"Mythos der Europäer:innen": Transnationale Debatte: Zirkuläre Migration statt EU-Grenzregime
Seit seiner Gründung ist Afrique-Europe-Interact auf unterschiedliche Weise entlang der Migrationsrouten aktiv. In diesem Sinne haben wir uns Anfang Dezember mit vier unserer Mitstreiter:innen zu einem (technisch mehr oder weniger gut funktionierenden) Live-Gespräch via Whatsapp getroffen. Ziel war es, einige der grundlegenden Fragestellungen rund um das Thema Migration zu diskutieren. Beteiligt waren Chehou Azizou, der in Agadez (Niger) als Koordinator des Alarmphone Sahara tätig ist, einem Unterstützungsprojekt für Migrant:innen, die die Wüste durchqueren; Laouel Taher, der zu den Streckenbeobachter:innen des Alarmphone Sahara gehört und in Bilma lebt, einer Kleinstadt mit 4.500 Einwohner:innen mitten in der nigrischen Wüste; Christie Niamien aus der Elfenbeinküste, die in der marokkanischen Hauptstadt Rabat im Baobab arbeitet, einem Rasthaus für geflüchtete Frauen und ihre Kinder; und Riadh Ben Ammar, der vor 20 Jahren von Tunesien nach Deutschland gekommen ist und heute als Theaterkünstler (? Infobox S. 4) und Mitglied der Initiative Sans VISA zwischen Deutschland und Tunesien pendelt.
Wenn ihr auf euer Engagement im Bereich Migration zurückblickt, was waren die markantesten Entwicklungen in den vergangenen Jahren?
Christie: Mich umtreibt die extrem verschlechterte Gesamtsituation für Migrant:innen in Marokko. Die Menschen sind noch isolierter als früher, nicht zuletzt durch Corona. Die Überfahrt nach Europa ist nahezu unmöglich geworden, auch die Bedingungen für den Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis haben sich deutlich verschärft, und es gibt immer mehr Razzien durch die Polizei. Viele Migrant:innen sind gezwungen, sich dauerhaft zu verstecken, die Stadt ist zu einer Wüste geworden. Besonders schrecklich war für mich der Tod von einigen Frauen mit ihren Kindern, die ich im Rasthaus persönlich kennengelernt hatte. Sie sind auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln ums Leben gekommen. All dies und der Wunsch, neue Ziele zu verfolgen, hat mich dazu gebracht, demnächst in meine Heimatland zurückzukehren.
Aziz: Mich beschäftigen vor allem die Massenabschiebungen aus Tunesien, Marokko und Algerien ins Niemandsland an der algerisch-nigrischen Grenze. Denn praktisch bedeutet das, dass Migrant:innen mitten in der Sahara ausgesetzt werden. Zudem hat Corona tausende Migrant:innen blockiert, ähnlich wie in Marokko. Viele von ihnen sind in Agadez gestrandet.
Taher: Die EU-Abschottungspolitik hat die Fahrten durch die Wüste gefährlicher gemacht. Erst jüngst haben wir Menschen angetroffen, die mit ihren Fahrzeugen verunglückt waren und die wir ins Krankenhaus nach Bilma gebracht haben. Auch konnten wir 33 Migrant:innen retten, deren Auto liegen geblieben war. Wir wurden von der gesamten Gemeinde Bilma für unsere Arbeit bejubelt, selbst auf nationaler Ebene erlangten wir eine gewisse Bekanntheit.
Riadh: Ich habe mich in den letzten zwei bis drei Jahren vor allem mit den negativen Auswirkungen der restriktiven EU-Grenzpolitik auf die nordafrikanischen Gesellschaften auseinandergesetzt.
Was machen die Menschen, die in Rabat oder Agadez blockiert sind?
Christie: Viele der Frauen haben verstanden, dass sie es nicht schaffen, über das Meer nach Europa zu kommen. Oft fehlen auch die finanziellen Mittel, weil der Kontakt zu dem schon bezahlten Schlepper verloren gegangen ist. Sie sehen dann keinen anderen Ausweg mehr, als sich bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM) für die sogenannte freiwillige Rückkehr zu registrieren. Wer das tut, muss allerdings unterschreiben, dass er oder sie Marokko nie wieder betreten wird. Ich kann daher keine finanzielle Unterstützung durch die IOM beantragen. Denn die Möglichkeit, nach Marokko zu reisen, ist für meine berufliche Zukunft als Händlerin äußerst wichtig.
Aziz: Ich denke auch, viele entscheiden sich zurückzukehren, um zu überleben, auch wenn eine Rückkehr oft als Schande empfunden wird. Denn Migration muss als kollektives Projekt betrachtet werden. Häufig ist die ganze Familie finanziell beteiligt, einige verkaufen sogar ihr Land.
