Mali: Das Kartenhaus der Demokratie
Von Charlotte Wiedemannk (»Blätter« 1/2013, Seite 25-28)
Seit dem Putsch einiger Offiziere im Frühjahr 2012 herrschen in Mali unklare politische Verhältnisse. In der Hauptstadt wird weiter um die Macht gekämpft – zuletzt zwangen Militärs Regierungschef Cheik Modibo Diarra zum Rücktritt –, während der Norden des Landes von dschihadistischen Gruppen beherrscht wird. Frankreich und die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten drängen auf eine Militärintervention. Aber würde ein Krieg Mali helfen? Und was wollen die Malier selbst?
Die verbreitete Vorstellung, Mali sei bis zum Umsturz eine stabile Demokratie gewesen und quasi über Nacht zum Opfer putschender Militärs und grausamer Islamisten geworden, bedient geläufige Afrika-Klischees. Dort ist die Katastrophe bekanntlich immer nur eine Handspanne entfernt, und was gestern noch ein Modell war, kann heute – voilà – ein failed state sein. Tatsächlich erzählt der Fall Mali eine andere Geschichte: Nach 20 Jahren Erfahrung mit einem Mehrparteiensystem westlichen Zuschnitts ist bei den meisten Maliern nur bittere Enttäuschung geblieben. Und eine Demokratie, von der sich die Mehrheit der Bürger ausgeschlossen fühlt, ist nicht verteidigungsfähig, weder nach innen noch nach außen.
In Malis gebildeter Minderheit wird die Frage, ob eine militärische Intervention in Nordmali nötig ist – und gegen wen dort überhaupt Krieg geführt werden soll, denn auch völlig unterschiedlich beantwortet. Die alte politische Klasse um den Übergangs-Präsidenten Dioncounda Traoré spielt die westliche Karte, auch in der Tonart: Es gehe um einen Krieg gegen die Hand- und Fuß-Abhacker, „einen Krieg gegen den Terrorismus“, bei dem Mali nicht alleingelassen werden dürfe. Diametral anders argumentieren jene Kräfte, die den Putsch gegen diese Klasse „heilsam“ nannten und auf radikale Veränderungen drängen: Ausländische Soldaten sollen keinen Fuß auf malischen Boden setzen; der islamische Terrorismus werde vom Westen nur als Vorwand benutzt, um sich militärisch in der Sahara festzusetzen und die Hand auf die Ressourcen NordMalis zu legen.
Keine der beiden Sichtweisen wird der komplexen Situation wirklich gerecht. Um diese besser zu verstehen, lohnt zunächst ein Blick auf die Landkarte: Wer Malis bizarre Silhouette sieht, könnte irrtümlich glauben, es handele sich bei diesem Staat um ein künstliches Gebilde, immer schon zweigeteilt zwischen einem arabischen oder berberischen Norden und einem „schwarz“-afrikanischen Süden.
Tatsächlich zählte Mali zu den wenigen großen Reichen der afrikanischen Geschichte; der heutige nachkoloniale Staat bedeckt nur einen Teil des einstigen Territoriums, und dessen Bevölkerung war immer multiethnisch. Sie ist es auch heute, in allen Landesteilen, der Norden inbegriffen. Dort machen die Tuareg, eine zu den Berbern zählende Ethnie in Afrika, zwar am meisten von sich reden, doch sie sind in zwei der drei Verwaltungsregionen des Nordens nur eine Minderheit.
Ethnisch, klimatisch, kulturell und wirtschaftlich war Mali stets eine Schnittstelle, ein Ort früher Globalisierung: Hier traf sich der Transsaharahandel mit dem Transwestafrikahandel auf dem Fluss Niger. Darauf beruht seine glorreiche Vergangenheit, der legendäre Goldreichtum ebenso wie der Mythos Timbuktu.
