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Juli 2013 | In den Augen der Anderen

Die transnationale Debatte über die Krise in Mali

Erschienen in: IZ3W, Ausgabe 337, Juli/August 2013)

Ob Tuaregaufstand, Putsch oder französische Militärintervention, immer wieder haben sich malische Basisbewegungen in den vergangenen anderthalb Jahren auf eine Weise politisch verortet, die unter europäischen AktivistInnen für ungläubiges Staunen oder handfeste Kritik gesorgt hat. Es liegt daher nahe, die diesbezüglichen (umständehalber nur selten ausdiskutierten) Differenzen etwas genauer zu betrachten. Denn letztlich geht es um unterschiedliche Positioniertheiten im globalen Macht- und Ausbeutungsgefüge und somit die grundlegende Frage, wie unter der Voraussetzung gänzlich unterschiedlicher Erfahrungshorizonte transnationale Gemeinsamkeiten herausgebildet werden können – und zwar jenseits eurozentristisch aufgeladener Projektionen oder Hegemonieansprüche. Als Bezugspunkt sollen dabei die Erfahrungen des Autors im transnationalen Netzwerk Afrique-Europe-Interact fungieren, darunter zwei Delegationsreisen nach Mali im Laufe des vergangenen Jahres.

Komplexer Norden
Es begann mit dem Tuareg-Aufstand der MNLA („Mouvement National de Libération de L'Azawad.“) im Januar 2012. Denn dieser stieß nicht nur hierzulande auf breites Verständnis, ablesbar unter anderem daran, dass urplötzlich verschiedenste KommentatorInnen von einer besonders starken Diskriminierung der Tuareg in Mali zu berichten wussten. Gleichwohl differenzierte sich das Bild im Zuge intensivierter Berichterstattung vergleichsweise rasch aus, wobei malische AktivistInnen vor allem drei Aspekte immer wieder hervorgehoben haben: Erstens, dass die Tuareg bzw. Kel Tamaschek (wie sie sich selber nennen) gerade mal ein Drittel der gesamten Bevölkerung des Nordens ausmachen würden. Zweitens, dass alle anderen Gruppen in der Region zwar massive Kritik an der Zentralregierung in Bamako üben, sich ansonsten aber als Teil der malischen Gesellschaft begreifen würden. Drittens, dass der jüngste Aufstand anders als die großen Rebellionen in den 1960er und 1990er Jahren nur bei einer kleinen Minderheit der Kel Tamaschek Unterstützung gefunden hätte. Ergebnis war also, dass sich auf der Basis dieser und weiterer Informationen nicht nur die projektiv aufgeladene Zwangsvergemeinschaftung der äußerst heterogenen Kel Tamaschek-Clans zu einem so genannten Tuareg-Volk mit vermeintlich ähnlicher Interessenlage erledigt hatte. Auch das als Legitimationsfolie dienende krypto-nationalistische Konstrukt einer sprachlich und kulturell homogen besiedelten Region wurde ad Absurdum geführt – genauso wie die von der MNLA erst in einem zweiten Schritt offensiv ins Spiel gebrachte Behauptung eines vielfältig zusammengesetzten „Volks des Azwad“, das im Norden Malis gemeinsam auf staatliche Unabhängigkeit drängen würde.

