tageszeitung "taz" zur aktuellen Mehrfachkrise in Mali (alle Artikel zwischen November 2011 und Januar 2013)
Die Berichterstattung über die aktuelle Krise in Mali hat von Anfang an vergleichsweise breiten Raum in der hiesigen Medienlandschaft eingenommen. Dabei dürfte keine Zeitung derart ausführlich und kontinuierlich wie die “taz” berichtet haben. Wir dokumentieren daher an dieser Stelle sämtliche zwischen November 2011 und Januar 2013 in der taz über die Krise im Norden des westafrikanischen Landes erschienen Artikel – trotz zum Teil erheblicher Differenzen in den Einschätzungen bezüglich des Tuareg-Konflikt bzw. der mögliche Lösungswege in der Auseinandersetzung mit den Islamisten (die Dokumentation seit Januar 2013 haben wir bislang aus Kapazitätengründen leider nicht geschafft). Denn in gewisser Weise stellen sie bereits jetzt so etwas wie ein Archiv der äußerst verschlungenen Konfliktdynamik dar. Viele der Texte gehen dabei weit über alltägliche Berichterstattung hinaus und weisen insofern zahlreiche Überschneidungen mit jenen Artikeln auf, die wir unter Hintergrund-Informationen dokumentiert haben.
11.01.2013 | Keiner traut mehr der Armee
Das Leben in Mali wird immer unsicherer. Islamisten und Regierungstruppen kämpfen um Konna. Die Rufe nach Hilfe aus dem Ausland werden lauter.von Katrin Gänsler
COTONOU taz | Sie sollen ruhig bleiben und auf die Kraft der Armee vertrauen – das fordert die Interimsregierung von Mali von den Bürgern des Landes. Außerdem betont sie auf ihrer Homepage, alles sei vorbereitet, um die Terroristen zu verscheuchen. Doch die Stimmung im Land ist eine andere.
Issa Ballo, der mit seiner Familie in Mopti – der letzten größeren Stadt, die noch unter der Kontrolle der Regierung steht – lebt, glaubt nicht wirklich an die Hilfe der malischen Armee. „Heute Nachmittag ist es zwar etwas ruhiger aber gestern hatten wir wirklich Angst“, erzählt er am Telefon.
Als bekannt wurde, dass in Konna, einer Kleinstadt 70 Kilometer nördlich, gekämpft wird, hätten viele Bürger versucht, irgendwie in die Hauptstadt Bamako zu gelangen. Kämpft die Armee wie am Freitagmittag angekündigt weiter, könnte sich das schnell wiederholen. Denn so würde das Leben in Mopti immer unsicherer.
Widersprüche und Gerüchte
Wo die Armee genau steht und wie stark sie noch ist, lässt sich nur schwer einschätzen. Die Informationen darüber sind widersprüchlich und basieren meist auf Gerüchten. Issa Ballo will sich deshalb nicht auf die Streitkräfte verlassen. „Was jetzt noch hilft, ist ein internationaler Militäreinsatz. Wir brauchen Unterstützung von außen – dringender als je zuvor“, sagt er.
Das sieht mittlerweile auch der UN-Sicherheitsrat so. Am Donnerstagabend forderte das Gremium die Mitgliedsstaaten auf, die malische Armee beim Kampf gegen Terroristen und andere Gruppen, die den Norden besetzt halten, zu unterstützen. Laut Masood Khan, dem pakistanischen Präsidenten des Sicherheitsrates, schwächt die aktuelle Lage Stabilität und Integrität von Mali weiter. Das bedrohe Frieden und Sicherheit nicht nur Malis, sondern international.
Besonders bedroht vom Zerfall Malis sind die Nachbarländer Niger und Burkina Faso. Dessen Regierung will nun 1.000 Soldaten an die Grenze zu Mali schicken. Es gilt als wahrscheinlich, dass Islamisten und Terroristen längst ins Grenzgebiet eingesickert sind und die schwer zu überblickende Region zwischen beiden Staaten als Rückzugsgebiet nutzen. Dort halten sich nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR auch knapp 36.000 Flüchtlinge auf – eine kleiner Teil der rund 412.000 Menschen, die im vergangenen Jahr aus dem Norden Malis geflohen sind.
Westerwelle schließt deutschen Einsatz aus
Trotz dieser Lage setzt Bundesverteidigungsminister Guido Westerwelle weiterhin auf die Politik. Am Freitag betonte er in Berlin, die politische Bemühungen um eine Lösung müssten intensiviert werden. „Allein eine militärische Lösung“ würde es nicht geben. Einen Einsatz von deutschen Soldaten schloss Westerwelle derzeit aus. Allerdings sei es richtig, die Bemühungen um eine Eingreiftruppe „mit Hochdruck“ voranzutreiben.
Am 20. Dezember hatte der Sicherheitsrat den Einsatz von 3.300 afrikanischen Soldaten genehmigt, die die Mitgliedsstaaten der Westafrikanischen Regionalorganisation ECOWAS stellen wollen. Wann AFISMA, die „Afrikanisch geführten Internationalen Unterstützungsmission in Mali“, nun tatsächlich eingreift, ist jedoch noch unklar. Häufig heißt es: nicht vor September 2013.
11.01.2013 | Frankreich sagt Militärhilfe zu
Beim Kampf gegen islamistische Rebellen kann Mali auf die Hilfe Frankreichs setzen – sofern es eine internationale Entscheidung gibt. Deutschland schließt einen Einsatz aus.
BAMAKO/PARIS rtr/dpa | Frankreich hat Mali Militärhilfe zugesagt, um den Vormarsch der islamistischen Rebellen zu stoppen. „Wir werden bereit sein, die Offensive der Terroristen aufzuhalten, wenn sie andauert“, kündigte der französische Präsident Francois Hollande am Freitag in Paris an. Man wolle aber nicht ohne internationale Entscheidung in Mali eingreifen. Sein Land handele „streng im Rahmen der Vereinten Nationen“, sagte Hollande.
Die bisherigen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates würden nach Angaben aus französischen Diplomatenkreisen eine militärische Intervention Frankreichs ermöglichen. „Mit den Resolutionen und der Bitte Malis um Hilfe ist der rechtliche Rahmen für eine direkte Intervention bereits gegeben“, hieß es. Frankreich verfolge die Entwicklung in Mali sehr genau. Seine Unterstützung werde von der Lage dort abhängen.
„Wir sind mit einer klaren Aggression konfrontiert, die die Existenz Malis bedroht“, sagte der französische Präsident Hollande. Auf Bitten der malischen Behörden werde Frankreich dem afrikanischen Land Militärhilfe gewähren. Am Mittwoch will Hollande nach Angaben aus Diplomatenkreisen den malischen Präsidenten in Paris empfangen.
Der UN-Sicherheitsrat bezeichnete die neue Entwicklung nach seiner Dringlichkeitssitzung als ernsthafte Verschlechterung der Sicherheitslage, die die Einheit des Landes bedrohe. Das Gremium war auf Antrag Frankreichs zusammengekommen, das noch aus der Kolonialzeit enge Verbindungen nach Afrika unterhält und dort wirtschaftliche Interessen verfolgt. Eine von den UN beschlossene afrikanische Eingreiftruppe wird wegen klimatischer und logistischer Probleme nicht vor September in Mali erwartet.
Kein Bundeswehreinsatz
Deutschland schließt einen Bundeswehreinsatz in Mali derzeit hingegen aus. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) verwies am Freitag in Berlin darauf, dass auch das Angebot zur militärischen Ausbildungshilfe an die strikte Bedingung geknüpft sei, dass es einen „tragfähigen Fahrplan für die Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung“ gebe. Davon ist man in Mali jedoch weit entfernt.
Die Aufständischen haben die strategisch wichtige Stadt Konna im Norden Malis eingenommen. Nach Angaben von Einwohnern gingen der Eroberung der rund 600 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Bamako gelegenen Stadt die schwersten Kämpfe seit Beginn des Islamisten-Aufstandes vor neun Monaten voraus. Die malische Armee startete eine Gegenoffensive, um die Stadt zurückzuerobern. Bewohner der Region berichteten auch über die Landung ausländischer Soldaten.
„Hubschrauber haben Rebellen-Positionen bombardiert“, hieß es in Militärkreisen in Bamako. „Wir werden den Einsatz fortsetzen“. Bewohner der etwa 60 Kilometer südlich von Konna gelegenen Garnisonsstadt Sevare berichteten über die Ankunft von Militär-Hubschraubern und Verstärkungstruppen, die sich an der Gegenoffensive beteiligten.
Panik in Sevare
Ein Sprecher einer der maßgeblichen Rebellengruppen erklärte jedoch, das Bündnis der Aufständischen habe weiter die Kontrolle über Konna. In den kommenden Tagen wollten die Rebellen auf Sevare und die nahe gelegene Stadt Mopti vorstoßen. In Sevare brach nach dem Fall Konnas Panik aus, Hilfsorganisationen zogen ihre Mitarbeiter aus der Stadt ab. Anwohner berichteten über die Ankunft ausländischer Soldaten am Flughafen von Sevare. Die fremden Truppen hätten geholfen, die Menschen zu beruhigen.
Die französische Regierung wollte sich nicht zu Berichten äußern, wonach in der Nacht mindestens zwei militärische Transportflugzeuge und vier Hubschrauber mit europäisch aussehenden Soldaten am Flughafen gelandet seien.
Das Bundesverteidigungsministerium widersprach einem Bericht der Zeitung Le Figaro, wonach sich bereits deutsche Soldaten in Mali aufhalten. Nach Angaben aus Regierungskreisen in Berlin könnte es sich dabei allenfalls um Deutsch sprechende Angehörige der Fremdenlegion handeln. Der Figaro hatte berichtet, dass deutsche und französische Truppen in der Nähe der Stadt Mopti eingetroffen seien, die im Zentrum Malis liegt.
Westerwelle rief dazu auf, die politischen Bemühungen für ein Ende der Krise nochmals zu verstärken. „Eine allein militärische Lösung wird es nicht geben.“ Zuvor hatte der Außenminister mit seinem französischen Kollegen Laurent Fabius telefoniert. Auch Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) sieht die Voraussetzungen zur Entsendung von deutschen Militärausbildern nach Angaben eines Sprecher „noch nicht gegeben.“ Die EU hatte sich im vergangenen Jahr grundsätzlich bereiterklärt, zur Unterstützung der regulären malischen Armee Militärausbilder zu entsenden.