Dieser kleine Ausflug in die Geschichte ist notwendig, um zwei Dinge zu verstehen. Erstens: Die meisten Malier haben, ohne je auf der Schulbank gesessen zu haben, eine Art mythisches Nationalbewusstsein. Es erlaubt ihnen, bei aller Armut, einen ausgeprägten Stolz auf ihr Land, auf ihre Kultur. Mali, das ist ein historischer Referenzpunkt, der die Ethnien verbindet. Zweitens: Der Zentralstaat, den erst die französische Kolonialmacht Malis ethnischer, sprachlicher und territorialer Vielfalt überstülpte, ist gleichwohl bis heute für die Masse der bäuerlichen Bevölkerung ein fremdes Ding geblieben. Um das zu illustrieren, mag eine einzige Zahl genügen: 90 Prozent beherrschen nicht die Sprache, in der das malische Parlament über Politik verhandelt – das Französische.
Es ist wichtig, diesen Unterschied in der Sichtweise auf Nation und Staat zu verstehen. Gängige Vergleiche mit Sudan oder Somalia gehen fehl, erst recht Begriffe wie „afrikanisches Afghanistan“. Mali leidet nicht an den zentrifugalen Kräften einer Stammesgesellschaft, nicht an interethnischen Animositäten oder an religiösem Wahn. Sondern daran, dass der Staat und seine politischen Institutionen nicht im Dienst der Menschen stehen. Das Gesicht des Zentralstaats hat seit der Unabhängigkeit 1960 dreimal gewechselt, jeweils im Stil der Zeit: Zunächst wenige Jahre Sozialismus, dann viele Jahre Militärdiktatur; diese wurde 1991, in Malis demokratischem Frühling, von einer Volksbewegung gestürzt. Es folgte ein Mehrparteiensystem mit zuletzt 152 Parteien. Man könnte sagen: Was an politischen Modellen auf dem Markt ist, haben die Malier durchprobiert.
Nicht für seine Bürger, sondern für westliche Regierungen und manche Entwicklungshilfeorganisationen war Mali lange ein Modell: Da wurde brav gewählt, privatisiert, mit IWF und Weltbank kooperiert. Doch die meisten Malier fühlten sich in dieser gepriesenen Demokratie nur wie Statisten. Politiker werden, das hieß in den Augen der Bevölkerung: sich an die Fleischtöpfe heranmachen. Zu nichts anderem dienten die meisten Parteien. Korruption war offenkundig; pro Jahr wurden 150 Mio. Euro Staatsgelder fehlgeleitet, mindestens ein Drittel der Entwicklungshilfe verschwand in dunklen Kanälen. Die Wahlbeteiligung war die niedrigste in Westafrika; jeder wusste von Fälschungen.
Putsch für soziale Gerechtigkeit?
Im März 2012, nach einem ungelenken Coup unterer Offiziere, fiel diese Demokratie zusammen wie ein Kartenhaus. Sie war nur Fassade gewesen; wer von der Fassade profitiert hatte, verlangte ihre sofortige Wiedererrichtung. Und nur diese Kräfte gelten seitdem in den Nachrichten der Welt als Demokraten. Außensicht und Binnensicht divergieren extrem: Kaum ein Politiker genießt mehr das Vertrauen der Bevölkerung. Die Ablehnung zielt besonders auf den Interims-Präsidenten Dioncounda Traoré; der heute 70jährige Mathematiker hatte in den vergangenen 20 Jahren fast jeden nur denkbaren politischen Posten inne. Er verkörpert den moralischen Niedergang einer Politiker-Generation, die 1991/92, von großen Hoffnungen begleitet, Malis neue Demokratie errichtete. Seit Monaten herrscht in Malis Hauptstadt Bamako nun ein Stellungskrieg: Wer vom bisherigen System profitierte, will die Macht der gestürzten Klasse restaurieren; wer auf einen grundlegenden Wechsel hofft, will genau das verhindern.
Nach dem Putsch gründeten sich Unterstützerkomitees, vor allem unter jungen Leuten. Sie hatten darauf gewartet, dass endlich etwas passiert – und redeten sich nun den Anführer der meuternden Soldaten, Hauptmann Amadou Sanogo, zum nationalen Helden schön. Das Datum des Putsches, der 22. März, war historisch aufgeladen: An jenem Märztag des Jahres 1991 verbluteten Schüler und Studenten auf Bamakos Straßen, im Kampf gegen die damalige Diktatur. Ein Denkmal am Niger erinnert an die Märzgefallenen von damals. Für die Jugend von heute ist von diesem demokratischen Aufbruch nur das Pathos geblieben; sie nehmen nun den Ton wieder auf, mit einem rebellischen, politisch ungebildeten Patriotismus.
