Dramatische Entwicklungen in MALI: Nord-Süd-Spaltung des Landes (dt)
Islamisten trennen sich von Tuareg-Rebellen und terrorisieren Bevölkerung, Militärintervention steht möglicherweise dicht bevor
Bernard Schmidt (eine Kurzversion des Artikels ist in der jungle world 30/2012 erschienen)
Die einen gingen mit Sprengstoff vor, die anderen mit der Spitzhacke. Die Vorgänge in Tombouctou – oder in einer altmodischen deutschen Schreibweise: Timbuktu – im Norden des Sahelstaats Mali in den letzten Wochen erinnern an die Sprengung der Buddha-Statuen von Bamyian durch die afghanischen Taliban im März 2001. Im Norden von Mali dagegen geht es um Mausoleen, Gedenkstätte für Heilige, die sich im Stadtgebiet oder auf dem Gelände von Moscheen befinden. In den Augen radikaler Islamisten und Djihadisten handelt es sich um Teufelswerk, da es sich ihrer Auslegung religiöser Ge- und Verbote zufolge um „Götzenverehrung“ handelt, sich mittels einer Person statt direkt „an Gott zu wenden“.
Tombouctou gilt seit Jahrhunderten als Stadt der „333 Heiligen“. In der Zeit, als in Europa das Mittelalter herrschte, gab es dort zeitweilig eine Hochkultur, die unter anderem umfangreiche theologische aber auch wissenschaftliche Schriften in Arabisch und Soninké – eine in der Sahelzone verbreitete Sprache, die viele Wörter mit dem Arabischen gemeinsam hat – hinterlassen hat. Die Manuskripte wurden in jüngerer Zeit ebenso wie siebzehn größere Mausoleen, die in der für die Region typischen Lehmbauweise kunstvoll aus getrockneter Erde und Holz errichteten wurden, durch die UNESCO als „Weltkulturerbe der Menschheit“ unter besonderen Schutz gestellt.
Doch diese Rechnung wurde ohne die Djihadisten gemacht, die im April dieses Jahres bedeutende Teile Nordmalis eroberten. Damals rückten sie gemeinsam mit den säkularen, zunächst für regionale Autonome im Staatsverband von Mali und später dann für eigenstaatliche Unabhängigkeit kämpfenden Tuareg-Rebellen des MNLA vor. Der MNLA nennt sich in der ausgeschriebenen Version selbst „Nationale Befreiungsbewegung von Azawad“, mit der Namensbezeichnung, die er dem bisherigen Norden Malis geben will. Ab Ende Januar dieses Jahres war es in der ausgedehnten, wüstenhaften Nordhälfte des Landes zu militärischen Auseinandersetzungen gekommen, die sich im Februar steigerten. Die Tuaregrebellen hatten durch die Rückkehr früherer Söldner aus Libyen, die aus überwiegend rein ökonomischen Gründen dort vormals für Muammar al-Gaddafi – den am 20. Oktober vergangenen Jahres getöteten Machthaber – gekämpften hatten, sowie den massenhaften Zustrom von Waffen vom ehemaligen Kriegsschauplatz Libyen Verstärkung erhalten.
Bis dahin wirkten sie in einer Art Joint-Venture mit bewaffneten Djihadistengruppen zusammen. Letztere bestanden überwiegend aus früheren Stadtbewohnern aus Algerien oder aus dem Süden Malis, die sich nach ihrer militärischen und/oder politischen Niederlage in den jeweiligen Staaten – besonders im algerischen Bürgerkrieg der neunziger Jahre – in die Wüste zurückgezogen hatten. Dort hätten sie aber ohne eine begrenzte Kooperation mit den dort lebenden Tuareg nicht überleben können, denn nur die Nomaden kennen die Wüste, während die Städter in wenigen Tagen verhungert und verdurstet wären. Die Tuareg handeln traditionell mit allem möglichen, von Mobiltelefonen bis zu Kalaschnikows, befanden sich jedoch ökonomisch im Niedergang. Deswegen konnte die weniger von Ideologie als vielmehr von Interesse geleitete Zusammenarbeit mit den Djihadisten ihnen neue materielle Überlebensmöglichkeiten verschaffen. In Jahren um 2003 etwa bildete sich so im Süden Algeriens ein Geiselbusiness mit Touristen, die unter anderem aus Deutschland, der Schweiz und Österreich kamen, heraus. Beide Gruppen mit ihren je unterschiedlichen Motiven partizipierten davon. Für eine 33köpfige Geiselgruppe bezahlte damals übrigens Gaddafi, der sich seinerzeit an europäische Regierungen anzunähern versuchte, eine mehrfache Millionensumme als Lösegeld.