Der Norden Malis wird seit April von Islamisten beherrscht. Der Aufstand ging von Tuareg-Rebellen aus, die aber von besser bewaffneten und finanzierten Islamisten und Al-Kaida-Kämpfern verdrängt wurden. Der Westen befürchtet, dass sich die Region zum Rückzugsgebiet für militante Extremisten entwickeln könnte. Der UN-Sicherheitsrat hatte Mitte Dezember grünes Licht für eine Entsendung afrikanischer Truppen gegeben.
11.01.2013 | Kampf gegen Dschihadisten
Malische Regierungstruppen versuchen, die Stadt Douentza zurückzuerobern, die von Dschihadisten kontrolliert wird. Doch die Armee ist schlecht ausgerüstet.von Katrin Gänsler
COTONOU taz | Offenbar reicht es der malischen Armee nun wirklich. Nach neunmonatigem Stillstand versuchen Soldaten mehreren Medienberichten zufolge derzeit offenbar, die Stadt Douentza, die seit Monaten unter der Kontrolle von Islamisten steht, zurückzuerobern. Dort hatte sich ab Mitte April die relativ neue Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika (Mujao) ausgebreitet.
Zahlenmäßig ist es eine kleine Gruppierung, die insgesamt nicht einmal auf 1.000 Mitglieder kommen soll. Allerdings soll es ihr gelingen, Kämpfer vor allem aus den Nachbarländern und dem arabischen Raum zu rekrutieren. Diese gelten als hoch motiviert und sehr gut ausgerüstet.
Gegen sie will die malische Armee nun den Kampf aufnehmen. Unklar ist allerdings noch, ob und wie weit die Soldaten tatsächlich bereits ins Zentrum von Douentza vorgedrungen sind, wie die BBC am Donnerstag berichtete. Kämpfe soll es in den vergangenen Tagen ebenfalls in Konna gegeben haben, einer Kleinstadt, die direkt an der Demarkationslinie liegt und knapp 120 Kilometer von Douentza entfernt ist. Außerdem sollen die Regierungstruppen den Besetzern dort bereits mehrere Geländefahrzeuge abgenommen haben.
Es ist das erste Mal seit dem Militärputsch vom 22. März 2012, dass die Armee versucht, gegen Islamisten und Terroristen aktiv zu werden und die von ihnen besetzten Gebiete zurück zu erobern. Beide Orte spielen dabei eine strategisch wichtige Rolle, da sie auf dem Weg in die bedeutendsten Städte des Nordens, Gao und Timbuktu, liegen, deren Rückeroberung als besonders bedeutend gilt.
Allerdings gilt es als sehr zweifelhaft, ob die malische Armee mehr als einen Überraschungsangriff führen kann, wenn es nicht kurzfristig Unterstützung aus dem Ausland gibt. Laut einem Militärexperten in Bamako ist viele Jahre nicht in den Verteidigungshaushalt investiert worden. Das Material, falls es überhaupt noch vorhanden ist, sei veraltet und wenig brauchbar.
Außerdem würde sich nicht einmal genau sagen lassen, wie viele Soldaten die Armee überhaupt noch hat. Schätzungen gehen davon aus, dass es seit dem Putsch lediglich noch 4.500 bis 6.000 sein dürften. Dazu könnten theoretisch mehrere tausend Milizionäre kommen, die in den vergangenen Monaten rund um die Städte Mopti und Sévaré ausgebildet worden sind. Doch sie gelten eher als Kanonenfutter, die in den Lagern nicht viel mehr gelernt haben, als zu marschieren.
Box: Nach der jüngsten Offensive islamistischer Rebellen hat Malis Regierung Frankreich um Unterstützung gebeten. Präsident Dioncounda Traore habe einen Brief mit der Bitte um Hilfe an seinen französischen Kollegen François Hollande sowie an UN-Generalsekretär Ban Ki Moon geschickt, sagte der französische UN-Botschafter Gerard Araud am Donnerstag nach einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats in New York.
Der UN-Sicherheitsrat zeigte sich „tief besorgt“ über die jüngste Eskalation in Mali und rief die UN-Staaten dazu auf, die malischen Streitkräfte und die Sicherheitskräfte des Landes zu unterstützen. „Jetzt muss die Regierung meines Landes eine Entscheidung treffen und die Art der Unterstützung bekannt geben“, sagte Araud. Er kündigte eine Erklärung in Paris für Freitag an. (dapd)
09.01.2013 | Kämpfe und Verhandlungswillen
In Mali wird nach einer politischen Lösung für die Krise gesucht. Gleichzeitig werden Nato-Truppen angefordert. Ein schnelles Eingreifen ist unwahrscheinlich.von Katrin Gänsler
COTONOU taz | Die Zeichen in Mali stehen auf Angriff: Yayi Boni, Vorsitzender der Afrikanischen Union (AU) und Präsident von Benin, hat laut einem BBC-Bericht vom Mittwoch die Nato nun offiziell aufgefordert, Truppen nach Mali zu schicken. Diese sollen bei der Bekämpfung von Islamisten und Terroristen helfen, die den Norden seit neun Monaten besetzen.
Der Mali-Konflikt sei „eine internationale Frage“. Zu den Besetzern gehören unter anderem Anhänger des internationalen Terrornetzwerks al-Qaida. Deshalb müsse die Nato eingreifen, wie sie es auch in Afghanistan getan habe.
Es ist eine Forderung, die in Mali viel Beifall bekommt. Regelmäßig ist in der Hauptstadt Bamako für eine Militärintervention mit internationaler Beteiligung demonstriert worden. Rund um Mopti und Sévaré – die beiden nördlichsten Städte in Zentralmali, die noch unter der Kontrolle der Regierung von Bamako stehen – wollen vor allem Flüchtlinge aus Gao und Timbuktu lieber heute als morgen eine Militärintervention.
Befreiung durch 3.300 Soldaten
Dass die Zeit drängt, hat unlängst auch Interimspräsident Dioncounda Traoré betont. Er sei nicht mehr bereit, monatelang zu warten, bis der Norden, der zwei Drittel der Gesamtfläche ausmacht, von „Terroristen, Drogenhändlern und anderen Kriminellen“ befreit wird.
Doch ein schnelles Eingreifen wird immer unwahrscheinlicher. Zwar hatte der UN-Sicherheitsrat Ende Dezember einer Militärintervention zugestimmt. Unter Federführung der Westafrikanischen Regionalorganisation Ecowas sollen 3.300 Soldaten das Gebiet nördlich von Mopti und Sévaré befreien. Doch Beobachter gehen davon aus, dass ein Eingreifen frühestens im September 2013 möglich ist.
Bis dahin hat Nigeria offenbar bereits einen ersten Rückzieher gemacht. Der westafrikanische Wirtschafts- und Einwohnerriese wollte eigentlich 600 Soldaten stellen. Doch aufgrund der eigenen Sicherheitsprobleme durch die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im Norden und verstärkte Piratenangriffe vor der nigerianischen Küste sollen es nur noch 450 sein, heißt es in der nigerianischen Tageszeitung This Day.
Dabei hatten ausgerechnet nigerianische Ecowas-Vertreter in den vergangenen Monaten immer wieder versucht, ein schnelleres Eingreifen voranzutreiben, und gerne betont: Die Soldaten der Ecowas sind für den Kampf bereit.
Erste Gespräche
Trotz des großen Wunsches nach einer Intervention soll im Nachbarland Burkina Faso noch einmal nach einer friedlichen Lösung gesucht werden. Geplant ist, dass sich ab dem heutigen Donnerstag unter Aufsicht des burkinischen Präsidenten und Chef-Vermittlers in der Mali-Krise, Blaise Compaoré, Vertreter von Ansar Dine (Verfechter des Glaubens), der Befreiungsbewegung von Azawad (MNLA) und der Übergangsregierung von Bamako in Ouagadougou treffen.
Schon Anfang Dezember hatte es erste Gespräche gegeben – ohne Erfolg. Von diesem gehen Beobachter auch jetzt nicht aus, da die Positionen beider Gruppen als zu radikal gelten. Die MNLA bekennt sich zum Staat Azawad, den viele Einwohner im Norden nicht wollen. Ansar Dine hatte zwar angekündigt, künftig jede Form von Extremismus und Terrorismus abzulehnen.
Dennoch ist die Gruppe verhasst, und mit ihrer radikalen Scharia-Auslegung können sich nicht einmal strenggläubige Muslime anfreunden.
02.01.2013 | Was Afrika im Jahr 2012 prägte.
Das Jahr der Rebellen. Kommentar von Dominic Johnson
Milizionäre und Rebellen auf Lastwagen und offenen Pick-ups, die schwerbewaffnet durch den Busch rasen und eine Ortschaft nach der anderen der Kontrolle des Staates entreißen: dieses Phänomen hat Afrika im Jahr 2012 geprägt, von Tuareg-Kämpfern und Islamisten in Mali zu Jahresbeginn bis zu den Séléka-Rebellen in der Zentralafrikanischen Republik zu Jahresende, mit der M23-Rebellion in der Demokratischen Republik Kongo zwischendrin.
Afrikas neue Buschkrieger tauchen blitzartig auf und überrumpeln ihre Gegner, sie sind bestens ausgerüstet und organisiert, sie schaffen schneller Fakten als jede Regierung, sie sind global vernetzt.
Sie erringen spektakuläre Überraschungssiege wie die Ausrufung des Tuareg-Staates „Azawad“ in Mali im März oder die Eroberung der Millionenstadt Goma im Kongo im November, die sich dann ebenso plötzlich wieder in Luft auflösen können. Sie hissen, wenn auch nur kurz, die Fahne der Revolution und rufen in Erinnerung, auf welch tönernen Füßen die postkoloniale afrikanische Staatenordnung steht.
Alte und neue Afrikabilder
Der Weckruf aus Mali, Kongo und der Zentralafrikanischen Republik kommt zur rechten Zeit. Allzu schnell ist in der internationalen Wahrnehmung das althergebrachte Bild von Afrika als Kontinent der Krisen und Katastrophen durch ein neues Bild von Afrika als Kontinent der Hoffnungen und Chancen abgelöst worden. Früher machten Flüchtlinge und Hungernde Schlagzeilen, heute sind es Wachstumsraten und Exportrekorde.
Immer mehr Länder erzielen ein zweistelliges Wirtschaftswachstum, immer größere Rohstoffvorkommen werden entdeckt, immer mehr kapitalkräftige afrikanische Unternehmen entstehen, die gestalterischen Kräfte des Kontinents blühen auf wie nie zuvor. Afrika wird so nachdrücklich als Kontinent der Zukunft gepriesen, dass die nach wie vor triste Gegenwart der allermeisten Afrikanerinnen und Afrikaner darüber leicht in Vergessenheit gerät.
In Wahrheit besteht kein Widerspruch. In manchen Regionen Afrikas boomt die Wirtschaft, in anderen boomen die Konflikte. Die Akteure sind zuweilen identisch, und zwischen beiden Phänomenen besteht ein tieferer Zusammenhang, als Schwarzmalern und Zweckoptimisten recht sein kann.
Damit ist nicht gemeint, dass einfach die Verlierer der Modernisierung zu den Waffen greifen. Afrikas Kriege sind keine Klassenkämpfe, obwohl es auch diese gibt – 2012 war auch das Jahr der Massenstreiks in Südafrikas Bergbau und der Volksaufstände in Senegal. Afrikas neue Kriege entstehen dort, wo die Früchte der Modernisierung nicht ankommen, aber ihre Träger mächtig sind.
Rechtsfreie Räume
Die Wüstenregionen Nordmalis, die Hochländer Ostkongos, die Savannen der Zentralafrikanischen Republik sind Hinterhöfe der jeweils Mächtigen. Sie sind rechtsfreie Räume, in denen manche der Profite entstehen, die dann in den fernen Metropolen in Form von Luxuskonsum und gekaufter Macht sichtbar werden. Hier gelten lästige Gesetze nicht, hier übernimmt der Staat keine Verantwortung.
Wer die Komplexitäten des Fernhandels und der grenzüberschreitenden Sozialgefüge in der Sahara-Wüste oder im Afrika der Großen Seen analysiert, begreift irgendwann, dass das fragile Gleichgewicht zwischen den lokalen Akteuren in Ökonomie und Politik nicht nur über Frieden und Krieg vor Ort entscheidet, sondern auch über die Macht in Hauptstädten wie Bamako und Kinshasa, wenn nicht noch einigen anderen nebenan.
Wenn dieses Gleichgewicht gestört wird – von einem unbedachten Präsidenten, dem seine eigene Wiederwahl wichtiger ist als die Stabilität des eigenen Landes; von ahnungslosen weißen Wohlmeinenden, die aus der Ferne wildgewordene Islamisten oder vergewaltigende Kindersoldaten kleinkriegen wollen; von einem lokalen Spieler, dem seine Schulden über den Kopf gewachsen sind – dann kann schnell alles kippen, und plötzlich verwandeln sich Konkurrenten in Konfliktparteien.
Es gibt noch mehr solche rechtsfreien Räume in Afrika, von Nigerias Ölgebieten im Niger-Flussdelta über die fruchtbaren Savannen Südsudans bis zu den Küsten Somalias. Ihre Reichtümer strahlen ebenfalls in die Metropolen aus, von Lagos bis Nairobi. Sie sind ebenfalls Krisengebiete, wenngleich derzeit weniger aufsehenerregend.
Waffen statt Wahlurnen
All diese Gebiete sind ein integraler Teil der afrikanischen Modernisierung. Wenn Afrikas aufstrebende Staaten nicht dauerhaft am Tropf fremder Geber und Investoren kleben wollen, sondern aus der eigenen Kraft schöpfen, brauchen sie solche Hinterhöfe, egal wie schmutzig sie sind. Denn hier können die Teilhaber am politischen und ökonomischen Wettbewerb der Hauptstädte ihre Machtbasen stärken und ihre Pfründe sichern.
Die meisten von ihnen sind zu intelligent, um sich selbst als Warlords zu inszenieren. Sie treten lieber als Friedensbringer auf, die als Einzige wissen, wie man für Recht und Ordnung sorgt, und sie konstruieren dafür Abhängigkeitsverhältnisse, die nur sie selbst durchschauen und kontrollieren.
Je schneller Afrika boomt, desto schärfer wird der Wettbewerb zwischen den potenziellen Gewinnern und desto mehr Mittel haben sie zur Verfügung, um diesen Wettbewerb auch mit der Waffe auszutragen. Die Bewohner der rechtsfreien Räume sind dabei dankbare Mitspieler, denn nur so erhalten sie plötzlich auch einmal die Chance auf Mitgestaltung.
Es ist ja keineswegs selbstverständlich, dass die Waffe ein attraktiveres Werkzeug des Wandels ist als die Wahlurne. Internationale Rankings haben erbracht, dass in vielen solchen Ländern Afrikas, in denen die „menschliche Entwicklung“ spürbare Fortschritte macht, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit in den letzten Jahren zurückgegangen sind.
Und während die meisten afrikanischen Länder formelle Demokratien geworden sind, ist der Wandel an der Wahlurne bis heute die große Ausnahme und der Missbrauch des demokratischen Prozesses zur Festigung autokratischer Macht die Regel.
Autoritarismus und Mafiakapitalismus bringen Afrika zu einer neuen Blüte. Jetzt ist die Kehrseite davon zu sehen. Afrikas neue Kriege sind die Stunde der Wahrheit.
22.12.2012 | Afisma heißt die Rettung
Die letzte Hürde auf dem Weg zu einer Militärintervention in Mali ist genommen, aber schnell wird es nicht gehen. Mit Taten ist nicht vor Herbst 2013 zu rechnen.von Dominic Johnson
BERLIN taz | Die letzte diplomatische Hürde auf dem Weg zu einer internationalen Militärintervention in Mali ist genommen. Der UN-Sicherheitsrat billigte in der Nacht zum Freitag mit der einstimmig angenommenen Resolution 2085 die Stationierung einer „Afrikanisch geführten Internationalen Unterstützungsmission in Mali“ (Afisma) für die Dauer eines Jahres.
Die Truppe mit 3.300 Mann wird voraussichtlich von der Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) gestellt. Gemeinsam mit der EU soll sie Malis Sicherheitskräfte neu aufbauen. Die sind seit dem Verlust der Hälfte ihres Landes an Tuareg-Rebellen und Islamisten in einem desaströsen Zustand. Schließlich soll Afimsa „die malischen Behörden darin unterstützen, die Gebiete im Norden ihres Territoriums unter Kontrolle terroristischer, extremistischer und bewaffneter Gruppen wiederzuerlangen“.
Zudem verlangt die Resolution die volle Umsetzung der geltenden Demokratisierungspläne für Mali. Die waren unter Ecowas-Vermittlung nach der kurzzeitigen Machtergreifung durch das Militär im März 2012 ausgehandelt worden. Es sollen demnach „bis April 2013 oder sobald technisch möglich“ Wahlen stattfinden. Weiter sollen die Rebellen in Nordmali „alle Verbindungen zu terroristischen Gruppen kappen“. Wenn sie das tun und die Einheit Malis anerkennen, solle die Regierung mit ihnen Verhandlungen aufnehmen.
Die Forderung nach einem eigenen Tuareg-Staat im Norden Malis, die am Ursprung der dortigen Rebellion stand, wird damit endgültig zurückgewiesen. Eine Tür für die Rebellen bleibt jedoch offen, falls sie nicht mehr mit Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) kooperieren.
Ein schnelles Eingreifen wird es nicht geben. Die Resolution betont, dass „vor Beginn der offensiven Operation die Militärplanung weiter vorangetrieben werden muss“. Der UN-Generalsekretär müsse „vorab die Zufriedenheit des Rats mit der geplanten Militäroperation bestätigen“. Mit Taten wird nicht vor September 2013 gerechnet. Ob dafür eine zweite UN-Resolution nötig ist, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob bei einem Erfolg der Wahlen und Gespräche noch ein Eingreifen nötig sein wird.
21.12.2012 | Warten auf die Rettung
Die UN hat grundsätzlich einen Militäreinsatz in Mali gebilligt. Ein Großteil der Bevölkerung ist dafür und will zurück zur Demokratie. Aber ist das überhaupt möglich?von Katrin Gänsler
BAMAKO taz | Die Eingreifresolution des UN-Sicherheitsrates für Mali dürfte Ibrahima N’Diaye gefreut haben. Immer wieder hat der Vizechef der Allianz für Demokratie in Mali (Adema), der Partei des Interimspräsidenten Dioncounda Traoré, in den vergangenen Wochen eine militärische Intervention im Norden Malis gegen die dortigen Islamisten gefordert.
Denn für einen Dialog mit den bewaffneten Gruppen im Norden sieht er kaum Chancen. „Es muss Aspekte geben, über die sich verhandeln lässt“, sagt er. Auf Nachfrage fällt ihm aber nur ein, worüber keinesfalls verhandelt werden kann: weder über die Abspaltung des Nordens noch über die flächendeckende Einführung der Scharia.
Damit spricht N’Diaye vielen Maliern aus der Seele. Die Mehrheit der Bevölkerung ist für eine schnelle militärische Intervention. Sie ist das Hin und Her seit dem Militärputsch vom 22. März, der die damalige gewählte Regierung stürzte und Tuareg-Rebellen und Islamisten im Norden die Eroberung des gesamten Landesteils ermöglichte, leid und will, dass rasch gehandelt wird – für die Wiedervereinigung des Landes und für die Wiederherstellung der Demokratie.
So wird in Mali neben der Intervention auch die Frage von Wahlen heiß diskutiert. Laut Ibrahima N’Diaye soll so zügig wie möglich gewählt werden. Doch einhergehen müsse das mit der Befreiung des Nordens.
Für Oumar Mariko, Generalsekretär der Partei Afrikanische Solidarität für Demokratie (SADI), lässt sich das Problem nicht mit einem internationalen Militäreinsatz lösen. Mariko steht den Miltärputschisten nahe, die zwar nicht mehr regieren, aber immer noch erhebliche Macht ausüben. Die Militärs lehnen eine ausländische Militärintervention ab, weil sie lieber unter sich bleiben wollen. Mariko hat an politischen Gesprächen in Ouagadougou mit Vertretern der Rebellen teilgenommen und hält einen Dialog für möglich, sofern ein paar „grundsätzliche Prinzipien“ beachtet werden.
Für ihn heißt das: „Man darf niemandem eine Religion aufzwingen. Wenn die Staatsform geändert werden soll, dann müssen das die Malier tun. So etwas darf nicht von außen geschehen.“ Außerdem will er eine Regierung, die demokratisch legitimiert ist und der keine ernannten Politiker wie Präsident Traoré und der neue Interimspremier Diango Cissoko angehören.