Zu denen, die sich vom Putsch einen demokratischen Neubeginn erhofften, gehört die Bauernvereinigung. Ihr Motto lautet „Land, Arbeit, Würde“; erst unlängst hatten Bauern vergeblich dagegen protestiert, dass Malis privatisierte Baumwoll-Gesellschaft zur Hälfte an einen chinesischen Investor verkauft wurde. Ein Militärcoup als Chance für mehr soziale Gerechtigkeit? So dramatisch können demokratische Formen an Wert verlieren, wenn sie keine wirkliche Partizipation bedeuten. „In 20 Jahren Demokratie sind Mali und die Malier ärmer geworden“, bilanziert der Philosophie-Professor Issa Ndiaye, ein früherer Bildungsminister. Nun müsse über Alternativen nachgedacht werden: „Befreien wir unseren kolonisierten Geist, um Afrika und nicht dem Westen zu dienen.“
Gewiss – die malische Krise hat auch äußere, exogene Faktoren. Schon seit fünf Jahren haben sich in den Weiten der nordmalischen Sahara von Algeriern angeführte Kampfgruppen festgesetzt, die als „Aqmi“ firmieren, als maghrebinische Filiale von Al Qaida. Doch erst der faulige Zustand von Malis Demokratie schaffte den Nährboden, auf dem die Krisenphänomene wie Pilze wuchern konnten. Regierungsinteressen waren mit Drogenkartellen verstrickt, und Unterhändler aus Bamako spielten undurchsichtige Rollen, wenn Islamisten gigantische Lösegelder für entführte Europäer kassierten. Die malische Armee bekam statt Waffen Generalsposten im Dutzenderpack, damit die Offiziere ruhig blieben. Die Soldaten hatten kaum Munition, als sie jenen Tuareg-Rebellen gegenüberstanden, die aus den Trümmern des Gaddafi-Libyens einen Konvoi voller Waffen mitgebracht hatten. Es ist keine Legende, dass Hauptmann Sanogo in Bamako putschte, nachdem ein Video kursierte, das die brutale Exekution gefangener malischer Soldaten zeigte. Dass die malische Fassaden-Demokratie so leicht zusammenfallen würde, hätte der Hauptmann wohl selbst nicht gedacht.
Böse Islamisten, gute Tuareg?
Was nun die Einschätzung der Lage in Nordmali betrifft, so divergieren auch hier Außen- und Binnensicht beträchtlich. Westliche Medien und westliche Meinungsführer machen einen großen Unterschied zwischen den bewaffneten Islamisten und den säkularen Tuareg-Rebellen der Mouvement National de Libération de l‘Azawad (MNLA). Letztere hatte sich zunächst aus schierem Opportunismus mit den islamistischen Kampfgruppen verbündet, wurde dann aber militärisch von ihnen geschlagen und aus Nordmali vertrieben, aus jenem Azawad also, das sie als Staat proklamieren wollten. Obwohl auch MNLA-Kämpfer Plünderungen und Vergewaltigungen begangen haben, genießen sie aus europäischer, zumal französischer Sicht die Aura von Freiheitskämpfern. Das ist in Mali völlig anders: Für viele Flüchtlinge sind Islamisten und MNLA gleichermaßen „Verbrecher“ und „Banditen“, derentwegen sie Heim, Hof und Sicherheit verloren haben.
In Erinnerung daran, dass Frankreich 1957 einen unabhängigen Sahara Staat projektiert hatte, durch den es seine Interessen in dieser strategischen Zone wahren wollte, werden die Tuareg-Rebellen heute von vielen malischen Intellektuellen als Handlanger französischer Interessen gesehen – und damit als Hauptfeind definiert. Denn nur sie, nicht die Islamisten, bedrohten den Zusammenhalt des Landes; deshalb sei mit ihnen nicht zu verhandeln. Darin spiegeln sich alte Ressentiments und Spannungen wider: Unvergessen die Sklavenhalter-Vergangenheit der hellhäutigen Oberklasse der Tuareg. Unverziehen auch, dass es seit den ersten Tagen der Unabhängigkeit stets nur Tuareg waren, die zu den Waffen griffen, um ihre Forderungen zu unterstreichen, während andere Regionen und Ethnien gleichfalls unter Marginalisierung leiden.