„Azawad“ ohne diplomatische Anerkennung
Den im April dieses Jahres neu ausgerufenen Staat „Azawad“ im Norden Malis erkannte auf internationaler diplomatischer Ebene jedoch niemand an. Die umliegenden afrikanischen Staaten fürchteten es wie der Teufel das Weihwasser, die Grenzen auf dem Kontinent – die entweder bei der Berliner Konferenz 1884/85 am Reißbrett, oder bei der Zerlegung großer Kolonialgebiete wie „Französisch-Sudan“ rund um Mali vor der Unabhängigkeit von 1960 gezogen worden waren – in Frage zu stellen. Davon befürchten sie eine nicht enden wollende Kette von Konflikten, Kriegen und Bürgerkriegen. Die Anerkennung der Unabhängigkeit des heutigen Süd-Sudan vor einem Jahr, am 9. Juli 2011, war diesbezüglich eine historische Premiere: Zum ersten Mal überhaupt wurde die Neuziehung einer Grenze auf dem afrikanischen Kontinent international akzeptiert. Allerdings hat sich die Situation in der Region dort insofern nicht beruhigt, als die beiden Sudan-Staaten immer wieder am Rande eines militärischen Konflikts standen, aber auch der Südsudan von schweren ethnisierten Konflikten erschüttert wird. Die Regierungen im übrigen Afrika waren nun sehr besorgt darum, dass die dortige neue Staatsgründung nicht „die Büchse der Pandora“ öffnet. Auch die westlichen beziehungsweise nördlichen Staaten hielten sich bei einer Anerkennung des neuen „Azawad“ sehr zurück.
Die dort im April 12 entstandene Situation hat sich insofern aufgelöst, als das Bündnis zwischen den Djihadisten und den Tuareg-Rebellen mittlerweise längst zerfallen ist. In den letzten drei bis vier Wochen flohen die Tuareg der säkularen Rebellenbewegung MNLA Hals über Kopf nacheinander aus Tombouctou, aus Gao – den beiden Großstädten im Norden Malis – und zuletzt aus ihrer Hochburg Ansongo. Nach der Schlacht bei Gao zwischen Djihadisten und Tuareg war der „Regierungschef“ des MNLA, Bilal Ag Chérif, verletzt worden und wurde mit einem Hubschrauber nach Ouagadougou, die Hauptstadt Burkina-Fasos, ausgeflogen. Dorthin zog sich inzwischen, infolge mehrerer militärischer Niederlagen, auch der Generalstab des MNLA zurück. Ouagadougou dient bei vielen Konflikten in der Region West- und Nordwestafrika als Drehscheibe für Verhandlungsrunden, da der Präsident Burkinas Fasos, Blaise Compaoré, mit Rückendeckung Frankreichs oft als „Vermittler“ aktiv wird. Und die Staatsmacht Burkinas Fasos hatte dem MNLA ursprünglich zu Anfang dieses Jahres mutmaßlich eine wichtige (wenn nicht entscheidende) Unterstützung und Rückendeckung gewährt, u.a. um den größeren Nachbarn Mali zu schwächen.
Nord-Mali: Terror gegen die Bevölkerung – und Zoff unter Islamisten
Unterdessen errichteten die Djihadisten im Norden Malis ein Terrorregime, vor dem viele Bewohner flohen, sofern sie konnten. Um ihr Verständnis vom „islamischen Gesetz“ – im Sinne der härtesten Auslegung der Scharia – zu demonstrieren, vollzogen die Radikalislamisten vielerorts Prügelstrafen mit Peitschen- oder Stockhieben an Menschen, denen „sündiges Verhalten“ vorgeworfen wurde. Im Internet zirkuliert etwa ein Video davon, wie in Gao die Prügelstrafe an einem unverheirateten Paar, das ein uneheliches Kind hatte, vollstreckt wurde. Und die neueste „Errungeschaft“ der Radikalislamisten ist mittlerweile, dass am 29. Juli 12 ein unverheiratetes Paar im nord-malischen Aguelhok durch Steinigung getötet wurde -„um die Scharia auszuführen“, wie die Mörder tönten.