Finanzielle Unterstützung eingefroren
Auf internationaler Ebene wird regelmäßig für baldige Wahlen in Mali plädiert, auch in der UN-Resolution. Als Termin wird immer wieder der April 2013 genannt, worauf ganz besonders stark die westafrikanische Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) pocht. Die soll nach diesen Wahlen den am Freitag von der UNO erlaubten Militäreinsatz in Mali leiten.
Denn viele internationale Geber haben ihre finanzielle Unterstützung für Mali eingefroren, weil die nach dem Militärputsch eingesetzte Übergangsregierung nicht als demokratisch legitimiert gilt. Je schneller neu gewählt wird, desto schneller fließt wieder Hilfe von außen.
Doch wie soll Mali wählen, wenn der Staat die Hälfte des Staatsgebietes nicht kontrolliert? Möglich wäre es, nur im Süden wählen zu lassen. In ein neues Wahlregister aufgenommen werden könnten die gut 204.000 Flüchtlinge aus dem Norden. Denkbar wäre außerdem, Wahllokale in den Nachbarländern zu öffnen, in die sich weitere rund 208.000 Menschen aus Nordmali gerettet haben.
An eine so zügige Lösung glaubt der Tuareg-Politiker Ahmed Mohamed ag Hamani, von 2002 bis 2004 Premierminister und damals der erste Tuareg-Regierungschef der malischen Geschichte, auf keinen Fall. Seiner Meinung nach braucht es dazu drei Jahre. „Mir sagen alle, das sei zu lang.“ Doch Priorität habe die Befreiung des Nordens. Dann müssten die Flüchtlinge zurückkehren und Verwaltungsstrukturen wiederaufgebaut werden. „Erst dann können wir überhaupt über Wahlen sprechen.“
In den Straßen der südmalischen Städte gibt es zwar häufige Polizeikontrollen. Aber diese schaffen es nicht, das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. „Die Lage innerhalb der Polizei ist katastrophal“, gibt ein Polizist aus Bamako zu. Es gebe keine Disziplin, keine Kontrolle mehr. Daher hält er es für ziemlich ausgeschlossen, dass die Polizei im Fall von Wahlen für Sicherheit sorgen könnte.
Die UN hat grundsätzlich einen Militäreinsatz in Mali gebilligt. Ein Großteil der Bevölkerung ist dafür und will zurück zur Demokratie. Aber ist das überhaupt möglich?von Katrin Gänsler
Als im Norden Malis die Scharia eingeführt wurde, flüchtete diese Familie in den Süden. Bild: dapd
BAMAKO taz | Die Eingreifresolution des UN-Sicherheitsrates für Mali dürfte Ibrahima N’Diaye gefreut haben. Immer wieder hat der Vizechef der Allianz für Demokratie in Mali (Adema), der Partei des Interimspräsidenten Dioncounda Traoré, in den vergangenen Wochen eine militärische Intervention im Norden Malis gegen die dortigen Islamisten gefordert.
Denn für einen Dialog mit den bewaffneten Gruppen im Norden sieht er kaum Chancen. „Es muss Aspekte geben, über die sich verhandeln lässt“, sagt er. Auf Nachfrage fällt ihm aber nur ein, worüber keinesfalls verhandelt werden kann: weder über die Abspaltung des Nordens noch über die flächendeckende Einführung der Scharia.
Damit spricht N’Diaye vielen Maliern aus der Seele. Die Mehrheit der Bevölkerung ist für eine schnelle militärische Intervention. Sie ist das Hin und Her seit dem Militärputsch vom 22. März, der die damalige gewählte Regierung stürzte und Tuareg-Rebellen und Islamisten im Norden die Eroberung des gesamten Landesteils ermöglichte, leid und will, dass rasch gehandelt wird – für die Wiedervereinigung des Landes und für die Wiederherstellung der Demokratie.
So wird in Mali neben der Intervention auch die Frage von Wahlen heiß diskutiert. Laut Ibrahima N’Diaye soll so zügig wie möglich gewählt werden. Doch einhergehen müsse das mit der Befreiung des Nordens.
Für Oumar Mariko, Generalsekretär der Partei Afrikanische Solidarität für Demokratie (SADI), lässt sich das Problem nicht mit einem internationalen Militäreinsatz lösen. Mariko steht den Miltärputschisten nahe, die zwar nicht mehr regieren, aber immer noch erhebliche Macht ausüben. Die Militärs lehnen eine ausländische Militärintervention ab, weil sie lieber unter sich bleiben wollen. Mariko hat an politischen Gesprächen in Ouagadougou mit Vertretern der Rebellen teilgenommen und hält einen Dialog für möglich, sofern ein paar „grundsätzliche Prinzipien“ beachtet werden.
Für ihn heißt das: „Man darf niemandem eine Religion aufzwingen. Wenn die Staatsform geändert werden soll, dann müssen das die Malier tun. So etwas darf nicht von außen geschehen.“ Außerdem will er eine Regierung, die demokratisch legitimiert ist und der keine ernannten Politiker wie Präsident Traoré und der neue Interimspremier Diango Cissoko angehören.
Finanzielle Unterstützung eingefroren
Auf internationaler Ebene wird regelmäßig für baldige Wahlen in Mali plädiert, auch in der UN-Resolution. Als Termin wird immer wieder der April 2013 genannt, worauf ganz besonders stark die westafrikanische Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) pocht. Die soll nach diesen Wahlen den am Freitag von der UNO erlaubten Militäreinsatz in Mali leiten.
Denn viele internationale Geber haben ihre finanzielle Unterstützung für Mali eingefroren, weil die nach dem Militärputsch eingesetzte Übergangsregierung nicht als demokratisch legitimiert gilt. Je schneller neu gewählt wird, desto schneller fließt wieder Hilfe von außen.
Doch wie soll Mali wählen, wenn der Staat die Hälfte des Staatsgebietes nicht kontrolliert? Möglich wäre es, nur im Süden wählen zu lassen. In ein neues Wahlregister aufgenommen werden könnten die gut 204.000 Flüchtlinge aus dem Norden. Denkbar wäre außerdem, Wahllokale in den Nachbarländern zu öffnen, in die sich weitere rund 208.000 Menschen aus Nordmali gerettet haben.
An eine so zügige Lösung glaubt der Tuareg-Politiker Ahmed Mohamed ag Hamani, von 2002 bis 2004 Premierminister und damals der erste Tuareg-Regierungschef der malischen Geschichte, auf keinen Fall. Seiner Meinung nach braucht es dazu drei Jahre. „Mir sagen alle, das sei zu lang.“ Doch Priorität habe die Befreiung des Nordens. Dann müssten die Flüchtlinge zurückkehren und Verwaltungsstrukturen wiederaufgebaut werden. „Erst dann können wir überhaupt über Wahlen sprechen.“
In den Straßen der südmalischen Städte gibt es zwar häufige Polizeikontrollen. Aber diese schaffen es nicht, das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. „Die Lage innerhalb der Polizei ist katastrophal“, gibt ein Polizist aus Bamako zu. Es gebe keine Disziplin, keine Kontrolle mehr. Daher hält er es für ziemlich ausgeschlossen, dass die Polizei im Fall von Wahlen für Sicherheit sorgen könnte.
21.12.2012 | Friedensmission für Mali
Die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats haben sich einstimmig für eine Militärmission im Mali ausgesprochen. Die Finanzierung ist noch ungeklärt.
NEW YORK afp | Der UN-Sicherheitsrat hat einen Militäreinsatz in der westafrikanischen Republik Mali gebilligt. In der am Donnerstag in New York einstimmig beschlossenen Resolution wird die Mission der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), mit der der Norden des Landes aus den Händen islamistischer Rebellen befreit werden soll, vorerst auf ein Jahr begrenzt. Zunächst soll die Übergangsregierung jedoch einen politischen Dialog beginnen.
Die geplante Intervention von ECOWAS-Truppen soll von der EU mit einer Ausbildungstruppe unterstützt werden. Ein genauer Zeitplan wird in dem Text nicht vorgelegt.
Die Resolution 2085 fordert die Übergangsregierung in Bamako auf, zunächst politische Gespräche aufzunehmen, „um die verfassungsmäßige Ordnung vollständig wieder herzustellen“. Dazu sollten noch vor April 2013 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden.
In den Verhandlungen soll demnach versucht werden, die Tuareg-Rebellen für ein Bündnis gegen die Islamisten zu gewinnen, die den Norden Malis kontrollieren. Militärische Gewalt solle erst angewendet werden, wenn alle politischen Bemühungen ausgeschöpft sind.
Einsatzpläne überprüfen
Zudem müssten die Einsatzpläne zum gegebenen Zeitpunkt nochmals geprüft und gebilligt werden, bevor eine Offensive tatsächlich starten kann. Nach Einschätzung von Diplomaten dürfte dies nicht vor Herbst 2013 geschehen.
Die Resolution war von Frankreich ausgearbeitet und vor allem von den USA, Großbritannien, Marokko und Togo unterstützt worden. Malis Außenminister Tieman Coulibaly begrüßte die Verabschiedung des Textes als „historischen Schritt“ im Kampf gegen die Extremistengruppe Al-Kaida im Islamischen Maghreb (Aqmi) und ihre Verbündeten.
„Keine Kriegserklärung“
Der französische UN-Botschafter Gérard Araud betonte, die Entschließung sei „keine Kriegserklärung“. Eine Militäroffensive werde es erst geben, wenn der politische Prozess erfolgreich gewesen sei.
Malis Präsident Amadou Toumani Touré war im März durch unzufriedene Soldaten gestürzt worden. Tuareg-Rebellen brachten darauf innerhalb weniger Tage gemeinsam mit Islamisten den Norden des Landes unter ihre Kontrolle. Anschließend vertrieben die Islamisten die Tuareg aus den wichtigsten Städten und riefen das islamische Recht der Scharia aus. Die 15 ECOWAS-Mitgliedsstaaten beschlossen Mitte November, eine 3.300 Mann starke Eingreiftruppe zu entsenden und den Sicherheitsrat um Zustimmung gebeten.
Die Übergangsregierung in Bamako stimmte erst nach langem Zögern einer Intervention zu. Die Europäische Union will den Kampfeinsatz mit einer militärischen Ausbildungstruppe unterstützen.
Auch Einsatz der Bundeswehr möglich
Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) stellte eine Beteiligung der Bundeswehr daran in Aussicht. Diese müsse allerdings klar vom Kampfeinsatz getrennt sein. Unklar ist noch die Finanzierung des Einsatzes, der laut Diplomaten mindestens 150 Millionen Euro pro Jahr kosten dürfte.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon verärgerte die afrikanischen Staaten, als er erklärte, die UNO könne nicht die Truppe finanzieren. Er muss nun Wege finden, um Geld für die logistische Unterstützung der Soldaten aufzutreiben, wie Diplomaten erläuterten.
In der Resolution selbst werden UN-Mitgliedsstaaten und internationale Organisationen aufgefordert, die neue Mission AFISMA finanziell zu unterstützen.
19.12.2012 | Jede ist mal an der Reihe
Die Stadt Mopti ist ein Anlaufpunkt für viele Flüchtlinge aus dem Norden Malis. Die einen warten ab, die anderen wollen kämpfen.von Katrin Gänsler
MOPTI taz | Das Zentrum von Mopti gleicht einem riesigen Grabbeltisch. Am Straßenrand verkauft ein Händler abgetragene Jeans, Hemden und T-Shirts aus Europa, einen Stand weiter gibt es Handys und DVDs in schlechter Qualität. Ab und zu quäkt die Fahrradhupe eines Getränkeverkäufers.
Jungen ziehen mit ihren schmutzigen Plastikschüsseln durch die Straßen, rezitieren Auszüge aus dem Koran und betteln auf diese Weise um etwas Essen oder Geld. Und sobald einer der Überlandbusse ankommt, stürzen sich die Taxifahrer auf die wenigen Passagiere, die aus dem Süden kommen und in Mopti aussteigen.
Zugenommen haben in Mopti nur die Polizeikontrollen. Heute stehen die Beamten an jeder Kreuzung und an jedem Kreisverkehr. Besonders am Ortseingang der Stadt, in der offiziell 85.000 Menschen leben, kontrollieren sie. Fahrzeugpapiere, Führerschein, Versicherungskarte und der obligatorische Blick in den Kofferraum.
Der Norden Malis
Box: Die Lage ist unübersichtlich. Die Befreiungsbewegung MNLA, der überwiegend Tuareg angehören, hatte am 6. April 2012 den Staat Azawad ausgerufen. Zeitgleich begann die bis dahin unbekannte Gruppe Ansar Dine (Verfechter des Glaubens) die von der MNLA besetzten Städte im Norden zu erobern. Ansar Dine kündigte an, aus Mali einen islamischen Staat zu machen. Das lehnt die MNLA jedoch ab. Mit beiden Gruppen gab es Anfang Dezember erste Gespräche im Nachbarland Burkina Faso, ohne großen Erfolg. Nördlich des Nigers haben sich zudem die Gruppen Mujao (Vereinigung für Einheit und Dschihad in Westafrika) sowie AQMI, der westafrikanische al-Qaida-Flügel, ausgebreitet. In Mali gelten die Terroristen mittelfristig als größeres Problem.
Das hat damit zu tun, dass Mopti so gerade eben zum Süden des Landes gehört. Bis nach Douentza – dort herrschen längst die radikalen Islamisten von Ansar Dine (Verfechter des Glaubens) – sind es knapp 200 Kilometer. Dazwischen liegt die Grenze zu Azawad, jenem Staat, den die Befreiungsbewegung von Azawad (MNLA) am 6. April ausgerufen hat und der bei vielen Maliern nur noch eins auslöst: Wut. Mali gilt vor allem im Süden den allermeisten Menschen als unteilbar.
Das malische Venedig
Auch für Issa Ballo, der in seinem Büro im Zentrum von Mopti sitzt. Eigentlich könnte er seine Autovermietung gleich schließen. „An diesem Wochenende kommen keine Touristen“, sagt Ballo, der seine Kunden früher ins Land der Dogon oder zur großen Lehmmoschee von Djenné gefahren hat. An diese Zeiten erinnern nur noch ein paar alte, vergilbte Plakate, die am Boden stehen.
Eines wirbt für „Mopti – das Venedig von Mali“. Doch in das malische Venedig traut sich niemand mehr. Das sei für die ganze Region katastrophal, sagt Ballo. Denn knapp 70 Prozent der Einnahmen in der Gegend wären durch den Tourismus erwirtschaftet worden. Dass dieser nun völlig brachliege, sei kein Luxusproblem. „Jeder hängt vom Tourismus ab: die Gemüsefrauen, die Fischer, die Jungs, die Zigaretten und Wasser verkaufen – alle.“
Ballo blickt auf die Straße. Fünf Jahre, so schätzt er, dürfte es brauchen, bis sich Mopti erholt – wenn es denn eine Lösung für den Konflikt im Norden gäbe. „Wir brauchen Frieden, Sicherheit und Stabilität, erst dann kommen die Kunden wieder“, sagt der Autovermieter. Er kann es den Touristen nicht verdenken. Wer will schon Urlaub kurz vor der Frontlinie machen?
Den Norden haben nach Angaben des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR) bisher 412.000 Menschen verlassen. Knapp die Hälfte – 204.000 Menschen – fanden im Süden Malis Unterschlupf. Auch die Einwohnerzahlen von Mopti sowie der Nachbarstadt Sévaré sind stark gewachsen. Unterkunft bieten den Flüchtlingen häufig Verwandte.
Eine Kuh und ein paar Ziegen
Über den Hof von Almadane Diakite toben zehn Kinder. Das kleinste wird von seiner Mutter gestillt, die zusammen mit anderen Frauen auf einer Strohmatte im Schatten sitzt. Unter einem niedrigen Dach stehen eine Kuh und ein paar Ziegen – die eiserne Reserve für den Notfall – und knabbern an geschnittenen Grashalmen. Aus dem Haus dudelt ein Radio.
Auf Songhay besprechend die Frauen, wer heute das Essen kochen wird, vor allem aber, was es gibt. „Jeder ist mal an der Reihe“, sagt Almadane Diakite. Heute ist die Tochter ihres Bruders dran. Für 30 Menschen soll die 20-jährige Fattyta Cisse Pâte – einen Hirsebrei – zubereiten. Ein bisschen Soße gibt es dazu. Für etwas Fleisch reicht das Geld schon lange nicht mehr.
Seit der Unabhängigkeitserklärung des Nordens teilen sich die dreißig Menschen auf dem Hof der Familie Diakite fünf Zimmer und versuchen, jeden Tag genügend Essen zu besorgen. „Was hätte ich denn machen sollen? Irgendwo müssen sie ja hin“, sagt Almadane Diakite, die auf einem wackeligen Plastikstuhl sitzt. Insgesamt 25 Personen hat sie aufgenommen. Neben ihrem Sohn, der bisher in Timbuktu gelebt hat, sind es ihre Neffen und Nichten aus Gao.
Modische Frisur
Ihre Nichte Fattyta Cisse ist froh, dass sie die Stadt noch rechtzeitig verlassen konnte. Die radikalen Vorstellungen der Islamisten haben ihr Angst eingejagt, besonders die Einführung der Scharia. Fattyta trägt einen Kurzhaarschnitt mit bunten Strähnchen. „Im Norden leben?“, ruft sie, während sie das Holz zum Kochen zusammensucht. „Auf keinen Fall. Ich will mich doch nicht verschleiern!“ Ihre Cousinen nicken, keine von ihnen trägt einen Schleier. Und alle haben modische Frisuren. „Natürlich“, grinst Fattyta, die junge Muslimin.
Ob und wann sie wieder nach Gao zurückgeht? Auf diese Frage zuckt sie mit den Schultern. „Wenn es wieder ruhiger geworden ist“, sagt sie und verschränkt die Arme. Doch bis das der Fall sein wird, heißt es für sie in Mopti ausharren, warten und darauf hoffen, dass der Mann von Tante Almadane genügend Geld aus Bamako schickt. Er ist dorthin gezogen, um etwas mehr Geld für die neue Großfamilie zu verdienen. In Sévaré gibt es kaum noch Verdienstmöglichkeiten.
Die Rekrutin
Ausharren will Aïssata Amadou auf keinen Fall. Sie ist genauso alt wie Fattyta Cisse und stammt ebenfalls aus Gao. Jetzt steht sie in der Nähe des großen Krankenhauses von Sévaré in der Sonne und hat die Lippen fest aufeinandergebissen. Die junge, magere Frau trägt ein schwarzes T-Shirt und schaut auf den sandigen Platz. In Gedanken scheint sie weit weg zu sein. Doch jetzt muss sie ran. Wieder einmal wird das Marschieren geübt. Gemeinsam mit 50 anderen jungen Leuten trainiert sich Aïssata Amadou den richtigen energischen Schritt an. Stiefel gibt es nicht. Flipflops müssen reichen.
Die 20-Jährige und die übrigen jungen Leute gehören der FLN – den Befreiungskräften für den Norden – an. Es ist eine von mehreren Milizengruppen, die seit April in Mali Anhänger sammeln und den Norden zurückerobern wollen. 1.026 Kämpfer habe die FLN, sagt Moussa Traoré, der die Ausbildung von Aïssata Amadou und der anderen Rekruten übernommen übernommen hat.
Viele stammen aus dem Norden, doch die Bewegung sei offen für alle ethnischen Gruppen. Die 50 Rekruten, die an diesem Tag da sind, reihen sich nun um Traoré herum auf und singen gemeinsam. Aïssata Amadou taut auf und vergisst ihren strengen Blick. Sie lacht und macht mit der Handykamera kurze Filmchen von ihren Kameraden.
Dabei hat sie vom Marschieren und den Gesängen eigentlich genug. Sie will kämpfen und den Norden zurückerobern. „Ich bin hier für mein Land“, sagt sie und ist ganz und gar nicht damit einverstanden, was in ihrer Heimatstadt Gao passiert ist. „Es geht nicht, dass man einfach die Unabhängigkeit erklärt, ohne uns zu fragen“, sagt die 20-Jährige. Ihre Antworten sind kurz und knapp. Die Scharia will sie zwar auch nicht. Doch sauer ist sie vor allem auf die MNLA. Die Rebellenbewegung, der überwiegend Tuareg angehören, hätte Mali die ganzen Probleme beschert und die Region für alle anderen radikalen Gruppen geöffnet.
Eine von fünf
Aïssata Amadou will das wieder rückgängig machen. Doch ob sie und die übrigen Milizen tatsächlich etwas gegen die radikalen Gruppierungen ausrichten können, gilt als fraglich. Die Armee, so erklärt ihr Ausbilder Traoré, unterstütze die Milizen zwar nach allen Kräften und stelle zum Beispiel Waffen und Munition für das Schießtraining zur Verfügung. Doch heute heißt es mal wieder nur: marschieren und die Motivation bewahren. „Kämpft für euer Land“, brüllt Moussa Traoré über den Platz.
„Ihr macht das für Mali. Mali soll eins bleiben.“ Noch treibt es sie an, auch Aïssata Amadou, die eine von fünf Frauen auf dem Platz ist. „Natürlich habe ich keine Angst. Gerade als Frau muss ich kämpfen.“ Diese Einstellung könne vielleicht ein wenig Druck auf die Armee ausüben, hofft jemand aus Sévaré. Denn zumindest stimme bei den Milizen die Motivation.
Nach dem Appell hat Aïssata Amadou Pause. Die junge Frau setzt sich auf die Stufen des kleinen Hauses, in dem sie mit den anderen Frauen schläft. Auf dem kleinen Kocher wird schwarzer, bitterer Tee zubereitet. Die 20-Jährige kneift die Augen zusammen und zeigt auf die Flagge, die auf dem Appellplatz steht. Die sei Zeichen ihrer Heimat. „Wir haben schon viel zu lange gewartet und müssen sie endlich wieder befreien.“
12.12.2012 | Profilloser Premier, kaputter Staat
Das Militär in Mali setzt den bisherigen Übergangspremier ab. Der unbekannte Karrierebeamte Diango Cissoko wird zum neuen Regierungschef ernannt.von Katrin Gänsler.
BAMAKO taz | Bei seiner Ernennung am späten Dienstagabend wusste man nicht einmal, wie der Name des neuen Premierministers von Mali richtig geschrieben wird. Und auch bei vielen Maliern in Bamako hat Diango Cissoko, der zunächst als „Django Sissoko“ durch die Medien geisterte, für Rätselraten gesorgt.
Dabei ist der 62-Jährige, der im Eilverfahren von Interimspräsident Dioncounda Traouré zum neuen Regierungschef ernannt wurde, im krisengeschüttelten Sahelstaat alles andere als ein Unbekannter, wenn er auch im Land selbst als jemand gilt, der kaum sichtbar ist. Seit seinem Abschluss an der staatlichen Verwaltungsschule in Bamako 1971 hat Cissoko unter verschiedenen Regierungen für den malischen Staat gearbeitet. Bis Mai 2011 war er Generalsekretär des damaligen Präsidenten Amadou Toumani Touré (ATT) und zuletzt Vermittler des Staates.
Jetzt soll der promovierte Jurist sein Land so schnell wie möglich aus der Krise führen und „die Blockade auflösen“. So hat es Armeehauptmann Amadou Haya Sanogo im Staatsfernsehen gefordert. Sanogo ist der noch immer überaus mächtige Anführer der Militärputschisten, die im März Präsident ATT gestürzt hatten und seit ihrem Rückzug von der Macht schon mehrere Übergangsregierungen zu Fall gebracht haben. Erst in der Nacht zu Dienstag hatte Sanogo den bisherigen Premierminister Cheick Modibo Diarra absetzen und kurzzeitig verhaften lassen.
Rückeroberung des Nordens
Nach anfänglichem Rätselraten über den neuen Regierungschef und Wut über Sanogos Muskelspiele besteht in der malischen Hauptstadt nun tatsächlich ein wenig Hoffnung, dass sich die eingefahrene Situation jetzt ändern könnte. Der gut vernetzte Journalist Hamidou Konaté sagt, dass immer weniger Menschen Vertrauen in Cheick Modibo Diarra gehabt hatten. „Er war lange Zeit gar nicht im Land und ließ sich in Paris behandeln“, kritisiert Konaté. Außerdem hätte er sich zu wenig um die Entwicklung Malis gekümmert. „Wir waren häufig geschockt, wie er in der Öffentlichkeit auftrat. Dabei war er niemand, der überhaupt gewählt worden ist“, so Konaté weiter.
Jetzt muss Diango Cissoko beweisen, dass er es besser kann. Oberstes Ziel ist die Rückeroberung des Nordens, der seit Monaten von radikalen Islamisten kontrolliert wird. Ob sich das durch Dialog oder doch durch einen Militäreinsatz ändern soll, dazu hat sich Cissoko bisher allerdings noch nicht geäußert.
11.12.2012 | Regierung weg, Land weg, Geduld weg
Nach der Verhaftung des Premierministers tritt die Regierung ab, Mali wird immer führungsloser. In der Hauptstadt blickt niemand mehr durch.von Katrin Gänsler
BAMAKO taz | „Was für eine Überraschung!“, ruft Ibrahim Keita. Der Mann mittleren Alters sitzt im Anzug vor der Tür seines kleinen Hauses im Zentrum von Bamako. Neben ihm sitzen ein paar Freunde. Im Radio laufen die Nachrichten. Die Männer trinken starken, schwarzen Tee mit viel Zucker und haben nur ein Thema. „Was wird jetzt mit Mali passieren?“, fragt einer laut in die Runde. Ibrahim Keita antwortet: „Das wissen wir doch alles nicht.“
In der Nacht zu Dienstag hat das Militär den malischen Premierminister Modibo Diarra verhaftet. Eigentlich wollte Diarra zu einer medizinischen Untersuchung nach Paris fliegen. Doch Soldaten verhafteten ihn in seinem Wohnhaus, bevor er abreisen konnte.
Mittlerweile ist er zwar wieder freigelassen, doch nun steht Mali ohne Regierung da. Deren kompletten Rücktritt kündigte Diarra nach seiner Freilassung in einer kurzen Ansprache im Staatsfernsehen an.
Die Soldaten, die gegen den Premier vorgingen, gehören zum Umfeld von Kapitän Amadou Haya Sanogo, der schon einmal im März per Militärputsch die damalige gewählte Regierung Malis gestürzt hatte.
Im Zuge dieses Ereignisses hatten Tuareg-Rebellen die Kontrolle über Malis Nordhälfte errungen und einen eigenen Staat „Azawad“ ausgerufen.
Während in Bamako die Putschisten zugunsten einer Übergangsregierung wieder zurücktraten, aber weiter erheblichen Einfluss ausübten, drängten im Norden radikale Islamisten die Tuareg-Rebellen an den Rand. Über eine internationale Militärintervention in Mali gegen die islamistischen Gruppen, die al-Qaida nahestehen sollen, wird seit Monaten spekuliert.
Kein neuer Putsch
„Es handelt sich hier nicht um einen neuen Putsch“, bewertet Annette Lohmann, Leiterin des Büros der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako, die neue Lage. Vielmehr gebe es wohl unüberbrückbare Unstimmigkeiten zwischen dem Militär und Premierminister Diarra.
Letzterer hat eine Intervention gegen die Islamisten im Norden mit ausländischen Streitkräften befürwortet. Internationale Truppen will der einstige Putschistenführer Sanogo bei einer möglichen Intervention aber auf keinen Fall dabei haben.
„Eine Unterstützung in Form von logistischer oder finanzieller Art ist durchaus willkommen. Aber die Putschisten haben Angst, dass sie an Einfluss verlieren oder an die Wand gedrängt werden könnten. Deshalb lehnen sie das ab“, sagt Lohmann.
Bevölkerung ist gegen Dialog
Auf eine breite Zustimmung der Bevölkerung kann keine der bewaffneten Gruppen im Norden Malis setzen, egal ob Tuareg oder Islamisten. Alle Gruppen gelten als Bewegungen von Minderheiten. Deswegen stößt ein Dialog mit den Rebellen, egal welchen, in der Bevölkerung nicht auf Zustimmung.
Sie ist nur noch genervt und frustriert. Die Menschen wollen keinen langen politischen Konfliktlösungsprozess, sondern ein schnelles Ende der Krise, egal wie.
„Ich komme aus Gao“, sagt Ibrahim Keita – Gao ist die größte Stadt im Norden Malis. „Ich habe dort noch immer Familie. Wir leiden fürchterlich. Es muss sich schnell etwas tun.“
Dafür haben erst vor ein paar Tagen auch mehrere hundert Menschen im Zentrum Bamakos demonstriert. „Ich will auf gar keinen Fall, dass mit denen verhandelt wird“, hat Sidibé Oumar beispielsweise am Samstag lauthals über die Straße gebrüllt – eine Anspielung auf die Gespräche, die Anfang Dezember erstmalig in Ouagadougou in Burkina Faso stattgefunden haben.
Gespräche sind Zeitverschwendung
Mit am Tisch saß die Tuareg-Rebellenbewegung MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad) sowie die radikalislamistische Gruppe Ansar Dine. Eine Einigung hat es dabei aber nicht gegeben.
Sidibé Oumar wundert das nicht. Gespräche seien pure Zeitverschwendung, findet er. „Uns muss das Ausland helfen, die internationale Gemeinschaft.“ Denn viel Hoffnung auf die malische Armee oder auch auf die 3.300 Soldaten der geplanten westafrikanischen Eingreiftruppe hat er nicht.
Mittlerweile haben die Militärs zugesagt, dass sofort ein neuer Premierminister gefunden werden soll. Dabei war ausgerechnet Diarra auf ihr Bestreben eingesetzt worden. Wer nun dessen Nachfolge antritt, ist am Dienstagnachmittag unklar. Gleiches gilt für die Neubesetzung der Regierung.
11.12.2012 | Kampf gegen radikale Islamisten
400 EU-Soldaten werden nach Mali abkommandiert. Das sieht ein Beschluss der EU-Außenminister vor. Sie sollen Malis Armee für die Rückeroberung des Nordens trainieren.
BRÜSSEL/BERLIN afp/taz | Nach monatelanger Diskussion haben die EU-Außenminister am Montag in Brüssel endgültig ein Einsatzkonzept für die geplante EU-Ausbildungsmission in Mali beschlossen. 400 EU-Soldaten, davon 250 Ausbilder, sollen ab 2013 “die militärischen Kapazitäten der malischen Streitkräfte wiederherstellen, damit sie zu Kampfeinsätzen mit dem Ziel der Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes in der Lage sind”, heißt es. Gemeint ist der Kampf gegen radikale Islamisten im Norden Malis.
Vier malische Bataillone von je 650 Mann sollen in einem Ausbildungslager nahe der Stadt Ségou 250 Kilometer nördlich der malischen Hauptstadt Bamako trainiert werden.
Es wird außerdem EU-Unterstützung im Kommando- und Verwaltungsbereich des Militärs geben. Wenn das funktioniert, soll Malis Armee im Herbst 2013 mit der Rückeroberung Malis beginnen.
Unklar ist, ob auch die von der Afrikanischen Union (AU) beschlossene westafrikanische Eingreiftruppe auf Seiten einer neustrukturierten malischen Armee zum Einsatz kommt. Die AU wünscht dafür ein Mandat des UN-Sicherheitsrats.
Dafür brachte Frankreich am Montag einen Resolutionsentwurf ein; dieser stößt jedoch auf Bedenken bei den USA, die eine politische Lösung in Mali vorziehen und Kampfeinsätze erst als “letztes Mittel” billigen wollen. (DJ)
11.12.2012 | Rücktritt nach Festnahme
Der malische Ministerpräsident Cheick Modibo Diarra ist am Dienstagmorgen zurückgetreten. Er war vorher von Soldaten im Auftrag von Hauptmann Sanogo festgenommen worden.
BAMAKO afp/rtr | Wenige Stunden nach seiner gewaltsamen Gefangennahme durch einen Trupp von Soldaten hat der unter Druck geratene malische Regierungschef Cheick Modibo Diarra den Rücktritt der gesamten Regierung bekanntgegeben. „Ich trete mit meiner Regierung zurück“, sagte Diarra am Dienstagmorgen in einer kurzen Erklärung im staatlichen Fernsehen, ohne eine Begründung für die Entscheidung anzuführen. In der Hauptstadt Bamako blieb es zunächst ruhig.
Der Trupp von Soldaten habe die Eingangstür von Diarras Haus „demoliert“ und den Regierungschef „ziemlich brutal“ behandelt, sagten die Mitarbeiter des bisherigen Regierungschefs. Diarra wollte den Angaben zufolge in der Nacht nach Frankreich reisen, um sich in Paris einem Gesundheits-Check zu unterziehen. Er habe zuvor eine kurze Fernseh-Ansprache aufgenommen. Die Aufnahme sei jedoch vom Militär beschlagnahmt worden.
Der 60-jährige Astrophysiker Diarra wurde weit über die Landesgrenzen hinaus als Wissenschaftler bekannt. Er arbeitete früher an Weltraumprojekten der US-Raumfahrtbehörde NASA mit. Später vertrat er den Internet-Riesen Microsoft in Afrika.
Diarra wurde in der Nacht nach Angaben von Mitarbeitern von Soldaten festgenommen, die aus der Militär-Garnison Kati zu seiner Wohnung in der Hauptstadt Bamako kamen. Die Militärs hatten gesagt, dass sie im Auftrag von Hauptmann Amadou Haya Sanogo handelten. Sanogo war bereits an einem Putsch im März beteiligt, bei dem der langjährige Präsident Amadou Toumani Touré gestürzt wurde.
In dem Machtvakuum nach dem Putsch im März gelang es Tuareg-Rebellen und mit ihnen verbündeten Islamisten innerhalb weniger Tage, den gesamten Norden des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Diarra sprach sich wiederholt dafür aus, eine internationale Militärtruppe solle gegen die Islamisten einschreiten. Offiziell übergab Hauptmann Sanogo zwei Wochen nach dem Putsch vom März die Macht wieder an eine zivile Regierung, faktisch aber behielt er in Bamako erheblichen Einfluss.
Sanogo sprach sich gegen den Plan zur Stationierung ausländischer Soldaten in Mali aus. Nach dem letzten Stand wollte die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS im Auftrag der UNO 3300 Mann nach Mali entsenden.
29.11.2012 | Der Bart deines Nachbarn
Die desolate Lage macht junge Tuareg im Niger anfällig für Angebote von Islamisten. Viele fürchten ein zweites Mali. Nun wirbt die Armee um ihr Vertrauen. von Bettina Rühl
IFEROUANE taz | Nahe der Lehmmauer ist die Hitze gerade so erträglich. In deren Schatten hockt die Frau mit dem transparenten Gaze-Kopftuch, die darum bittet, ihren Namen nicht zu nennen. „Man weiß ja nie“, sagt sie in gutem Französisch. „Die Wüste von Mali ist dieselbe wie die im Niger.“
Sie hat Angst vor den Islamisten, die seit April den Norden des Nachbarlandes kontrollieren. Denn die Grenze zwischen den beiden Sahelstaaten ist durchlässig, die nomadisch lebenden Tuareg ziehen mit ihren Kamelen seit Jahrhunderten zwischen beiden Ländern hin und her. Inzwischen wandern sie kaum noch mit Kamelkarawanen, sondern in Konvois mit modernsten Pick-ups. Im Gepäck haben sie statt Salz heute Drogen aller Art und andere Schmuggelwaren.
Obwohl sie meist schwer bewaffnet sind, lassen diese Kriminellen die Bevölkerung in Ruhe. Im Gegenteil, mit ihren mafiösen Netzwerken sorgen sie für recht einträgliche Arbeit und kommen bei den jungen Leuten nicht schlecht an. Mit den Islamisten ist das anders. Die Angst vor den in Mali operierenden Extremisten ist im Niger weit verbreitet.
Mali, Niger, Islamisten
Kasten: Die nomadischen Tuareg leben vor allem in Mali und Niger. Durch willkürlich gezogene Grenzen gegängelt, organisierten sie mehrfach Aufstände. Ab 2011 besetzte die Tuareg-Rebellenbewegung MNLA (Nationale Befreiungsbewegung Azawad) in Mali im Kampf für einen eigenen Staat immer mehr Gebiete. Sie erhielt dafür die Unterstützung von AQMI (al-Qaida im Islamischen Maghreb) und anderer Islamisten. Inzwischen haben diese die Tuareg-Rebellen verjagt und errichten im Norden Malis einen islamischen Staat. Malis Regierung will zusammen mit anderen Staaten der Region und europäischer Hilfe dagegen vorgehen. Die Tuareg fürchten in dieser Konfrontation zerrieben zu werden. (d.j.
Einzelne Einheiten der al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) haben in den vergangen Jahren auch dort Ausländer entführt, von denen sich manche noch immer in ihrer Gewalt befinden. Bisher haben sie im Niger aber noch keine Basis und ziehen sich nach jeder Aktion über die Grenze nach Mali zurück. Dass dies so bleibt, scheint mit dem Erstarken der verschiedenen islamistischen Gruppierungen wie AQMI, Ansar Dine, Mujao und anderer Gruppen in Mali immer weniger sicher.
„Ich bete zu Gott“, sagt die im Schatten hockende 32-jährige Mutter von vier Kindern, „dass die Bärtigen hier nicht Fuß fassen. Die Frauen leiden daunter am meisten.“ Das Fehlen eines Bartes ist eins von vielen Kennzeichen, die die durchweg muslimischen, aber toleranten und freiheitsliebenden Tuareg von Islamisten der wahhabitisch-strengen Schule und anderen muslimischen Fanatikern unterscheidet.
Touristen bleiben weg
Iferouane ist ein Dorf, man sieht schattenspendende Bäume, Dattelpalmen und einige Lehmbauten. Im Hintergrund erhebt sich der Tamgak, mit gut 1.900 Metern der zweithöchste Berg im Niger. Früher war Iferouane ein beliebtes Reiseziel von Touristen, die sich an den Oasengärten erfreuten und das Aïr-Gebirge mit Motorrädern, Geländewagen oder zu Fuß durchstreiften. Aber seit Lösegelderpressungen zu einer wichtigen Einnahmequelle krimineller Banden wurden, bleiben die Weißen weg.
Iferouane war außerdem ein Zentrum der letzten Tuareg-Rebellion, die 2007 ausbrach und zwei Jahre später mit einem durch den damaligen libyschen Herrscher Gaddafi vermittelten Waffenstillstand zu Ende ging. Die Frau erinnert den Krieg zwischen Armee und Tuareg-Rebellen als einen Albtraum, dessen Wiederholung sie seit Beginn der Unruhen in Mali nicht mehr für ausgeschlossen hält. „Es war die Hölle“, sagt sie, „die Armee hatte ihre Basis ganz in der Nähe. Sie rächte sich an uns für jeden Angriff der Rebellen.“
Nach und nach seien alle Zivilisten geflohen. Auch sie selbst packte eines Tages ihre Kinder und ließ alles andere zurück. „Iferouane war jahrelang ein toter Ort. Wir wissen, was der Krieg bedeutet.“ Die Bevölkerung kämpfe bis heute darum, das Lebensniveau der Vorkriegszeit wieder zu erreichen. Die Frau steht auf und tritt aus dem Schatten. Sie will zurück zu der Veranstaltung, die sie für das kurze Gespräch unterbrochen hat.
Die Versammlung findet ein paar Schritte entfernt in einem Lehmbau statt. Eingeladen hat die nigrische Hilfsorganisation HED Tamat, die auch aus Deutschland finanziell unterstützt wird. „Wir wollen eine weitere Rebellion der Tuareg verhindern“, erklärt Mano Aghali, selbst ein Tuareg und zugleich Präsident von HED Tamat. „Wir wissen, dass die Bevölkerung immer am meisten leidet.“
Aghali gehörte beim ersten Tuareg-Aufstand in den 1990er Jahren zum politischen Flügel der Rebellen. An der zweiten Rebellion im Jahr 2007 nahm er nicht mehr teil, weil er die politischen Gründe für vorgeschoben hielt. „In Wirklichkeit ging es um die Kontrolle von Routen für den Drogenschmuggel und andere kriminelle Machenschaften.“ Ganz so, meint er, wie jetzt in Mali.
Der 46-jährige Aghali studierte Wirtschaftswissenschaften und saß von 2004 bis 2009 im nigrischen Parlament. Er ist davon überzeugt, dass es in der nigrischen Demokratie möglich ist, auf politischem Weg gegen bestehende Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Dazu hat auch die erste Tuareg-Rebellion beigetragen.
Auf den Plastikstühlen in dem Lehmbau sitzen Frauen, die festlich gekleidet sind. Drei der Anwesenden haben sich besonders in Schale geworfen: die Musikerinnen aus dem Gefolge des Sultans von Agadez tragen Kleider aus glänzendem, dunklem Indigostoff und sind mit Goldschmuck reich behängt. Auch die Männer im Publikum sind traditionell gekleidet, mit langen Gewändern und den Tagelmust der Tuareg. Im Publikum sitzen Vertreter der ehemaligen Rebellen, der Frauen, der meist arbeitslosen Jugend.
Trotz der drückenden Nachmittagshitze sind alle bei der Sache. Rhizza Ag Boula, ehemaliger Tourismusminister und derzeit Berater des nigrischen Präsidenten, schlägt sie mit seiner Rede richtig in Bann.
