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"Die Lage ist widersprüchlich": Interview: Alassane Dicko zur Gewalteskalation im Sahel

Wenn es um die Vielfachkrise in Mali geht, spitzt sich die Debatte in Deutschland immer wieder auf die Frage zu, ob sich die Bundeswehr weiterhin an der UN-Friedensmission MINUSMA sowie an verschiedenen Ausbildungsmissionen für malische Sicherheitskräfte beteiligen soll. Wir haben daher Alassane Dicko von der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact nach den politischen und sozialen Hintergründen der Gewalteskalation in Mali gefragt.

Nicht nur in Mali, auch in Burkina Faso und Niger ist das Konfliktgeschehen für Außenstehende schwer zu durchschauen. Gibt es bestimmte Problematiken, die überall eine wichtige Rolle spielen?
Ja, am wichtigsten dürfte die systematische Benachteiligung der Landbevölkerung sein – je weiter weg von der Hauptstadt, desto gravierender, insbesondere in den jeweiligen Grenzregionen. Oder anders formuliert: Die Freiheits- und Entwicklungsversprechen der Unabhängigkeitsepoche wurden zu keinem Zeitpunkt eingelöst. Die aktuellen Konflikte sind insofern auch Ausdruck eines gewissen Windes der Veränderung.

Was meinst du mit “Wind der Veränderung” und wie hängt das mit dem allgemeinen Konfliktgeschehen zusammen?
Die Menschen in den abgelegenen Gebieten bekommen den Staat vor allem dann zu Gesicht, wenn er Steuern eintreibt oder Wahlen abhält. In Notlagen oder bei Anschlägen bleibt er hingegen untätig, obwohl die Menschen dringend um Schutz vor den Angriffen radikaler Islamisten bzw. Dschihadisten bitten oder um Unterstützung bei Hungersnöten. Letztere haben auch damit zu tun, dass die Dschihadisten Dörfer belagern und so verhindern, dass die Bauern und Bäuerinnen ihre Felder bestellen. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Menschen immer wieder gegen ihre Regierungen gewehrt, doch sie wurden regelmäßig enttäuscht: Korruption, Veruntreuung, Gewalt, Straflosigkeit und klientelistische Verteilung von Verwaltungsposten gingen weiter. Und auch die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds während der Verschuldungskrise in den 1980er und 1990er Jahren haben tiefe Spuren hinterlassen. Umso wichtiger ist es, dass in jüngerer Zeit die Proteste wieder zunehmen. Vor allem junge Leute wollen sich nicht mehr mit der allgemeinen Situation abfinden, Aber leider äußern sich diese Proteste häufig gewalttätig. Denn insbesondere auf dem Land greifen Dschihadisten die Forderungen der Bevölkerung auf und suchen die Zusammenarbeit.

Das hört sich verwirrend an: Einerseits bittet die Bevölkerung den Staat um Schutz vor Dschihadisten, andererseits kooperiert sie mit ihnen…
In der Tat, die Lage ist widersprüchlich, das hat mit der Strategie dschihadistischer Gruppierungen zu tun: Sie bieten jungen Männern ein Gehalt und eine Art Aufstiegsgarantie an, indem sie zum “heiligen Krieg” gegen in- und ausländisches Militär sowie gegen lokale Repräsentant:innen des Staates aufrufen, darunter Politiker:innen, Angestellte des Staates, religiöse und traditionelle Führer etc. Doch dieses Angebot richtet sich vor allem an bestimmte Bevölkerungsgruppen, unter anderen die der Tuareg und Peulh. Beide sind stark in der Viehwirtschaft tätig und beide wurden in den letzten Jahrzehnten immer wieder benachteiligt – vor allem, indem Weideland ersatzlos in Ackerland umgewandelt wurde. Zugespitzter: Tuareg und Peulh verschaffen sich mit Hilfe von Dschihadisten eine bessere Position in der Konkurrenz um Land- und Wasserressourcen – zumindest die, die sich auf eine Zusammenarbeit einlassen. Gleichzeitig ziehen viele Menschen die von den Dschihadisten praktizierte Gerichtsbarkeit den staatlichen Gerichten vor, wo Bestechlichkeit der Richter:innen gang und gäbe ist.