Zentralregierung am Pranger
Bemerkenswert war nun, dass in Bamako im März 2013 von etwaiger Stimmungsmache gegenüber „hellhäutigen“ Kel Tamaschek kaum etwas zu spüren war – anders als von der internationalen Medienberichterstattung nahegelegt. Selbst die populistisch und despektierlich anmutende Bezeichnung der MNLA-Rebellen als „Banditen“ hatte sich gegenüber 2012 merklich abgeschwächt – bei aller Kritik an der hochgradig partikularistischen Interessenpolitik der MNLA. Vorherrschend war stattdessen die Warnung vor einem so genannten „Amalgam“, das heißt der Ineinssetzung von Rebellen, islamistischen Milizionären und Drogenhändlern mit Kel Tamaschek oder arabischstämmiger Bevölkerung. Dementsprechend hoben Vertriebene aus dem Norden bei Gesprächen vor allem zweierlei hervor: Einerseits, dass sich der gesamte Norden schon seit jeher aus unterschiedlichsten Gruppen zusammensetzt habe und insofern ausschließlich aus Minderheiten bestünde. Andererseits, dass das Zusammenleben auf der lokalen Ebene seit dem Friedensabschluss zwischen Tuareg-Rebellen und malischer Zentralregierung im Jahre 1996 halbwegs spannungsfrei verlaufen sei. Das eigentliche Problem sei demgegenüber die korrupte Zentralregierung in Bamako, die durch Misswirtschaft sowie Beteiligung an Schmuggelgeschäften den gesamten Norden in den Abgrund getrieben und dabei auch die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gezielt gegeneinander ausgespielt habe. Erforderlich sei deshalb, so die generelle Devise, ein neuer „sozialer Vertrag“ zwischen sämtlichen Bevölkerungsgruppen und der politische-institutionellen Sphäre als solcher. Spätestens vor diesem Hintergrund dürfte auch verständlich werden, weshalb viele wütend auf die Rede eines vermeintlichen Nord-Süd-Konflikts reagieren, mit dem nunmehr die vor allem von Frankreich forcierte Stationierung von Blauhelmsoldaten gerechtfertigt wird. Und auch die Art und Weise, wie die Menschenrechtsverletzungen der malischen Armee thematisiert werden, gilt als fragwürdig und ungerecht. Denn nur die wenigsten streiten die Vorkommnisse ab, allerdings heißt es, dass jene keineswegs mit klammheimlicher Zustimmung der Bevölkerung erfolgt seien. Vielmehr handele es sich um Racheaktionen schlecht ausgebildeter Soldaten bzw. punktuelle Eskalationen unter Beteiligung lokaler Mobs kurz nach der Vertreibung der Islamisten. Zudem wird ein doppelter Standard angeprangert: Während die massiven Zerstörungen, Plünderungen und Vergewaltigungen der MNLA zu Beginn des Aufstands außerhalb Malis kaum Beachtung gefunden hätten, würde nunmehr alle Welt von den Übergriffen sprechen und obendrein große Teile der Bevölkerung unter den Generalverdacht des umgekehrten Rassismus stellen.

Putsch mit Zustimmung
Eine ebenfalls tiefgreifende Zäsur im Prozess der aktuellen Krise war der von niedrigen Rängen der Armee zusammen mit Soldatenmüttern und frauen initierte Putsch am 22. März 2012. Denn dieser erfreute sich von Anfang großer Unterstützung seitens der Bevölkerung. Entsprechend machte auch hierzulande der aus der malischen Debattenlandschaft stammende Begriff der „Fassadendemokratie“ rasch die Runde, wonach in Mali zwar Meinungs, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit weitgehend garantiert seien, der gesamtgesellschaftliche Kuchen aber dennoch unter einer extrem schmalen Elite kartellartig aufgeteilt würde. Es überraschte insofern auch nicht, dass im März 2013 in Bamako unter durchschnittlichen MalierInnen schlicht und ergreifend niemand anzutreffen war, der den Putsch ernsthaft abgelehnt hätte. Selbst diejenigen, die ausdrücklich betonten, dass ein Putsch aus prinzipiellen Gründen einen Anschlag auf die Idee der Demokratie darstelle, formulierten die Einschätzung, dass die Absetzung des langjährigen Präsidenten Amadou Toumani Touré den Staat buchstäblich vor einer weiteren Monopolisierung und Zerstörung durch die alte politische Klasse gerettet habe. Um so empörter zeigten sich viele darüber, dass im Zuge der Militärintervention und des bis heute gültigen Ausnahmezustandes die politische Auseinandersetzung über den zukünftigen Weg Malis quasi über Nacht still gestellt wurde. Dabei hat insbesondere der frühe Wahltermin für lautstarke Kritik gesorgt, nicht zuletzt dessen erpresserische Koppelung an die Wiederaufnahme der Entwicklungshilfe. Denn je früher gewählt würde – und darin sind sich alle einig, desto stärker spiele dies den alten Eliten in die Hände. Einfach deshalb, weil die etablierten Akteure als einzige in der Lage seien, ohne längeren Vorlauf eigene KandidatInnen aufzustellen. Das aber zeigt, wie abstrus der Umstand ist, dass der Putsch auch hierzulande immer wieder verdammt oder bestenfalls mit spitzen Fingern angefasst wurde, selbst innerhalb linker Kreise. Denn malische BasisaktivistInnen lassen keinen Zweifel daran, dass die viel beschworene Demokratie in Mali ein Luftschluss ist – einzig errichtet, um die Willfährigkeit des malischen Staats bei der Umsetzung sämtlicher IWF-Strukturanpassungsprogramme seit den frühen 1990er Jahren weichzuzeichnen.

