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Dezember 2020 | Turbulente Zeiten in Westafrika: Trotz Protesten wenig Aufbruch – alte Kräfteverhältnisse immer noch intakt

Umstrittene Wahlen in der Elfenbeinküste und Guinea, Putsch in Mali, Proteste gegen Polizeigewalt in Nigeria – diese keineswegs vollständige Liste zeigt, dass Westafrika derzeit turbulente Zeiten durchläuft. Große Teile der Bevölkerung stehen ökonomisch unter massivem Druck, zumal weitere Probleme die generelle Krise verschärfen, insbesondere die Corona-Pandemie, die Gewalteskalation im Sahel und Überschwemmungen im Zuge des Klimawandels.

Umso irreführender ist es, unter Verweis auf die vielfältigen Proteste und Konflikte von einer Aufbruchstimmung zu reden, wie es hierzulande häufig geschieht. Denn die Lage ist viel zu widersprüchlich: Erstens, weil in vielen Ländern die politischen und ökonomischen Machtverhältnisse keineswegs ins Wanken gekommen sind – trotz punktueller Verschiebungen wie der Entstehung einer gut ausgebildeten, aber schmalen Mittelschicht. Zweitens, weil sich Unzufriedenheit auch destruktiv äußern kann, etwa in stark zunehmendem Drogenkonsum, in Bandenwesen oder durch Mitgliedschaft in bewaffneten dschihadistischen Gruppen. Drittens, weil externe Kräfte positive Entwicklungen immer wieder blockieren. Hierzu gehören auch die EU und die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS. Wir möchten das an einigen Beispielen verdeutlichen, die unsere Arbeit im Laufe des Jahres geprägt haben:

Am 22. Februar 2020 fanden in Togo Präsidentschaftswahlen statt. Afrique-Europe-Interact hat den Wahlprozess intensiv beobachtet, auch mit einer europäischen Delegation vor Ort. Denn die Wahlen zeichneten sich durch einen besonderen Vorlauf aus: Zwischen 2017 und 2019 war es überall in Togo zu Massenprotesten gegen eine abermalige Kandidatur von Präsident Faure Gnassingbé gekommen. Der Amtsinhaber ist Teil einer Familiendynastie. Bereits sein Vater hat das Land von 1967 bis 2005 mit eiserner Hand regiert. Nach dessen Tod übernahm Faure Gnassingbé das Ruder. Bei Auseinandersetzungen nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen 2006 wurden über 800 Menschen von Sicherheitskräften getötet. Im Zuge der jüngsten Massenproteste wollte die ECOWAS vermitteln, kam allerdings nicht weit: Im Mai 2019 beschloss das Parlament, dass es nur noch zwei Amtszeiten geben sollte, wie es die bereits 2002 suspendierte Verfassung vorsieht. Doch das Parlament beschloss zusätzlich, dass die bisherigen drei Amtszeiten von Faure Gnassingbé nicht angerechnet werden. Ähnlich absurd der Wahlkampf: Nur die Partei des Präsidenten verfügte über die nötigen Mittel, um einen echten Wahlkampf zu bestreiten. Zudem wurden Schuldirektor:innen angewiesen, bei Wahlkampfauftritten des Präsidenten die Schüler:innen zu den Versammlungsorten zu lotsen, um dem Präsidenten einen „warmen Empfang“ zu bereiten. Die Wahlen selbst waren von zahlreichen Unregelmäßigkeiten begleitet, wie die Friedrich-Ebert-Stiftung berichtet. Dennoch sprach die ECOWAS von fairen Wahlen, obwohl nur 280 von 9000 Wahllokalen beobachtet wurden. Ähnlich die deutsche Bundesregierung: Sie gratulierte dem alten und neuen Präsidenten, der bereits in der ersten Runde mit offenkundig gefälschten 72,4 Prozent die Wahlen gewonnen haben soll. Eine Geste, mit der die Bundesregierung zugleich eine Überzeugung kassierte, die sie gegenüber Afrique-Europe-Interact in einem Brief am 14. Februar 2020 formuliert hatte. Danach sei eine „detaillierte Veröffentlichung der Wahlergebnisse“ eine demokratische Selbstverständlichkeit. Doch genau dies ist nicht erfolgt: Statt aufgeschlüsselt nach Wahlbezirken wurden die Wahlergebnisse lediglich pauschal bekannt gegeben.

