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Auf der Suche nach dem dritten Weg...

Offener Brief der europäischen Sektion an die malische Sektion von Afrique-Europe-Interact (Mai 2012)

Liebe Freunde und Freundinnen der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact,

wie ihr wahrscheinlich wisst, hat uns letzte Woche Alassane Dicko von der „Assoziation der Abgeschobenen Malis“ (AME) spontan 4 Tage in Bremen besucht – inklusive öffentlicher Info-Veranstaltung. Das war sehr wichtig, denn auf diese Weise hatten wir die Möglichkeit, uns ausführlich über die aktuelle Situation in Mali auszutauschen – zusätzlich zu den Telefonaten, die wir immer wieder mit verschiedenen von euch in den letzten Wochen geführt haben.

Während des Austausches mit Alassane ist uns (noch) stärker als bislang deutlich geworden, wie dramatisch und kompliziert die aktuelle Situation in Mali ist. Neben den objektiven Problemen (wie die Situation der Flüchtlinge, die allgemeine Ernährungslage, der islamistische Terror, die Teilung des Landes, die Schändung von heiligen Orten in Tombuktu oder die Verantwortungslosigkeit und Korruption der bisherigen Regierung) hat uns vor allem eines beunruhigt: Der Umstand, dass es offensichtlich auch innerhalb der malischen Zivilgesellschaft sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, wie Mali sowohl auf die Ausrufung des unabhängigen Staates Azawad im Norden als auch auf die Herrschaft von islamistischen Gruppen insbesondere in Gao und Tombuktu reagieren sollte.

Im Laufe der Gespräche mit Alassane haben wir uns deswegen zunehmend gefragt, ob die malische Sektion von Afrique-Europe-Interact nicht öffentlich die INTERACT-Philosophie zum zentralen Orientierungspunkt politischen Handelns in Mali erklären sollte. Denn letztlich glauben wir, dass zum jetzigen Zeitpunkt weder eine militärische Intervention noch die resignative Akzeptanz eines eigenen Staates Azawad weiterhelfen würde. Stattdessen sind wir davon überzeugt, dass sich im Süden und Norden möglichst schnell all jene Akteure aus der Zivilgesellschaft zusammenschließen sollten, die an Lösungen interessiert sind, die wirklich im Interesse der breiten Bevölkerung im Süden und Norden liegen. Nur so scheint es uns mittel- bis langfristig möglich zu sein, in einem ersten Schritt die islamistischen Kräfte politisch und sozial zu isolieren (und sodann aus Mali rauszudrängen) und in einem zweiten Schritt einen gerechten Frieden zwischen allen anderen Bevölkerungsgruppen in Mali zu erreichen – und zwar in einem geeineten Mali ohne neue Grenzen!

Wenn wir so sprechen, dann hat das vor allem mit dem Umstand zu tun, dass Mali in jüngerer Zeit zum Spielball ganz unterschiedlicher Interessen geworden ist – auch das ist uns erst durch die Gespräche mit Alassane so richtig deutlich geworden: Ob Katar, Algerien oder Mauretanien, ob Burkina Faso, Cote I'Ivoir oder Frankreich, ob Tuareg-Rebellenführer, AQIM oder die alte Regierung, alle scheinen zur Zeit jeweils nur ihre ganz eigenen Interessen und Ziele zu verfolgen – während die wirklichen Verlierer die Flüchtlinge, die Frauen, die Hungernden etc. sind, also die ganz normalen Menschen sowohl im Norden als auch im Süden des Landes.

Manche von euch werden jetzt vielleicht sagen, dass wir keine Ahnung hätten und dass die aktuelle Situation nicht ohne Waffengewalt zu lösen sei. Und in gewisser Hinsicht stimmt das natürlich auch: Die große Mehrheit der europäischen Sektion von Afrique-Europe-Interact (eigentlich alle außer unserer malischen Aktivistin aus Wien) kann sich nicht wirklich ein Urteil der Lage in Mali erlauben. Gleichzeitig glauben wir jedoch, dass sich in den letzten Jahrzehnten bei fast allen Bürgerkriegen oder gewalttätigen Konflikten auf der Welt früher oder später die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass soziale bzw. politische Probleme nicht militärisch gelöst werden können. Hinzu kommt, dass die von uns favorisierte Lösungsstrategie eine ist, die in Mali schon mal Erfolg hatte, wie wir erst jüngst erfahren haben: Als im Juni 1994 der Konflikt zwischen der „Front Islamo-Arabe de l'Azawad“ (FIAA) und der Volksbewegung „Ganda Koy“ bzw. der malischen Armee eskalierte, waren es im November 1994 nicht die malische Regierung und die Rebellen-Führer, sondern „zivile“ Repräsentanten der Sonrai und der Tuareg, die den damaligen Friedensprozess initiiert haben, der im März 1996 in die berühmte Waffenverbrennung von Tombuktu („flamme de la paix“) eingemündet ist.

Mit anderen Worten: Aus unserer Sicht wäre es naheliegend, wenn die politische Rolle bzw. Aufgabe von Afrique-Europe-Interact in Mali zum jetzigen Zeitpunkt darin bestehen würde, zusammen mit anderen Organisationen, Bündnissen und Netzwerken einen DRITTEN Weg zu beschreiten – jenseits von militärischer Eskalation oder politischer Resignation.

Praktisch würde dieser DRITTE Weg darin bestehen, die politischen Kräfte der Zivilgesellschaft im Geiste der INTERACT-Philosophie für ein neues Mali zusammenzubringen – mit dem Ziel, sich für einen nachhaltigen Frieden und eine wirklich gerechte Entwicklung für alle Menschen einzusetzen. Würde es zu einer solchen Positionierung kommen, wäre dies für die europäische Sektion von Afrique-Europe-Interact eine gute Grundlage, in Europa offensiv mit Öffentlichkeitsarbeit Unterstützung für die malische Sektion von Afrique-Europe-Interact zu organisieren (während es umgekehrt kaum möglich wäre, unter europäischen BasisaktivistInnen Verständnis für eine militärische Konfliktlösung zu erzielen).

Damit es für euch besser nachvollziehbar wird, wie wir zu unseren Einschätzungen gekommen sind, möchten wir abschließend alle jene Argumente, Gedanken und Fragen hinsichtlich des aktuellen Konflikts im Norden kurz skizzieren, die uns in den letzten Wochen immer wieder beschäftigt haben – vor allem auf der Grundlage vieler Gespräche bzw. Telefonate mit AktivistInnen von euch aus Mali, aber auch mittels Recherche im Internet.

Zunächst sind es mindestens sechs Gründe, weshalb wir uns gegen die Gründung eines eigenen Staates im Norden und somit die Teilung des Landes aussprechen:

a) Ob im Süden oder Norden, die allermeisten Menschen in Mali sind ökonomisch mehr oder weniger stark verarmt. Das hat – wie wir alle wissen – zum einen mit neokolonialen Dominanz- und Ausbeutungsverhältnissen zu tun (wozu auch die Auswirkungen des von den reichen Industrieländern verursachten Klimawandels gehören), zum anderen mit einer korrupten politischen Klasse in Mali bzw. Afrika insgesamt. Viele dieser Probleme können daher auch nicht mit einem neuen Staat gelöst werden. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür, dass sich die Probleme nur noch verschlimmern würden. Denn die wirkliche Grenze verläuft zwischen oben und unten, nicht zwischen Tuaregs und Nicht-Tuaregs (ein Slogan, der in Europa in verschiedensten Varianten immer dann verwendet wird, wenn soziale Probleme ethnisiert und somit entpolitisiert werden sollen).

b) Wie wir während unserer letzten Delegationsreise im Februar/März immer wieder gehört haben, leben im Norden Malis nicht nur Tuaregs. Mehr noch: in Gao und Tumbuktu haben Tuaregs gerade mal einen Anteil von 10 bis 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Insofern teilen wir eure Einschätzung, dass es keinen Sinn macht, bei der aktuellen Rebellion von nationaler Selbstbestimmung der Tuaregs zu sprechen. Hinzu kommt die Gefahr, dass es in einem eigenen Staat Azawad zu massiven Diskriminierungen der Nicht-Tuareg-Bevölkerung kommen könnte.

c) Vor allem durch die Gespräche mit Alassane haben wir verstanden, inwiefern die Sorge vor neuer Diskriminierung historisch begründet ist: Zu nennen sind zum einen die schmerzhaften Erfahrungen aus der Tuareg-Rebellion insbesondere in den 1990er Jahren, wo es immer wieder zu Angriffen von Rebellen auf schwarze (Bellah-)Dörfer gekommen ist, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Zum anderen spielt die teilweise bis heute von Tuaregs praktizierte Sklaverei gegenüber schwarzen Menschen eine wichtige Rolle – auch deshalb weil Sklaverei und Rassismus oftmals eng verbunden sind. So machten zu Anfang des 20 Jahrhundert im heutigen Norden Malis die sesshaften Sklaven (die vor allem in der Landwirtschaft tätig waren) 70 bis 90 Prozent der Bevölkerung aus. Aber auch heute existiert noch Sklaverei in Mali, Niger und Burkina Faso, ganz zu schweigen von Mauretanien, wo 1993 ca. 42 Prozent der Bevölkerung schwarze Sklaven bzw. Freigelassene waren.