Intervention als Notnagel
Am weitesten klafften indessen die Positionen angesichts der französischen Militärintervention auseinander. Denn das französische Eingreifen wurde von der erdrückenden Mehrheit der sozialen Bewegungsakteure in Mali begrüßt oder zumindest als notwendiges Übel in Kauf genommen. Hintergrund war, dass eine Intervention mit neokolonialem Interessenmix (Sicherung der französischen Vormachtstellung in Westafrika, Uran im Niger, Rohstoffe in Mali, Sorge vor einem islamistischem Rückzugsgebiet etc.) als halbwegs kalkulierbares Übel erschien, während ein erfolgreicher Vorstoß der Islamisten Richtung Bamako nicht nur zu einer weiteren Destablisierung des Landes geführt, sondern auch einer schleichenden Unterwanderung der Gesellschaft durch islamistische Kräfte massiv Vorschub geleistet hätte. Hinzu kam, dass das Eskalationsrisiko als relativ gering erachtet wurde, da die Islamisten in der Bevölkerung – anders etwa als in Afghanistan 2001 – regelrecht verhasst seien. Inwieweit diese Einschätzungen richtig sind, sei dahingestellt. Fakt ist jedoch, dass sie sich aus einer von vielen als existentiell erlebten Bedrohungslage ergeben haben. Und Fakt ist auch, dass es sämtliche MalierInnen vorgezogen hätten, ihr Recht auf Selbstverteidigung in Gestalt einer eigenen Armee eigenständig wahrnehmen zu können, was auch die in vielfacher Hinsicht skurril anmutenden Konsequenz nach sich gezogen hat, dass selbst ärmste Marktfrauen Spendenaufrufen für die malische Armee bereitwillig gefolgt sind. Und doch hat all dies die insbesondere von antimilitaristischen AktivistInnen hierzulande artikulierte Kritik nicht relativieren können, wonach eine derartige Positionierung zukünftigen Interventionen des Westens den Boden bereiten und zudem das Risiko einer langfristigen Eskalation im Saharagürtel sträflich unterschätzen würde.

Grundsätzlich dürfte keine Zweifel daran bestehen, dass kritische Rückfragen zum Einmaleins transnationaler Organisierung gehören. Gleichwohl machten etliche der hierzulande formulierten Einschätzungen zu Mali den Eindruck, von westlichen, teils auch eurozentristischen Sichtweisen imprägniert zu sein: So kamen im Fall der Tel Kamaschek längst überwunden geglaubte Romantisierungen einer zur indigenen Minderheit erklärten Gruppe zum Vorschein. Beim Putsch schien es vielen sichtlich schwer zu fallen, den genuin demokratischen Charakter einer ökonomisch und politisch motivierten Machtaneignung von unten ernst zu nehmen. Und in der Debatte um die Militärintervention irritierten weniger die Positionen an sich als vielmehr die Weigerung, die eigene Lesart in Tuchfühlung mit denen zu bringen, die unmittelbar in einer Konfliktsituation stecken und nach realitätstauglichen Kompromissen suchen. So betrachtet hat das Beispiel Mali einmal mehr in Erinnerung gerufen, dass Voraussetzung für die Herausbildung gemeinsamer Perspektiven zwischen südlichen und nördlichen AktivistInnen die Bereitschaft aller Beteiligten ist, die eigenen Positionen auf den Prüfstand der jeweils anderen Seite stellen zu lassen.

Olaf Bernau ist mit NoLager Bremen aktiv bei Afrique-Europe-Interact

Literatur: Auf www.afrique-europe-interact.net findet sich eine umfängliche Sammlung von Artikeln, Studien und Stellungnahmen zur aktuellen Krise in Mali – inklusive Hinweisen auf die politischen Aktivitäten der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact