Gerechtigkeitsgau in Glasgow: UN-Klimagipfel verzögert einmal mehr finanzielle Unterstützung für globalen Süden
Vieles spricht dafür, dass sich – im Vergleich zu 2010 – die weltweiten CO2-Emissionen bis 2030 um 13 Prozent erhöhen werden. Und das, obwohl eine Reduzierung um 45 Prozent nötig wäre, um die 2015 beim Weltklimagipfel in Paris vereinbarte Beschränkung der Erderhitzung auf 1,5 Grad tatsächlich erreichen zu können. Umso wichtiger ist es, dass beim jüngsten Weltklimagipfel in Glasgow diverse Beschlüsse gefällt wurden, die die Tür zum 1,5 Grad-Pfad zumindest einen Spalt breit offen halten. Gleichwohl wäre es irreführend, Glasgow als Erfolg zu präsentieren. Einmal mehr zeigte sich, dass die Interessen des globalen Südens wenig Gewicht haben – trotz der allgemein anerkannten Tatsache, wonach die arme Hälfte der Weltbevölkerung zwar am stärksten von der Klimakrise betroffen ist, gleichzeitig aber deutlich unter dem kritischen Schwellenwert von 2 Tonnen CO2-Verbrauch pro Person und Jahr bleibt.
An keiner Stelle ist die Missachtung des globalen Südens sichtbarer geworden als beim Umgang mit dem Themenkomplex Schäden und Verluste (“loss and demage”). Hiermit sind in der internationalen Klimadiplomatie Ausgleichszahlungen im Falle klimawandelbedingter Katastrophen gemeint. Die Problematik spitzt sich schon seit den späten 1960er Jahren zu. Im Rahmen von Afrique-Europe-Interact erleben wir das vor allem am Beispiel der Sahelländer: 2019 zeigten wir auf Seite 1 dieser Zeitung ein Bild des durch Starkregens überschwemmten Dorfes Marka Bassi in Mali. Die meisten Bewohner:innen hatten große Teile ihres Hab und Gut verloren, ohne dass sie irgendwelche Kompensationszahlungen erhalten hätten – außer einer geringfügigen Unterstützung durch Afrique-Europe-Interact, letztere jedoch nur für Mitglieder der bäuerlichen Basisgewerkschaft COPON, mit der wir seit 2014 eng zusammenarbeiten (? Interview S. 4). Hinzu kommt eine Verringerung der Ernteerträge (weil der Regen unregelmäßiger wird und die Böden ausgelaugter sind), ein Schwinden des Fischaufkommens (weil Flüsse weniger Wasser führen und Laichplätze verloren gehen) sowie ein Rückgang der Milch- und Fleischmenge bei Rindern (weil es zu wenig Futter und Wasser gibt und die Durchschnittstemperaturen steigen). Jenseits der materiellen Verluste bedeuten diese Entwicklungen auch Hunger und Unterernährung – ein körperlich und seelisch äußerst quälender Zustand, der in der europäischen Öffentlichkeit seit Jahrzehnten überwiegend achselzuckend zur Kenntnis genommen wird. Angesichts dieser Ausgangslage schien es folgerichtig, dass während der zweiwöchigen Klimaverhandlungen in Glasgow die Einrichtung eines Fonds für Schäden und Verluste intensiv diskutiert wurde. Doch am Ende blieb Ernüchterung: Die USA, die EU und Großbritannien zogen nicht mit, die Frage des Fonds wurde vertagt. Mit der Konsequenz, dass in den kommenden Jahren mehrere hundert Millionen Menschen im globalen Süden, die bereits heute von den Auswirkungen der Klimakrise betroffen sind, nur einen Bruchteil der Geldmittel erhalten, die für die 42.000 Geschädigten der Überschwemmungskatastrophe im Ahrtal (Rheinland-Pfalz) völlig zu Recht bereitgestellt wurden.
