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Januar 2016 | „Ist das die Grenze, die wir wollen?“

Marokko hindert Asylsuchende daran, Europa zu erreichen – und lässt sich dafür von der EU bezahlen. Von Martin Klingst. Quelle: Zeit Online (23.01.2016)

Rund hundert junge afrikanische Männer rennen auf einen Zaun zu. Sie wollen drei Metallgitter überwinden, die dicht hintereinanderliegen. Noch bevor sie das erste erreichen, stehen ihnen schlagstockschwingende Polizisten der marokkanischen Forces Auxiliaires im Weg. Für zwei, drei Dutzend der jungen Männer ist die Flucht bereits hier zu Ende. Die übrigen hasten weiter, nur die kräftigsten gewinnen diesen Wettlauf. Bloß eine Minute bleibt für den „Sprung über den Zaun„, wie man hier sagt. Spätestens dann ist auf der anderen Seite die paramilitärische spanische Guardia Civil aufmarschiert. Ihre Seite gehört schon zu Europa.

Melilla ist ein historisches Kuriosum. Obwohl auf afrikanischem Boden gelegen, gehört die Mittelmeerstadt wie der 300 Kilometer entfernte Ort Ceuta seit einem halben Jahrtausend zu Spanien. Wer es aus Marokko hierher schafft, ist in Europa angekommen. Und nach Europa wollen viele Flüchtlinge. Darum hat Spanien hohe Schutzwälle um diese Städte gezogen und weist alle, die sie zu überwinden versuchen und dabei erwischt werden, mithilfe des marokkanischen Regimes zurück.

Der erste und der dritte Zaun sind sechs Meter hoch, der mittlere misst die Hälfte. Dazwischen verläuft ein dreidimensionales Drahtgeflecht. Wer da hineinrutscht, verfängt sich mit Armen und Beinen. Auf einigen Zaunspitzen liegt außerdem ein messerscharfer Natodraht, an dem sich Flüchtlinge immer wieder schwer verletzen, manchmal sogar lebensgefährlich. Über das erste und dritte Gitter spannten die Spanier zudem ein engmaschiges Stahlnetz. Die Löcher sind so klein, dass die Finger nicht hineingreifen und Halt finden können. Wer hinüberklettern will, muss sich Metallhaken ums Handgelenk binden und Schrauben in die Schuhsohlen drehen.

Wachtürme überall. Mit ihren Kameras kann die Guardia Civil bis zu sieben Kilometer in das marokkanische Gebiet hineinschauen, Bewegungsmelder schlagen Alarm, eine Direktleitung verbindet die Meldezentrale mit der marokkanischen Polizei. Gerade fünf Flüchtlinge schaffen es an diesem Novembertag hinüber nach Melilla. Vier von ihnen nur, weil sie sich am Zaun verletzt haben und vom Roten Kreuz ins Krankenhaus gebracht werden. Alle anderen bleiben im Stahlgeflecht zwischen Afrika und Europa hängen.

Gemeinsam zerren spanische und marokkanische Polizisten die Flüchtlinge von den Gittern und eskortieren sie durch kleine Türen im Maschendraht zurück auf marokkanisches Gebiet. Dort warten bereits Busse, die sie an einen unbekannten Ort bringen. Menschenrechtsorganisationen wie Prodein aus Melilla berichten, die marokkanische Polizei misshandele die Flüchtlinge „zu Abschreckungszwecken“ und setze sie in unwegsamem Gelände aus.

Bis zum dritten Zaun dringt nur eine Handvoll Afrikaner vor. Qualvolle zehn Stunden klammern sich die Flüchtlinge am Maschendraht fest. Dann geben auch sie auf und werden unverzüglich abgeschoben. „Por favor“, bitte, bitte, rufen sie immer wieder und zeigen auf ein Haus, nur wenige Hundert Meter entfernt, direkt neben dem Golfplatz von Melilla. Es ist die Flüchtlingsnotunterkunft Ceti. Doch die Polizisten der Guardia Civil schütteln den Kopf. Der Weg über den Zaun sei illegal, rufen sie zurück.

„Unmenschlich“ nennt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International das spanisch-marokkanische Grenzregime, sie spricht von „heißen Abschiebungen“ und sagt, diese seien absolut rechtswidrig. Denn der Zaun stehe auf spanischem Gebiet, Flüchtlinge müssten dort folglich um Asyl bitten können. Spanien muss sich deshalb vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg verantworten.