Die Djihadistenbewegungen sind sich jedoch wiederum untereinander, sozusagen, nicht ganz grün. Bei Ansar ed-Din, auf arabisch ungefähr „Partisanen der Religion“, handelt es sich um eine rein aus Mali stammende Bewegung, deren Zielsetzung sich auf die Durchsetzung ihres Scharia-Verständnisses in den Grenzen des westafrikanischen Landes beschränkt. Dagegen ist „Al-Qaida im Land des islamischen Maghreb“, in den letzten Jahren unter der französischen Abkürzung AQMI bekannt geworden, eine für planetare Ziele kämpfende djihadistische Bewegung: Ihr geht es darum, „das Gute“ im weltweiten Krieg gegen „das Böse“ triumphieren zu lassen. Es handelt sich um den vielleicht 400 Kämpfer umfassenden, letzten Überrest der in den neunziger Jahren einstmals Zehntausende von Bewaffneten umfassenden, radikalislamistischen Bewegungen in Algerien. Ihr „djihadistischer Internationalismus“ resultiert auch daraus, dass ihre Angehörigen im nationalen algerischen Rahmen eine definitive, nicht umzukehrende Niederlage erfahren hatten. Der MUJAO, oder die „Bewegung für Glaubenseinheit und Djihad in Westafrika“, ist wiederum eine „realpolitischen“, im Rahmen eines bestimmten Staats zu verfolgenden Zielen stärker aufgeschlossene Abspaltung von AQMI.
Undurchsichtige Rolle Algeriens
Bei dem ganzen Konfliktgemenge spielt Algerien eine etwas undurchsichtige Rolle. Die dortige Staatsmacht wird verdächtigt, indirekt den MUJAO zu unterstützen. Und zwar einerseits, um die als am gefährlichsten eingeschätzte Organisation – AQMI – zu schwächen. Andererseits aber auch, um durch die Existenz eines Brandherds in der nördlichen Sahelzone eine eigene politische oder auch polizeiliche und eventuell militärische Präsenz in der südlich an Algerien angrenzenden Nachbarregion zu rechtfertigen. Fest steht, dass am 6. Juli eine Delegation des MUJAO von offiziellen Stellen in Algier empfangen wurde. Ihr ging Ende Juni bereits eine Delegation von Ansar ed-Din voraus. Gleichzeitig fanden in den letzten Monaten in der algerischen Hauptstadt wiederholt regionale „Sicherheitskonferenzen“ für die Sahelzone und „antiterroristische“ Tagungen statt. Drei von sieben algerischen Diplomaten, die im Frühjahr in Gao entführt worden waren und durch den MUJAO festgehalten wurden, sind inzwischen freigekommen.
Pläne der ECOWAS, und Frankreich im Hintergrund
In Rivalität zur algerischen Rolle stehen Pläne der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS, französisch CEDEAO. Diese bereitet sich darauf vor, militärisch mit voraussichtlich 3.000 Mann im Norden Malis zu intervenieren, um die dort nach vor herrschende und inzwischen rein islamistisch kontrollierte Rebellion einzudämmen oder möglicherweise zu vertreiben. Als Voraussetzung dafür fordert sie allerdings auch von den derzeit Regierenden in Südmali, bis Ende Juli 12 eine „nationale Einheitsregierung“ zu schaffen. In Südmali herrschen seit Monaten unklare politische Verhältnis, nachdem am 22. März 12 der damalige Präsident „ATT“ – Amadou Toumani Touré – einen Monat vor Ablauf seiner Amtszeit durch einen Putsch junger Militärs entmachtet wurde. Die damals gebildete Militärregierung verfügte durchaus über eine gewisse Unterstützung in relevanten Teilen der Bevölkerung, wo sich eine Art populärer Nationalismus Ausdruck verschaffte, welcher der vormaligen Regierung vorwarf, „unsere Söhne schlecht oder unbewaffnet im Norden zu verheizen“ und „die Spaltung des Landes ohne Widerstände hinzunehmen“. Inzwischen hat die Militärregierung sich allerdings eine zivile Fassade verliehen.
