letzten Platz rangiert.

Kurzum, vieles spricht dafür, einen Perspektivwechsel zu vollziehen: Anstatt die eigene Verantwortung zu leugnen, sollte sich Europa endlich der Tatsache stellen, dass es in den letzten Jahrzehnten mit seiner rücksichtslosen Wirtschafts- und Interessenpolitik maßgeblich zur aktuellen Situation in weiten Teilen Afrikas beigetragen hat – wie einige Beispiele zeigen mögen:
Als Anfang der 1980er Jahre zahlreiche Länder des globalen Südens in den Schuldenstrudel gerieten, wurden ihnen vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bzw. der Weltbank so genannte Strukturanpassungsprogramme auferlegt, also jene neoliberale Rosskur, die Griechenland seit 2010 zu durchlaufen hat. Nicht nur öffentliche Ausgaben mussten massiv gekürzt werden, etwa im ohnehin nur bruchstückhaft entwickelten Bildungs- und Gesundheitswesen – letzteres mit fatalen Auswirkungen bis hin zur jüngsten Ebolakrise in Sierra Leona, Liberia und Guinea. Auch zahlreiche wirtschaftspolitische Maßnahmen wurden verhängt, darunter Marktöffnungen sowie der Abbau preistabilisierender Subventionen. Ergebnis war, dass viele der in den ersten 20 Jahren seit der Unabhängigkeit entstandenen Industriebetriebe unter der plötzlichen Weltmarktkonkurrenz wie Kartenhäuser zusammenbrachen – ein Schock, von dem sich die meisten der betroffenen Länder bis heute nicht erholt haben. Umso dramatischer ist es, dass es der EU 2014 nach jahrelangem Druck gelungen ist, zahlreiche Länder Afrikas zur Unterzeichnung der Economic Partnership Agreements (Wirtschaftspartnerschaftsabkommen), kurz EPAs, zu nötigen. Denn obwohl gerade mal 10 Prozent der afrikanischen Produkte auf dem Weltmarkt als konkurrenzfähig gelten, sehen die EPAs vor, dass die Europäische Union 83 Prozent ihrer Produkte zollfrei nach Afrika exportieren kann. Hinzu kommt, dass dies für die afrikanischen Staaten bis zu 2,3 Millarden Euro jährliche Einnahmeausfälle beim Zoll bedeuten dürfte, was ungefähr zwei Drittel der jährlichen Entwicklungshilfe aus Deutschland entspricht.

Ein weiteres Beispiel: Als den am höchsten verschuldeten Entwicklungsländern zwischen 1999 und 2004 im Rahmen eines hierzulande hoch gelobten Entschuldungsprogramms der Weltbank ihre Schulden erlassen wurden, war auch dies an strenge Auflagen gekoppelt. So wurde Ghana 2003 gezwungen, Einfuhrzölle gegen Dumping-Hühnerfleisch aus der EU zurückzunehmen, obwohl ghanaische Hühnchenzüchter hierdurch bereits erhebliche Marktanteile eingebüßt hatten. Gleichermaßen wurden die betreffenden Länder gezwungen, hochgradig investorenfreundliche Bergbaugesetze zu verabschieden. Konsequenz war, dass die internationalen Bergbaukonzerne kaum noch Steuern oder Abgaben abführen mussten. Konkreter: Während die afrikanische Bergbauindustrie in den 1990er Jahren durchschnittlich 5 Prozent Gewinn pro 1 Dollar Umsatz gemacht hat, ist dieser Wert bis 2008 auf 27 Prozent angewachsen. Entsprechend betragen die Steuern der Minenkonzerne in einem bitterarmen Land wie Mali gerade mal 10 Prozent ihrer Nettogewinne.

Doch nicht nur ökonomisch, auch politisch macht Europa seine Interessen immer wieder geltend – notfalls auch opportunistisch. Als etwa im Oktober 2014 in einem gewaltfreien Volksaufstand in Burkina Faso der langjährige Diktator Blaise Compaoré aus dem Amt gejagt wurde (vgl. S. 2), unterstützte die EU den anschließenden Übergangsprozess ohne Umschweife. Vergessen war, dass Compaoré bis zu seinem Sturz durch die EU als sogenannter Stabilitätsanker in Westafrika hofiert wurde. Vergessen war auch, dass Compaoré für den Mord an seinem Vorgänger Thomas Sankara verantwortlich gewesen ist, also jenem Politiker, der sich nicht zuletzt deshalb den geballten Zorn des Westens zugezogen hatte, weil er 1987 in seiner berühmten Rede vor der Organisation für Afrikanische Einheit die afrikanischen Staatschefs aufgefordert hatte, ihre Schuldenzahlungen einzustellen.

Gewiss, das Genannte stellt lediglich einen Ausschnitt dar. Dennoch dürfte deutlich geworden sein, wie abstrus die auf Malta erfolgte Ankündigung der EU gewesen ist, mit der läppischen Summe von 1,8 Milliarden Euro Fluchtursachen in Afrika bekämpfen zu wollen. Erforderlich wäre vielmehr, in einem ersten Schritt von all jenen Maßnahmen wie den (noch nicht ratifizierten) EPAs abzulassen, die so etwas wie eine eigenständige Entwicklung vieler afrikanischer Länder bereits im Keim ersticken. Hinzu kommt die Notwendigkeit umfassender materieller und finanzieller Unterstützung – im Übrigen auch als Entschädigung für Sklaverei, Kolonialismus, Strukturanpassungspolitik und Klimawandel.
Unbeschadet dessen ist die EU weiterhin für ihre Abschottungspolitik massiv zu kritisieren. Denn diese kann lediglich den menschlichen Preis nach oben treiben, nicht aber den Aufbruch immer neuer Flüchtlinge und Migrant_innen verhindern – jedenfalls nicht unter den aktuellen Rahmenbedingungen. Statt geschlossener Grenzen ist vielmehr Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, denn nur wenn Menschen sicher, kostengünstig und ohne erpresserischen Druck durch das Schlepperbusiness kommen und wieder gehen können, kann sich langfristig eine gute Balance zwischen Migration und selbstbestimmter Entwicklung herausbilden – ob als dauerhafte oder als Pendel-Migration.

Info: Anlässlich des Afrika-EU-Gipfels auf Malta haben wir einen offenen Brief an die afrikanischen Regierungen verfasst, u.a. mit der Forderung, Abschiebeabkommen nicht zuzustimmen: Vgl. www.afrique-europe-interact.net