d) In diesem Zusammenhang sollte sicherlich auch erwähnt werden (und auch das wurde uns bei unserer Reise im Februar/März immer wieder erzählt), dass es seit Jahrhunderten starke soziale, politische, kulturelle, religiöse und ökonomische Verbindungen zwischen dem Süden Malis und dem Norden gibt, insbesondere nach Gao und Tombuktu. Insofern wäre es künstlich und unplausibel, die vielfältigen Verbindungen zwischen Norden und Süden nunmehr durch eine neue Grenze zu erschweren.

e) Würde es mit Azawad einen neuen Staat geben, würde das die Situation für TransitmigrantInnen aller Voraussicht nach extrem erschweren. Mehr noch: Es bestünde die Gefahr, dass der neue Tuareg-Staat von der Europäischen Union für die Abwehr von Flüchtlingen instrumentalisiert und somit die Festung Europa noch stärker Richtung Süden vorrücken würde.

f) Bei Kriegen leidet in aller Regel die Zivilbevölkerung am meisten, das wird auch aktuell in Mali wieder deutlich (mit seinen 200.000 bis 500.000 Flüchtlingen). Allein deshalb verurteilen wir den Einsatz von Waffengewalt seitens der Tuareg-Rebellen scharf.

2. Umgekehrt haben wir bei unseren Recherchen aber auch Informationen gefunden, die zeigen, dass die Tuareg-Bevölkerung in den letzten 50 Jahren immer wieder von Benachteilung, Repression und Verfolgung durch den malischen Staat betroffen war:

a) Lange Zeit waren die Tuaregs von der politschen Macht in Mali weitgehend ausgeschlossen (wobei hinzuzufügen ist, dass viele die Übernahme von Regierungsverantwortung ausdrücklich abgelehnt haben). Hinzu kam, dass die nördlichen Gebiete bis Anfang der 1990er Jahre systematisch vernachlässigt wurden – einschließlich zahlreicher Gesetze und Maßnahmen, die die nomadische Lebensform (inklusive Handel mit den Nachbarstaaten) immer schwieriger gemacht haben. Hieran hat sich erst im Zuge der Befriedungsstrategien nach den Tuaregrebellionen 1990 bis 1994 und 2007 bis 2009 etwas verändert: durch Integration ehemaliger Rebellen in die Armee und Regierung, durch politische Teilautonomie und durch ökonomische Infrastrukturprogramme im Norden (wobei zahlreiche der für den Norden bestimmten Entwicklungshilfegelder durch Korruption verloren gegangen sind – genauso wie in allen anderen Teilen Malis).

b) Ebenfalls schmerzhaft war für die breite Tuareg-Bevölkerung, dass die malische Armee bei mehreren Tuareg-Rebellionen immer wieder äußerst hart gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen ist – unter anderem mit der Konsequenz, dass allein 1991/1992 über 60.000 Tuaregs nach Mauretanien geflüchtet sind.

Mit anderen Worten: Wenn wir die Geschichte der letzten 50 Jahre richtig verstanden haben, sind die Konflikte zwischen Tuaregs- und Nicht-Tuaregs für beiden Seiten immer wieder äußerst schmerzhaft gewesen, insbesondere für die einfachen Menschen. In diesem Sinne fänden wir es richtig, wenn sich möglichst viele Akteure der malischen Zivilgesellschaft ganz eindeutig gegen jede Form von Diskriminierung und gegen eine neue militärische Eskalation positionieren würden, auch wenn kein Zweifel daran bestehen kann, dass es für die aktuelle Rebellion nicht die geringste Rechtfertigung geben kann. Denn klar ist: Von einer neuerlichen militärischen Auseinandersetzung würden ausschließlich die Falschen profitieren wie z.B. die Islamisten, die Drogenbosse oder die Rebellenführer der Tuaregs, während umgekehrt die breite Bevölkerung noch stärkere Entbehrungen oder gar Tote in Kauf nehmen müsste. Insofern sind wir gespannt, ob ihr mit unseren Überlegungen etwas anfangen könnt oder ob sie an eurer Realität völlig vorbeigehen (was uns natürlich sehr leid tun würde). Auf jeden Fall finden wir es politisch und persönlich wichtig, immer wieder über gemeinsame Handlungsmöglichkeiten zu diskutieren – auch dann, wenn wir nicht völlig einer Meinung sind.

Solidarische und freundschaftliche Grüße – le droit egale partout et pour tous!

Mehrere AktivistInnen aus der europäische Sektion von Afrique-Europe-Interact