Die Bewohner:innen des Dorfes Tikerre Moussa in Mali fordern Land- und Weideflächen (2016). Bis heute kommen die Interessen der Landbevölkerung in Westafrika zu kurz   [Foto: Dorette Führer]

Die Bewohner:innen des Dorfes Tikerre Moussa in Mali fordern Land- und Weideflächen (2016). Bis heute kommen die Interessen der Landbevölkerung in Westafrika zu kurz [Foto: Dorette Führer]

Völlig anders fielen die Reaktionen aus, als am 19. August 2020 malische Militärs nach monatelangen Massenprotesten den ungeliebten Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita stürzten. Putsche haben in Westafrika eine unheilvolle Tradition, auch Mali wurde 1968 bis 1991 von einer Militärjunta im zivilen Mäntelchen regiert. Vor diesem Hintergrund war es durchaus konsequent, dass die ECOWAS den Putsch als Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung verurteilte und Sanktionen verhängte. Und doch war dieser Schritt politisch nicht nachvollziehbar. Denn 86 Prozent der Bevölkerung haben bei einer Umfrage im April erklärt, dass sich das Land in eine falsche Richtung entwickeln würde. Entsprechend stieß der Putsch in der Bevölkerung auf breite Zustimmung, was auch in westlichen Medien aufmerksam registriert wurde. Doch die ECOWAS lockerte die Sanktionen erst, nachdem die Putschisten Zugeständnisse in Punkto Übergangsregierung gemacht hatten – eine Haltung, die seitens der EU ausdrücklich unterstützt wurde.
Am 31. Oktober 2020 zeigte sich ein drittes Szenario. An diesem Tag wurde in der Elfenbeinküste Alassane Ouattara zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt. Ähnlich wie Gnassingbé in Togo hatte sich Ouattara die Option auf eine dritte Amtszeit mit einem juristischen Winkelzug erschlichen. Er argumentierte, dass durch eine 2016 erfolgte Verfassungsreform seine bisherigen Amtszeiten verfallen seien. Vieles spricht dafür, dass dies kein von langer Hand geplanter Coup war. Als freilich im Juli der Präsidentschaftskandidat von Ouattaras Partei überraschend starb, griff Ouattara zu, angeblich, weil kein anderer Kandidat zur Verfügung stand. Die Opposition reagierte mit einem Boykott der Präsidentschaftswahlen. Doch international wurde die Wahl Ouattaras achselzuckend anerkannt, obwohl ihr ganz offensichtlich ein Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung vorausgegangen war.

Für die Menschen in Westafrika sind Interessenpolitik und Doppelstandards nicht neu, wobei zwei Ebenen unterschieden werden sollten. Innerhalb der westafrikanischen Länder geht es in aller Regel um Macht und Einfluss. Denn Korruption und Vetternwirtschaft sorgen dafür, dass politische Ämter häufig als Sprungbrett für materiellen Wohlstand fungieren. Und das wiederum ist der Grund, weshalb die ECOWAS vielerorts als eine „Gewerkschaft der Präsidenten“ wahrgenommen wird. Demgegenüber lassen sich europäische Interessen nicht auf einen Nenner bringen. Hier geht es um Migrationspolitik, islamistischen Terror, Rohstoffe, Absatzmärkte oder einfach nur darum, dass einzelne Staaten als Stabilitätsanker im westlichen Sinne gelten – etwa die Elfenbeinküste unter dem Ex-IWF-Manager Ouattara. Angesichts solcher Vorgehensweisen dürfte einmal mehr deutlich werden, wie wichtig es ist, endlich die Interessen der breiten Bevölkerungsmehrheit ins Zentrum zu rücken und somit jene Bewegungen zu fördern, die wirklich für einen Neuanfang stehen. Etwa 2014 in Burkina Faso, als eine maßgeblich von Musiker:innen, Frauen und Jugendlichen getragene Protestbewegung den langjährigen Diktator Blaise Compaoré weitgehend gewaltfrei stürzte.