Um diese krasse Gerechtigkeitslücke zu begreifen, reicht es nicht, von der Arroganz der Mächtigen zu sprechen oder moralisch aufgeladene Schlagworte wie “Skandal” oder “Versagen” zu verwenden. Denn im Kern geht es um Rassismus: Für beträchtliche Teile der europäischen Gesellschaften spielen die Lebensumstände der Menschen im globalen Süden schlicht keine Rolle. Eine Haltung, die tief in der Geschichte von Sklaverei und Kolonialismus verwurzelt ist und die das Nord-Süd-Verhältnis bis heute maßgeblich prägt – auch im Migrationsbereich. Beispielsweise wenn es die EU bereitwillig hinnimmt, dass die von ihr finanzierte und ausgebildete libysche Küstenwache Migrant:innen in Booten stoppt und nach Libyen zurückbringt, wo viele in Lagern landen, die ein vertraulicher Bericht der deutschen Botschaft in Niger bereits 2017 als “KZ-ähnlich” bezeichnete (? Diskussion S. 2). Dies zeigt: Europa muss sich endlich seiner historischen Verantwortung stellen, unter anderem was seine maßgebliche Rolle bei der Entstehung der Klimakrise betrifft. Und das umfasst nicht nur Kompensationen für milliardenschwere Schäden und Verluste. Es geht auch um Anpassung, also darum, sich auf die veränderten Rahmenbedingungen einzustellen und sämtliche Gesellschaften Richtung Klimaneutralität zu transformieren. Schätzungen des UN-Umweltprogramms gehen davon aus, dass ab 2030 die nötigen Anpassungen im globalen Süden mindestens 300 Milliarden US-Dollar jährlich kosten werden.
In den Sahelländern betrifft Anpassung insbesondere die Landwirtschaft, wo weiterhin rund 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung tätig sind. Gerade im landwirtschaftlichen Bereich gibt es diverse Methoden aus dem agrarökologischen Spektrum, um die Bodenfruchtbarkeit wieder zu erhöhen oder Regenwasser zu speichern. Insbesondere Aufforstungsprogramme spielen eine wichtige Rolle, um die immer stärker werdende Wüstenbildung einzudämmen. Denn Bäume sind Alleskönner. Sie geben nicht nur Nahrung, Futter, Holz und Medizin, sie spenden auch Schatten und kühlen die Oberflächen. Sie führen dem Boden mittels Wurzeln und Blättern Nährstoffe zu, zudem festigen sie den Untergrund und speichern Wasser. Aus guten Gründen ist Aufforstung mittlerweile in aller Munde, vor allem das von der Afrikanischen Union koordinierte Projekt der grünen Mauer, die als 15 Kilometer breiter Baum- und Buschstreifen quer über den Kontinent verlaufen und eine Art Sperrriegel gegen das Vorrücken der Wüste bilden soll. Derartige Initiativen sind indessen nicht neu, vielmehr kennt die Bevölkerung auf dem afrikanischen Kontinent die Kraft der Bäume schon lange – auch in spiritueller Hinsicht (? S. 3). Am bekanntesten dürfte die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari Muta Maathai sein, die 1977 eine panafrikanische Bewegung zur Aufforstung gründete. Im Sahel hat sich insbesondere Thomas Sankara hervorgetan, der legendäre, 1987 ermordete Präsident von Burkina Faso. Kurz nach seinem Amtsantritt 1983 verkündete Sankara, dass jedes Dorf ein eigenes Wäldchen haben sollte. In gerade einmal 15 Monaten wurden in Burkina Faso 10 Millionen Bäume gepflanzt. Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass ein breites und lokal ausdifferenziertes Maßnahmenbündel zur Debatte steht, wenn es um Fragen von Klimagerechtigkeit geht – von der Schadensbeseitigung über die Anpassung bis hin zum Recht auf Bewegungsfreiheit für diejenigen, die in einer vom Klimawandel betroffenen Region nicht mehr bleiben können oder wollen.