Bedeutet letzteres, dass sich im Alltag der radikale Islam immer stärker durchzusetzen droht?
Ja, leider. Die dschihadistische Ideologie überschneidet sich mit etlichen antikolonialen und emanzipatorischen Ideen, das war schon zu Beginn der kolonialen Herrschaft im 19. Jahrhundert so. Sie stößt deshalb bei den ländlichen Massen und den jungen Arbeitslosen in den Städten auf großen Anklang. Vor allem auf dem Land fühlen sich die Menschen vom Staat im Stich gelassen und arrangieren sich deshalb mit den Dschihadisten. Das heißt, sie ordnen sich unter, um halbwegs unbehelligt weiterleben zu können – teils aus Überzeugung, teils aus Fatalismus.

Was müsste deines Erachtens geschehen, um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen?
Ich möchte mich auf drei kurze Antworten beschränken: Erstens müssen die Menschen auf regionaler Ebene stärker an der Regierung und Verwaltung beteiligt werden. Eine Dezentralisierung der Macht ist unumgänglich – diese darf nicht in der Hauptstadt gebündelt sein. Zweitens muss den dschihadistischen Gruppen militärisch Einhalt geboten werden, denn freiwillig werden diese das Feld nicht räumen. Und das wiederum wird nur mit Unterstützung ausländischer Truppen gehen, insbesondere der UN-Friedensmission MINUSMA. Drittens müssen die sozialen Basisdienstleistungen gestärkt werden, nur so kann der Staat bei der Bevölkerung Vertrauen gewinnen.

Ist das deine persönliche Überzeugung oder wird diese Position von vielen Menschen geteilt? Wir fragen, weil es in den letzten Jahren immer wieder heftige Proteste gegen ausländische Truppen gab.
Klar, die Meinungen sind gespalten. Doch die heftige Kritik betrifft fast ausschließlich das französische Militär, was auch mit der Geschichte des Kolonialismus zusammenhängt. Eine Beteiligung der UN-Friedensmission MINUSMA wird vor allem in ländlichen Gebieten gefordert. Nicht nur, damit die malische Armee gestärkt wird, sondern auch, um exzessive Gewalt und Menschenrechtsverletzungen durch die malische Armee zu verhindern.

Es wirkt eigenartig: Die malische Armee ist nicht sonderlich schlagkräftig, außerdem werden ihr regelmäßig Menschenrechtsverletzungen vorgehalten. Dennoch zeigen sich in Umfragen über 90 Prozent der Bevölkerung zufrieden mit der Armee. Woran liegt das?
In Mali wird die Armee als Symbol der nationalen Souveränität wahrgenommen. Außerdem hat sich die Armee historisch immer wieder auf die Seite der Bevölkerung geschlagen, vor allem 1991, als ein von der Armee unterstützter Volksaufstand die über 20-jährige Diktatur von Moussa Traoré beendet hat. Das ist auch der Grund, weshalb die letzten beiden Putsche 2020 und 2021 von großen Teilen der Bevölkerung begrüßt wurden – beide Male in der Hoffnung, dass sich endlich etwas ändern möge.

Und doch wird die aktuelle Übergangsregierung mit dem Militär Assimi Goïta an der Spitze stark kritisiert.
Richtig, die Bevölkerung ist nicht grundsätzlich gegen die Übergangsregierung, sie kritisiert aber, dass die Regierung ihre Hausaufgaben bislang nicht gemacht hat, während sich die Krise im Zentrum des Landes kontinuierlich zuspitzt. Es passt daher, dass sich insbesondere die wichtigen religiösen Führer immer größerer Beliebtheit erfreuen. Beispielsweise Chérif Ousmane Haidara, der Kopf einer Wohlfahrtsorganisation mit über zwei Millionen Mitgliedern. Er hat bereits Anfang 2021 angekündigt, dass für ihn und seine Bewegung nunmehr der Punkt gekommen sei, sich aktiv am Aufbau eines neuen Malis zu beteiligen. Dies zeigt: Die religiösen Akteure möchten zukünftig die erste Geige spielen – das finde ich besorgniserregend, auch als Muslim.