Ein „schmutziger Deal unter Nachbarn“

„Heiße Abschiebungen? Alles Lüge“, sagt der örtliche Chef der Guardia Civil, Coronel Ambrosio Villaseñor, dazu, „ohne eine harte Hand würde Europa von Afrikanern überrannt.“ Zum Beweis zieht er in seinem Büro einen Zettel mit Zahlen aus der Schublade: Jahr für Jahr versuchen mindestens 20.000 Afrikaner, über die Gitter nach Melilla zu flüchten. Im Jahr 2014 gelang dies noch 2.000, im Jahr darauf nicht einmal mehr 200.

„Hart, aber effektiv“ sei das Grenzregime, sagt Coronel Villaseñor. Hinter ihm an der Wand hängen sechs Säbel, ein Holzkreuz und die spanische Flagge. Sein Land, sagt Villaseñor, halte alle humanitären Verpflichtungen ein. In Spanien seien die Flüchtlinge erst, wenn sie auch an den Wachen am letzten Gitter vorbeigekommen seien. Erst dahinter beginne Europa. Menschenrechtsverbände nennen das eine „Kaugummigrenze“, deren einziger Zweck es sei, Afrikanern einen Asylantrag zu verwehren.

„Papperlapapp“, sagt Villaseñor, wer Asyl wünsche, müsse nicht über Gitter klettern, er könne sich schließlich am offiziellen und nur wenige Kilometer entfernten Grenzübergang Beni Enzar melden. „Die Syrer und Iraker tun es doch auch.“ Das beweise: „Die Schwarzen sind keine Flüchtlinge, die suchen nur Arbeit.“

Allerdings: Seit Ende 2014 stellten zwar 8.000 Syrer und Iraker einen offiziellen Asylantrag, aber kein einziger Afrikaner. Amnesty und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sagen, auf Wunsch Madrids fange die marokkanische Polizei die Afrikaner schon vorher ab.

Hassan S., der seinen vollen Namen nicht nennen will, kam auf dem offiziellen Weg nach Melilla. Ende 2012 floh der schmächtige Lkw-Fahrer mit seiner Frau und den zwei Kindern aus der syrischen Stadt Rakka. Sie irrten durch die Türkei, dann durch Algerien, bis Verwandte ihnen erzählten, dass der Zaun von Melilla für Syrer und Iraker durchlässig geworden sei. Das UNHCR hatte der Regierung in Madrid Druck gemacht. Im Dezember 2014 wurde zum ersten Mal am Grenzübergang Beni Enzar ein sogenannter Asylpunkt in Betrieb genommen.

Der 28-jährige Hassan ist voll des Lobes für die Spanier. Beamte der spanischen Policía Nacional hätten ihn freundlich in Empfang genommen, nur eine knappe Stunde seien er und seine Frau befragt worden, ein Dolmetscher und ein Anwalt hätten ihnen zur Seite gestanden. Das Innenministerium in Madrid hat ihm gerade bestätigt, dass er nun offiziell ein Asylbewerber sei und darum aufs spanische Festland dürfe.

Das ist der eine, der erfreuliche Teil seiner Geschichte. Der andere, der unmenschliche, spielte auf der marokkanischen Seite des Zauns.

Drei Anläufe brauchte Hassan S., um nach Melilla zu kommen. Das erste Mal ließen ihn die marokkanischen Polizisten nicht durch. Als er protestierte, zogen sie ihre Schlagstöcke und versetzten ihm einen kräftigen Tritt. Beim zweiten Mal tat er, was fast alle syrischen Flüchtlinge tun: Er besorgte sich für je 400 Euro zwei Meldeausweise eines marokkanischen Ehepaars, das in einem Dorf an der Grenze lebt. Mit solchen Dokumenten betreiben Marokkaner einen einträglichen Handel, denn sie berechtigen zur Einreise nach Melilla.

Doch wieder schickten ihn die Forces Auxiliaires zurück. Beim dritten Mal nahmen sie ihm seine Kinder weg und gaben sie erst frei, nachdem Hassan S. 2.000 Euro auf den Tisch gelegt hatte. „Die Spanier sind gut, die Marokkaner sind schlecht“, sagt Hassan S.