Riadh: Genau das spielt auch in Europa eine große Rolle, weshalb die afrikanische Jugend in Europa bleibt. Früher hat man nur das Ticket für die Reise bezahlt und ist wieder zurückgegangen, wenn es keine Arbeit gab. Heute hingegen ist die Überfahrt nicht nur teuer, sondern auch lebensgefährlich.
Eine Öffnung der Grenzen würde den Menschen also eine problemlose Rückkehr und somit die zirkuläre Migration ermöglichen?
Riadh: Ja, es gibt viele Erfahrungen aus den 60er, 70er und 80er Jahren, in denen es ganz normal war, von Tunesien nach Europa zu reisen – auch ohne Visum. Damals haben nur wenige Menschen Tunesien dauerhaft verlassen.
Aziz: In Niger war es auch möglich, kurzfristig ein Hin- und Rückflugticket zu kaufen, um an einer Familien- oder Trauerfeier in Frankreich teilzunehmen.
Christie: Es ist falsch zu denken, Afrika sei arm und deshalb wollten die jungen Leute bei einer etwaigen Öffnung der Grenzen massenhaft nach Europa gehen und dort bleiben. Wirklich falsch! Die afrikanische Jugend verlässt ihre Länder nicht für immer. Sie will vielmehr Geld und Wissen sammeln, um damit zurückzukehren und etwas aufzubauen. Es geht ihnen darum, ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen. Ich denke, es wäre wichtig, die europäischen Politiker:innen für diese Perspektive zu sensibilisieren.
Jenseits der Abschottungspolitik versucht die EU, über Visavergabe die Migration zu steuern. Wie bewertet ihr das?
Christie: Wenn du einen Visumantrag stellst, laden sie dich ein und geben dir eine Liste mit Papieren, die du einreichen musst. Du erfüllst die Liste und in der letzten Minute lehnen sie deinen Antrag ohne Erklärung ab. Bevor ich nach Rabat ging, habe ich zweimal versucht, ein Visum für Frankreich von der Elfenbeinküste aus zu bekommen.
Riadh: Ohne Arbeit kein Visum. Dieser Zusammenhang ist ein großes Problem. Für viele junge Menschen in Nordafrika ist es nicht möglich nachzuweisen, dass sie ein Einkommen haben.
Christie: Wenn keine Visa erteilt werden, sind die Migrant:innen gezwungen, über das Meer zu reisen. Ich bin auch nicht gekommen, um in Marokko zu leben.
Riadh: Die meisten werden depressiv, wenn sie das Visum nicht bekommen. Sie sind sehr enttäuscht, denn die Antragsstellung ist mit vielen Träumen verbunden. Die Enttäuschung macht oft wütend und beeinflusst die Stimmung der Leute. Deswegen setzen wir uns für ein Ende der aktuellen Visapolitik ein.
Christie: Ich denke auch, dass die Visafrage ein stärkerer Teil unserer politischen Kampagnen sein sollte.
Wie wäre es, wenn die Migrationspolitik der EU nicht über Abschottung liefe, sondern über die Möglichkeit, via Warteliste ein Einreisevisum zu erhalten, je nach Qualifikation schneller oder langsamer?
Riadh: Ich bin gegen diese Programme, in denen gut ausgebildete junge Menschen nach Nordamerika oder Europa gehen. Denn so werden die Bestqualifizierten abgeworben, und darunter wiederum werden unsere eigenen Länder leiden.
Aziz: Wenn wir über ausgewählte oder selektive Migration sprechen, kann dies tatsächlich zu einem Brain Drain führen. Wir wären damit einverstanden, wenn Gebildete aus unseren Ländern die Möglichkeit zur Weiterqualifizierung in Europa bekämen. Aber sie sollten irgendwann zurückgehen und ihre Kenntnisse für unsere Verwaltung und Wirtschaft einsetzen.
Christie: Ich glaube nicht, dass Akademiker:innen in der Elfenbeinküste, die eine gute Arbeit oder ein eigenes Unternehmen haben, sich so einfach abwerben lassen. Das ist ein Mythos der Europäer:innen. Lediglich diejenigen, die aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Krisen keine Arbeit finden, wollen migrieren, aber nur um sich weiterzuentwickeln. Später möchten auch sie zu ihren Familien zurückkehren. Es wäre also gut, wenn die Menschen die Möglichkeit hätten, für konkrete Projekte nach Europa zu migrieren. Die europäische Politik sollte mehr dafür tun, dass Migrant:innen Zugang zu Arbeitsangeboten und Ausbildung in Europa bekommen.
