Eine diktierte Wahl Mali nach dem Krieg
Es droht die Restaurierung der alten Fassaden-Demokratie
Von Charlotte Wiedemann, in: Wochenzeitung, Zürich April 2013
Wohin treibt Mali? Präziser gefragt: Wohin wird ein Land getrieben, das auf der Weltkarte des Antiterrorismus neuerdings „vor Europas Haustür“ liegt? Den Krieg auf ihrem Territorium haben die meisten Malier und Malierinnen in der Rolle von Zuschauern erlebt; nun wird eine Nachkriegs-Ordnung über ihre Köpfe hinweg entworfen. Deren erste Pfeiler: Eine dauerhafte Stationierung von Blauhelmen im Land und eine rasche Präsidenten-Wahl, noch im Staub des Krieges.
Die tatsächlichen Bedürfnisse des Landes zählen dabei wenig, nicht einmal seine agrarischen Zyklen. Wahltermin soll der 7. Juli sein – kein Sahelstaat legt freiwillig ein solches Ereignis auf den Beginn der Regenzeit, wenn das Augenmerk der bäuerlichen Bevölkerung nur auf eines gerichtet ist: die überlebenswichtigen ersten Tropfen für die Aussaat nicht zu verpassen. Und Malis dürre Felder wissen nichts davon, dass sie nun vor Europas Haustür liegen.
Die Übergangs-Regierung in Bamako hat sich äußerem Druck nicht widersetzt, vielleicht nicht widersetzen können. Die Europäische Union bestand auf dem frühen, viel zu frühen Wahltermin: Vorher werde die Entwicklungshilfe nicht entsperrt. Und an ihr hängt ein Drittel von Malis Staatsbudget. Warum aber dieser Druck? Es zählt das Primat der Stabilität, und die wird entlang europäischer Interessen definiert, nicht entlang malischer. Wahlen abzuhalten, das ist jetzt ein bloßes Instrument, um den malischen Staatsorganen jenen Makel mangelnder Legitimität zu nehmen, der ihnen seit dem Putsch vom März 2012 anhaftet.
Die europäische (und amerikanische) Anti-Terror-Politik braucht als sogenannten Partner eine formal korrekte Staatsführung. Diesem Zweck dient die Wahl; ob sie für die Willensbildung der malischen BürgerInnen taugt, ist zweitrangig. Aminata Traoré, die bekannteste Stimme der Zivilgesellschaft, spricht von einer „aufgezwungenen“ Wahl, einem „Dekret“.
Der Krieg ist noch nicht zu Ende; die Städte des Nordens – Timbuktu, Gao, Kidal – wurden jüngst durch Selbstmordattentate erschüttert. Von den 450 000 Flüchtlingen aus dem Norden haben sich erst wenige auf den Heimweg gemacht. 175 000 von ihnen leben in Lagern in Mauretanien, Burkina Faso und Niger; sie könnten auch in zweieinhalb Monaten noch dort sein, das nimmt die Wahlkommission in ihrer Planung vorweg: Es werde dafür gesorgt, dass in den Lagern im Ausland abgestimmt werden könne. Im mauretanischen Mbéra vegetieren 75 000 Flüchtlinge; sie haben nur 20 Latrinen und viel zu wenig Wasser. Wie will man unter solchen Umständen eine korrekte Wahl organisieren?
Das ganze Krisenjahr über gab es in der malischen Bevölkerung, bei aller sonstigen Verwirrung, eine konstant klare Haltung: Wir wollen erst wählen, wenn der Norden dabei ist. Das war ein wichtiges Signal, es zeigte den Willen zur nationalen Einheit: Die Bevölkerung des Südens, die immerhin 90 Prozent ausmacht, wollte lieber unter politisch unklaren Verhältnissen ausharren als den Norden ausgrenzen. Diese Willensbekundung wird nun kalt missachtet, und das wird politische Folgen haben. Die Flüchtlinge in den Auslands-Lagern sind vor allem Tuareg; um deren Wahlbeteiligung hätte sich der malische Staat und die Mehrheits-Gesellschaft besonders bemühen müssen. Nun können sich die Lagerinsassen durch die Umstände der Stimmabgabe darin bestätigt fühlen, dass dieser Staat auf sie ohnehin keinen Wert legt.
In den Lagern agitieren die Tuareg-Rebellen, die „Nationale Bewegung für die Befreiung von Azawad“, im französischsprachigen Kürzel MNLA. Viele Tuareg-Flüchtlinge glauben, sie könnten erst sicher in die Heimat zurück, wenn es dort einen unabhängigen Staat Azawad gebe. Eine Annahme fern der Realität; nun droht die voreilige Wahl die Kluft noch zu vertiefen. Denn ein Friedensprozess für den Norden hat noch nicht einmal begonnen.