Was er nicht weiß: Die „guten Spanier“ bezahlen den Nachbarn sehr viel Geld dafür, dass sie die „Bösen“ spielen. Nicht nur halten die Marokkaner ihnen die Afrikaner vom Hals, sondern sie sorgen auch dafür, dass pro Tag höchstens 30 bis 40 Syrer und Iraker beim Asylposten vorsprechen – exakt so viele, wie die paar spanischen Beamten bewältigen können. Auf Drängen Madrids greift auch die EU für Marokkos Türsteherdienste in die Tasche. Amnesty schreibt in seinem Bericht, Brüssel habe der Regierung in Rabat fürs „Grenzmanagement“ zwischen 2003 und 2010 ein Darlehen von knapp 68 Millionen Euro gewährt. Außerdem hat die EU mit Marokko ein Assoziationsabkommen geschlossen und verhandelt seit fast drei Jahren ein umfassendes Freihandelsabkommen. Als Dank setzte Marokko im vergangenen Jahr vor die drei spanischen Metallgitter einen eigenen mit Stacheldraht bewehrten Zaun und zog einen tiefen Graben. Einen „schmutzigen Deal unter Nachbarn“ nennt das José Palazón, Chef der Menschenrechtsorganisation Prodeín. „Die Marokkaner machen für uns die Drecksarbeit, und wir waschen unsere Hände in Unschuld.“

Wie Hassan S. darf auch Jacques aus Mali demnächst aufs spanische Festland, wie der Syrer floh auch er vor mordenden Islamisten. Nur ist Hassan weiß und Jacques schwarz, und die Hautfarbe entscheidet darüber, ob ein Flüchtling legal oder nur illegal nach Melilla gelangt.

Es ist kalt, Jacques hat auf dem Platz vor der Flüchtlingsunterkunft Ceti ein kleines Feuer entfacht. Der Afrikaner ist eine rare Erscheinung hier, einer von gerade einmal 90 schwarzen Asylbewerbern unter insgesamt 2.000 Flüchtlingen. Vor nicht langer Zeit war es genau umgekehrt. Die Notunterkunft wurde eigens für Afrikaner eingerichtet, denn für sie waren die spanischen Städte Melilla und Ceuta das Tor nach Europa. Jacques will nicht verraten, wie er es nach Melilla geschafft hat. Dabei gibt es für Schwarze nur zwei Wege: Entweder verstecken sie sich in einem der rund 5.000 Autos, die täglich die einzige Landgrenze zwischen Afrika und Europa überqueren und nicht alle kontrolliert werden können. Oder sie versuchen es über den Zaun.

Jacques erzählt, dass er vor einigen Wochen ganz offiziell zum Asylposten in Beni Enzar habe gehen wollen. Doch schon viele Hundert Meter vorher hätten ihn marokkanische Polizisten aus der Masse der Grenzüberquerer herausgefischt. „Neger erkennen wir auch bei Nacht“, hätten sie gesagt, gelacht und ihn grün und blau geschlagen. Sein ganzes Bargeld und selbst die goldene Halskette habe er abgeben müssen.

„Afrikas Flüchtlinge sind ein Faustpfand, auf das Marokko niemals verzichten wird“, sagt ein marokkanischer Menschenrechtsaktivist, der aus Angst vor Repressalien seinen Namen nicht nennen will. Er lebt unweit vom Zaun in der Stadt Nador, aus der etliche junge Marokkaner kommen, die derzeit in Deutschland Zuflucht suchen. „Woher auch immer die Flüchtlinge stammen – sie sind ein Druckmittel und bringen viel Geld in die Staatskasse.“

In Madrider Regierungskreisen wird eine Geschichte vom August 2014 kolportiert. Damals, heißt es, brachte die Guardia Civil in der Straße von Gibraltar eine Hochseejacht auf. In ihr saß Marokkos König, was peinlicherweise keinem spanischen Polizisten aufgefallen war. Seine Majestät Mohammed VI. war außer sich. Wie auf Befehl setzten wenige Tage später 1.500 Flüchtlinge von Marokko aus in Booten nach Spanien über. Auch der Zaun von Melilla wurde bestürmt. Die marokkanischen Ordnungskräfte schritten diesmal nicht ein.