Die Verteidigung des Laizismus
Tatsächlich haben sich viele Tuareg, trotz solcher Spannungen, stets zur malischen Nation bekannt. Dass gilt sogar für einen Mann, der heute als Europa Sprecher der MNLA eine wichtige Rolle spielt: der Tuareg-Schriftsteller Moussa Ag Asserid. In seinem jüngsten Buch, das er 2011 in Frankreich veröffentlichte, sprach er noch emphatisch von „meinem schönen Mali“ und bekräftigte: „mein Volk, die Kel Tamashek, und mein Land, Mali“. Tuareg-Abgeordnete des malischen Parlaments schlossen sich im Frühjahr 2012 den Separatisten an, Tuareg-Soldaten der malischen Armee liefen im Kampf zu den Rebellen über. All dies hat Bitterkeit hervorgerufen und einen Verratsdiskurs genährt. Den Preis zahlen nun vor allem jene Tuareg, die weder Rebellen noch Separatisten sind und die sich gleichwohl Hass und Verdächtigungen ausgesetzt sehen, bis hin zur Lynchjustiz. Diesen Graben in einem künftigen Mali wieder zu schließen, das wird schwierig sein – und womöglich länger dauern, als die Folgen islamistischer Gräueltaten zu überwinden.
Die Exzesse im Namen einer dumpf interpretierten Scharia werden von allen muslimischen Strömungen des Landes scharf kritisiert; das gilt auch für die malischen Wahhabiten. Sie nehmen zwar ihrerseits Anstoß an Praktiken des sufistisch orientierten Mehrheitsislam, wie etwa die Verehrung von Heiligen, würden deren Mausoleen aber nicht zerstören. Auch hier spielt wieder Nationalstolz eine Rolle: Die mächtigsten Al-Qaida-Führer im Norden sind Ausländer; von denen wollen sich die malischen Muslime schon aus Prinzip nicht belehren lassen!
Wer glaubt, ganz Mali sei allein aufgrund seiner Armut ein fruchtbarer Boden für einen radikalisierten Islam, übersieht die Macht der Marabouts, der traditionellen Religionsführer, die gerade unter den Ärmsten die meisten Anhänger haben und mit Geld und Raffinesse ihre Position zu wahren wissen. Gleichwohl spielen religiöse Autoritäten in der malischen Krise zunehmend eine Rolle auf dem politischen Parkett: In einem Klima hochgradigen Misstrauens gegenüber allen Politikern genießen nur noch die Religiösen Respekt. So vermittelte der Vorsitzende des Hohen Islamischen Rats, ein Wahhabit, kürzlich im Kampf zweier verfeindeter Polizei-Gewerkschaften. Manche Malier sorgen sich nun um den Fortbestand der Laizität. Wieder schließt sich der Kreis: Die Laizität lässt sich nur verteidigen, wenn die weltlichen Institutionen an den Bedürfnissen der Bürger ausgerichtet sind. In Afrika genauso wie anderswo.
Im Kern weist die jetzige Krise deshalb auf eine große, noch unbeantwortete Frage: Wie kann in den Ländern des globalen Südens eine veritable Demokratie aussehen – eine Demokratie der Armen, die der Bevölkerung hilft, sich für ihre Interessen zu organisieren und die das soziale Kapital nutzt, das in der Gesellschaft vorhanden ist? Mali hat viel davon, das zeigt sich sogar in der jetzigen Krise: Mehr als 100?000 Flüchtlinge aus dem Norden wurden in malischen Familien aufgenommen. Die Malier tun alles, um die Gesellschaft im Gleichgewicht zu halten – während es immer mehr Menschen am Nötigsten mangelt.