Schon in ruhigeren Zeiten war die Wahlbeteiligung in Mali niedrig; vielen blieb diese Prozedur fern und fremd; anderen war das zu wählende Personal so gleichgültig, dass sie ihre Stimme verkauften, für ein paar Geldscheine, eine Tüte Zucker oder Reis. In der jetzigen Krise, wo viele darben, werde es Stimmenkauf in noch größerem Umfang geben, warnen malische Zeitungen.
Aufgeregtes Hufescharren im politischen Bamako: Der frühe Wahltermin nützt der alten politischen Klasse – also genau jenen Leuten, die das Land so tief in die Krise manövriert haben. Nur sie können aus dem Stand ihre Wahlmaschinen anwerfen; die Kriegskassen sind gefüllt durch die üppige öffentliche Finanzierung von real kaum existierenden Parteien. Wer noch keine hat, gründet jetzt schnell eine.
Erstaunlich viele Kandidaten, bisher ausschließlich männlich, drängen ans Licht. Bei ADEMA, einer Partei, die in den letzten zwei Jahrzehnten am meisten Regierungsverantwortung trug und folglich besonderen Bedarf an innerer Einkehr haben müsste, hielten sich 19 Männer für Präsidenten-reif. Die Partei entschied sich für einen Ingenieur, der als „neues Gesicht“ gilt. Auch andere versuchen, auf dem großen Bedürfnis der Bevölkerung nach politischer Veränderung zu surfen – und gleichzeitig jene Macht zu restaurieren, die ihnen den Griff in die öffentlichen Fleischtöpfe erlaubt.
Gewiss sind nicht alle Bewerber Zyniker. Aber wie soll diese Wahl zur Selbstheilung Malis beitragen, bevor sich das Land auf die Ursachen der Krankheit verständigt hat? Die Stationierung von 11 000 afrikanischen Blauhelmen ab Anfang Juli, auch dies ist eine aufgezwungene Maßnahme – ein Rezept ohne Diagnose. In diesem Fall haben die Vereinten Nationen dem französischen Druck nachgegeben.
Wozu werden so viele Soldaten gebraucht in einem Land, dessen Bevölkerung ganz überwiegend friedlich zusammenlebt? Eine djihadistische Guerilla in der Sahara zu bekämpfen, dazu eignen sich Blauhelme nicht. Sie dienen allenfalls dazu, den französischen Abzug zu erleichtern, weil sie die Illusion einer geordneten Übergabe erzeugen. Und sie erwecken international den Eindruck, Mali leide dauerhaft an inneren, ethnischen Spannungen, für deren Abdämpfung es fremde Soldaten brauche. Viele nationalbewusste MalierInnen empfinden das als demütigend.
Kidal, Nordmali: ein weiteres Beispiel für die französische Dominanz. Die malische Armee darf diese Region, mehrheitlich von Tuareg bewohnt, bisher nicht betreten. Frankreichs Streitkräfte sind hier eine Allianz mit den MNLA-Rebellen eingegangen. Deren Argumentation folgend, dass die malische Armee im Norden „genozidäre Absichten“ habe, hat Frankreich Kidal zur No-Go-Zone für malische Soldaten gemacht. Die Regierung in Bamako fügte sich, ohne die einheimische Öffentlichkeit darüber aufzuklären.
Gewiss: In Malis Armee schwelt Hass auf die Tuareg. Es gab Übergriffe, Berichten zufolge wurden Verhaftete gefoltert. Doch auch den MNLA-Kämpfern werden Gewalttaten angelastet, vor allem Vergewaltigungen. All dies muss ermittelt und geahndet werden. Die malische Armee auf Beschluss einer ausländischen Macht aus einem Landesteil herauszuhalten, ist kaum geeignet, zur Versöhnung beizutragen.
Nachdem der französische Verteidigungsminister kundtat, die Armee dürfe erst nach den Präsidentschaftswahlen nach Kidal, kursiert in Bamako der Verdacht, auf diese Weise solle hinterrücks eine autonome Tuareg-Region etabliert werden. „Es ist die Absicht der Franzosen, die Wahlen ohne die Region Kidal zu organisieren“, meint die Zeitung Le Matin. „Wenn die Malier das akzeptieren, wird das Land auf immer geteilt sein.“
Die Befürchtung scheint übertrieben. Aber der Fall Kidal zeigt: Frankreich und Mali verbanden mit dem Krieg unterschiedliche Ziele. Frankreich wollte so viele Djihadisten wie möglich „unschädlich“ machen. 600 getötete, 300 gefangene Kämpfer, plus zerstörte Waffendepots – das könnte demnächst reichen für eine positive Bilanz. Für Mali war das Ziel: die Hoheit über das gesamte Staatsgebiet zurückgewinnen sowie Sicherheit für seine Bevölkerung. Beides ist bisher nicht erreicht.