Der für ein Jahr ernannte Übergangspräsident Dioucounda Traoré wurde allerdings am 23. Mai bei einer heftigen Protestaktion im Präsidentenpalast Protest durch nationalistisch aufgeheizte Jugendliche beinahe gelyncht und, zwecks Behandlung seiner Verletzungen nach Paris ausgeflogen. Dort hielt er sich noch bis vor kurzem auf. Der unterdessen amtierende zivile Premierminister Cheikh Modibo Diarra blieb wiederum relativ machtlos. Am 27. Juli 12 kehrte (Übergangs-)Präsident Traoré in Malis Hauptstadt Bamako zurück, vgl. http://www.france24.com/fr/20120727-mali-dioncounda-traore-retour-bamako-apres-deux-mois-absence-islamistes-nord-cedeao-aqmi-touaregs-transition, und nahm das Heft etwas stärker an sich. Er entzog dem Interims-Premierminister einen Teil seiner Machtbefugnisse und schuf neue, konkurrierende Staatsorgane, was einen beginnenden Machtkampf auslöste. Vgl. http://actu.orange.fr/monde/mali-le-president-interimaire-traore-ecarte-le-premier-ministre-diarra-afp_733620.html
Die Anforderungen der CEDEAO respektive ECOWAS laufen darauf hinaus, einerseits eine stabilere und auf breitere gesellschaftliche Kräfte gestützte Regierung zu formen. Andererseits möchte die CEDEAO oder ECOWAS aber auch, dass eine neue Regierung mit genügend Rückhalt ausgestattet ist, um mit den Tuareg-Rebellen zu verhandeln und dem derzeit in die Defensive gedrängten MLNA eine mehr oder minder weitreichende Autonomie für Nordmali anzubieten. Das verfolgte Hauptziel besteht dabei darin, längerfristig für Stabilität zu sorgen. Gleichzeitig ist eine gewisse Schwächung Malis sicherlich auch im Sinne mancher Nachbarländer.
In der Bevölkerung in Südmali werden deswegen aber immer lautere Vorwürfe lauten, denen zufolge die CEDEAO die nationale Souveränität des Landes durch ihre Einmischungen verletzt, und durch Autonomiepläne für den Norden eine dauerhafte Spaltung zementieren wolle. Ferner wird die CEDEAO als eine Art Erfüllungsgehilfe Frankreichs hingestellt. Denn Paris unterstützt, aus einiger formeller Distanz heraus, diese Pläne. Die frühere Kolonialmacht wird zudem von Teilen der Bevölkerung – zum Teil aus guten Gründen – beschuldigt, an einer Schwächung Malis zu arbeiten bzw. interessiert zu sein. So war das westafrikanische Staat seit Ende 2008 mehrere Jahre lang der einzige Staat der Region, der sich trotz starken Drängen aus Paris (zunächst stark vom damaligen Einwanderungsminister Brice Hortefeux ausgehend) weigerte, mit Frankreich ein Abkommen zur Rücknahme dort unerwünschter Migranten zu unterzeichnen. Dies ist in der dortigen Bevölkerung unvergessen, und in Teilen der französischen politischen Elite ebenfalls nicht. Dies ist wohl nicht der einzige Aspekt in der französischen Haltung zur malischen Krise, doch dürfte eine Schwächung des Handlungsspielraums Malis machen Entscheidungsträgern in Paris – vor allem während der zurückliegenden Sarkozy-Ära, die Positionen der neuen Regierung müssen sich erst noch herausschälen – durchaus gern gesehen werden.
Am 12. Juli 12 zitierte die Pariser Zeitung Le Figaro den amtierenden Außenminister Laurent Fabius mit den Worten, „früher oder später“ sei nunmehr „die Anwendung von militärischer Gewalt wahrscheinlich“. Aber, so fügte er hinzu, „aus offensichtlichen Gründen kann Frankreich dabei nicht in der ersten Reihe stehen“. Neu könnte seit der Wahl von Präsident François Hollande und der Ernennung Fabius‘ allerdings hinzukommen, dass Frankreich stärker als unter der Vorgängerregierung bereit ist, gleichzeitig auch auf Algerien zuzugehen und mit ihm zusammenarbeiten. Fabius hielt sich Mitte Juli in Algier auf und kündigte eine verbesserte Kooperation zwischen beiden Ländern an, nachdem symbolträchtige fünfzigste Jahrestag der Unabhängigkeit Algeriens nach einem mehrjährigen Kolonialkrieg – am 5. Juli – nunmehr vorüber ist.