Welche weiteren Maßnahmen würdet ihr vorschlagen, um dem Ziel einer Bewegungsfreiheit für alle näher zu kommen?
Riadh: Besonders in unserer Gesellschaft in Tunesien brauchen wir einen neuen Diskurs. Die Menschen müssen die EU-Außengrenze endlich als Problem verstehen und spüren, dass wir in einer Art Gefängnis leben. Wir müssen aufhören zu sagen, dass es normal ist, dass unsere Grenzen geschlossen sind und uns somit unsere historische Verbundenheit mit dem Mittelmeerraum genommen wird. Es braucht Druck, damit unsere nordafrikanischen Regierungen ihre Politik gegenüber der EU verändern. Denn der Anstoß zur Veränderung wird nicht von europäischer Seite kommen.
Aziz: Dazu gehört aber auch, dass wir die vorhandenen Reichtümer richtig verteilen. Wenn das der Fall ist, werden nur noch sehr wenige Menschen aus unserer Region Interesse daran haben, den Kontinent zu verlassen. Aktuell wird der lokalen Bevölkerung der Zugang zu den Bodenschätzen verwehrt, etwa zu den Goldminen. Diese Stätten sind hermetisch abgeriegelt, quasi wie innere Grenzen, während sich die großen internationalen Konzerne die Rohstoffe aneignen. Und zwar deshalb, weil unsere Regierungen wegschauen. Doch diese Regierungen wurden nicht gewählt, um ferngesteuert zu werden. Sie müssen vielmehr die versprochenen Ziele verfolgen, also das Elend und die fehlenden Perspektiven für junge Menschen überwinden. Anstatt unsere Sicherheitskräfte die Grenzen überwachen zu lassen, sollten wir junge Menschen für die Arbeit in den Minen ausbilden.
Christie: Aus meiner Sicht braucht es Nichtregierungsorganisationen, um junge Menschen in Afrika zu sensibilisieren, vor allem müssen sie richtig über die Gefahren der Meeresüberquerung informiert werden. Sie müssen wissen, auf was sie sich einlassen und wie schlecht ihre Chancen sind. Es gibt viele Menschen, die bis nach Rabat kommen und es dann bereuen. Ich kenne das selbst, ich hatte auch keine richtige Vorstellung vom Mittelmeer, als ich vor 11 Jahren aufgebrochen bin.
Riadh: Ich glaube nicht, dass Sensibilisierung dabei hilft, Leute von der Migration abzuhalten. Es gibt viele Programme, die darauf ausgerichtet sind, Menschen in der Heimat zu halten. Selbst wenn wir als Migrant:innen über die Situation in Europa berichten, werden sie uns nicht glauben. Wir müssen Bewegungsfreiheit für alle ermöglichen. Die Leute werden nur in ihren Heimatländern bleiben, wenn sie die Möglichkeit haben, frei zu reisen.
Taher: Genau, wir geben den Leuten verlässliche Informationen zur Durchquerung der Wüste, und wer weiterreisen will, hat die Freiheit, dies zu tun. Gleichzeitig bekommen wir hier viel Anerkennung für unserer Arbeit und wollen unsere Aktivitäten weiter ausbauen. Denn die Migration ist noch nicht vorbei. Jedes Mal, wenn wir auf den Routen unterwegs sind, finden wir Menschen, die sich verirrt haben. Und jedes Mal finden wir auch Leichen.
Wie sollten die vorhandenen Kräfte gebündelt werden, um die von euch benannten Ansätze und Forderungen für eine Verbesserung der Situation von Migrant:innen weiter voran zu bringen?
Riadh: In Nordafrika braucht es mehr gemeinsame Aktivitäten und Kontakte zwischen Migrant:innen aus Subsahara-Afrika und Nordafrikaner:innen. Denn Rassismus ist auch dort ein großes Problem. Zudem können wir die europäischen Grenzen nur verändern, wenn wir als Nordafrika und Subsahara-Afrika stärker zusammenrücken.
Christie: Mehr gemeinsame Proteste gegen Rassismus fände ich auch gut. Gerade, wenn man bedenkt, wie viele junge schwarze Menschen im Meer ihr Leben gelassen haben, insbesondere in den letzten Jahren.
Aziz: Wie Riadh sagt, gilt es die Kräfte der Organisationen zu bündeln, die sich für die Bewegungsfreiheit einsetzen. Wir sollten eine gemeinsame Sprache sprechen in unseren Aktionen. Und ganz konkret brauchen wir endlich einen ehrlichen Dialog zwischen Regierenden und Regierten, national und international. Denn die Meinungen unserer Bevölkerungen dürfen nicht weiter ignoriert werden.