„Lasst euch von al-Qaida nicht täuschen“, erklärt Ag Boula, „sie mögen euch Geld versprechen, aber am Ende unterwerfen sie euch ihrer Gewalt!“ Vor allem die jüngeren Leute sollten sich vorstellen, was geschehe, wenn auch im Niger allen Dieben eine Hand und ein Bein abgehackt werde. „Wir würden eine Gesellschaft von Behinderten. Wer sollte die alle ernähren?“
Ag Boula ist eine schillernde Figur, er hat selbst an beiden Rebellionen im Niger mitgewirkt. Zum Abschluss seiner kurzen und drastischen Rede lädt er das Publikum ein, sich ohne Tabus mit Fragen und Kritik zu äußern.
„Wir haben nichts“
Ein junger Mann lässt sich das Mikrofon geben und beschreibt, was nach ihm noch viele andere in ähnlichen Worten ausdrücken werden: „Wir haben nichts. Wir leben in einer katastrophalen Situation.“ Die Regierung von Präsident Mahamadou Issoufou kündige seit langem immer wieder an, Arbeit und Beschäftigung zu beschaffen.
„Aber das sind leere Versprechen.“ Niger ist nach der Armutsskala der Vereinten Nationen das ärmste Land der Welt, trotz der reichen Uranvorkommen, die von dem französischen Staatskonzern Areva im Joint Venture mit nigrischen Unternehmen seit vierzig Jahren ausgebeutet werden.
In der Nähe der Stadt Arlit wurden seit 1968 mehr als 100.000 Tonnen Uran abgebaut. Rund um Arlit sollen sich mittlerweile etwa 35 Millionen Tonnen Abraum türmen. Areva und die Partner des Konzerns erklären den Abraum für unbedenklich, Kritiker legen dagegen Messwerte vor, wonach er hoch radioaktiv verseucht ist.
Zurzeit ist Areva dabei, in der Region Agadez nahe dem Dorf Imouraren die zweitgrößte Uranmine der Welt zu erschließen. Für das Projekt seien schon 190 Arbeitskräfte ausgebildet worden, versucht Ag Boula in seiner Funktion als Vertreter des Präsidenten das Publikum zu beschwichtigen. Die Bergbauunternehmen hätten der Regierung versprochen, ihren Beitrag zur sozialen Entwicklung zu leisten und Arbeitsplätze auch für Menschen aus der Region zu schaffen.
Wieder meldet sich einer aus dem Publikum. „Ich habe bei Areva schon vor fünf Jahren so eine Ausbildung gemacht und seitdem nichts mehr von dem Unternehmen gehört.“ Ag Boula bittet um Geduld. Die Regierung selbst werde in der Region Agadez 300 kommunale Polizisten ausbilden, und auch die Armee sei auf der Suche nach Rekruten. Mano Aghali von HED Tamat sagt weitere 290, durch seine Organisation finanzierte Ausbildungsplätze zu.
Armee wirbt um Vertrauen
Den Nachmittag über bleibt die Diskussion hitzig, auch der Vertreter der nigrischen Armee auf dem Podium bekommt sein Fett ab. Trotz Arbeitslosigkeit meiden die jungen Tuareg die Armee, weil die Soldaten während der Tuareg-Aufstände kaum zwischen Zivilisten und Rebellen unterschieden und in den Dörfern Kriegsverbrechen verübt haben. „Auch wir haben unsere Lektion gelernt“, sagt der Oberst auf dem Podium, „viele Soldaten wurden ausgetauscht.“ Er bittet um Vertrauen.
Am Abend sitzt Aghali auf einem Teppich im Sand, über sich den klaren Sternenhimmel des Südens. Er ist mit dem Verlauf der Versammlung zufrieden. „Soweit ich weiß, hat heute zum ersten Mal ein Armeevertreter mit der Bevölkerung gesprochen.“ Das sei eine wichtige Geste. Ebenso die Tatsache, dass der Präsident seinen Berater zu dem Treffen mit den Menschen in die Dörfer entsendet.
Mit der Idee solcher „Friedensforen“ trägt sich Aghali seit langem, aber erst in diesem Jahr bekam HED Tamat von Care Deutschland/Luxemburg und dem Auswärtigen Amt das dafür nötige Geld. Die Versammlungen, die nun in 11 von 15 Gemeinden der Region Agadez stattfinden, bekommen durch die Ereignisse in Mali eine dramatische Aktualität. Es gehen Gerüchte, dass Gruppen wie Ansar Dine ihren Kämpfern im Monat 200 Dollar zahlen. Verlockend in einer Region, in der es kaum Arbeit gibt. Und um so größer der Druck, dagegen etwas zu tun.
Die Frau hat am Nachmittag im Schatten der Lehmmauer geradezu inständig um Arbeitsplätze für die jungen Leute gebeten. „Es gibt bei uns ein altes Sprichwort“, sagt sie. „Wenn der Bart deines Nachbarn Feuer fängt, machst du deinen am besten nass, damit er nicht ebenfalls anfängt zu brennen.“
21.11.2012 | Entführung in der Wüste
An der Grenze zu Mauretanien ist ein Franzose entführt worden. Die Skepsis gegenüber der geplanten Intervention gegen Islamisten in Mali wächst.von Dominic Johnson
BAMAKO/BERLIN afp/taz | In Mali ist ein Franzose verschleppt worden. Bewaffnete Männer entführten den 61-Jährigen am Dienstagabend in der Region Kayes im Westen des Landes, weit entfernt vom islamistisch kontrollierten Norden, bestätigten Sicherheitskreise. Die amtliche mauretanische Nachrichtenagentur AMI meldete, der Mann habe Mauretanien am Dienstagmittag im Auto verlassen und die Grenze zu Mali beim Übergang Gogui überquert.
Vor vier Jahren war in derselben Region ein italienisch-burkinisches Paar von Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQMI) verschleppt und später gegen Lösegeld wieder freigelassen worden. Die AQMI hat derzeit noch mindestens neun weitere Europäer in ihrer Gewalt.
Die neue Entführung ereignet sich, während die Perspektiven eines raschen militärischen Eingreifens gegen Malis Islamisten schwinden. Der UN-Sondergesandte für die Sahelzone, Romano Prodi, schloss am Dienstag in Marokko eine Intervention vor September 2013 aus. Erst müssten die vorgesehenen Einheiten der malischen Armee ausgebildet und dann der viel zu heiße Sommer abgewartet werden, so Prodi.
In Mali berichtete die Zeitung Le Combat, auch in den USA nehme angesichts des desolaten Zustands der malischen Armee die Skepsis über das Eingreifkonzept zu. Mauretaniens Präsident Mohammed Ould Abdelaziz warnte in Paris vor „perversen Auswirkungen“ eines Eingreifens, weil dadurch „die Kräfte des Bösen zusammengeschmiedet“ werden würden.
19.11.2012 | Islamisten erobern wichtige Stadt
Die Stadt Menaka fällt wieder an Dschihadisten. Sie sollte gemeinsamer Stützpunkt für Tuareg und westafrikanische Eingreiftruppen sein.von Dominic Johnson
BAMAKO/BRÜSSEL afp/taz | Angesichts der sich abzeichnenden westafrikanischen Militärintervention im Norden Malis gegen die dort herrschenden Islamisten festigen die islamistischen Milizen dort ihre Macht.
Kämpfer der „Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika“ (Mujao) übernahmen am Montag die Kontrolle über die Stadt Menaka und verjagten die dort stationierten Einheiten der Tuareg-Rebellenbewegung MNLA (Nationale Befreiungsbewegung Azawad), berichteten Augenzeugen gegenüber AFP.
„Wir kontrollieren alles“, sagte Mujao-Sprecher Abu Walid Sahraoui aus Menaka. „Wir haben Gefangene gemacht und es gibt viele Tote auf Seiten der MNLA.“ Die Mujao, ein Sammelbecken für islamistische Kämpfer aus verschiedenen Ländern, habe Unterstützung von der algerisch geführten al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) erhalten. „Wir werden die MNLA jetzt überall jagen“, so der Sprecher.
Menaka war eine der ersten Hochburgen der Tuareg-Rebellenbewegung MNLA gewesen, als diese im Januar ihren Kampf für einen eigenen Tuareg-Staat Azawad im Norden Malis aufnahm. Als im März die gesamte Region unter Kontrolle von MNLA und Islamisten fiel, verlor die Tuareg-Armee die alleinige Herrschaft und wurde schließlich vertrieben. Ende Oktober waren die Tuareg-Kämpfer allerdings nach Menaka zurückgekehrt.
Sie hatten in Aussicht gestellt, den nordostmalischen Ort zum Ausgangspunkt einer Rückeroberung Nordmalis gemeinsam mit westafrikanischen Eingreiftruppen zu machen. Diese Intervention ist von der Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) sowie der Afrikanischen Union beschlossen worden und soll in Kürze vom UN-Sicherheitsrat gebilligt und mit einem UN-Mandat versehen werden.
Eine EU-Unterstützungsmission für diese Militärintervention in Mali stand am Montag auch auf der Agenda der EU-Außenminister. EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton sollte den Ministern beim Mittagessen ein „Krisenkonzept zur Reorganisation und Ausbildung der malischen Armee“ unterbreiten. Angedacht ist eine EU-Ausbildungsmission von 250 Mann, mit Frankreich und Spanien als wichtigsten Teilnehmern, um ab Januar 2013 an der malischen Offiziersakademie Koulikoro vier Bataillone von insgesamt 2.600 Soldaten zu trainieren. Sollte die Mission auch eine Komponente der Eigensicherung enthalten, müsste sie auf 400 Mann vergrößert werden.
12.11.2012 | Westafrika zum Einmarsch bereit
Die Staaten Westafrikas haben die Militärintervention gegen Islamisten im Norden Malis beschlossen. Die lokale Anti-Tuareg-Miliz ist kriegsbereit.von Dominic Johnson
BERLIN taz | Die Staaten Westafrikas haben förmlich grünes Licht für eine Militärintervention in Mali zum Kampf gegen die Islamisten im Norden des Landes gegeben. Ein Sondergipfel der Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) in Nigerias Hauptstadt Abuja bestätigte am Sonntagabend das zuvor ausgearbeitete Eingreifkonzept und bat den UN-Sicherheitsrat, ein Mandat zu erteilen.
„Es gibt keine Unklarheiten mehr“, sagte Alassane Ouattara, Präsident der Elfenbeinküste und amtierender Ecowas-Präsident, auf einer Pressekonferenz. „Wir haben uns über die Zusammensetzung der Streitkraft, ihre Mission, ihren Umfang, die Dauer ihres Mandats und die Modalitäten der Truppenstationierung verständigt.“
Vor Journalisten präzisierte Ouattara: „Wir sehen 3.300 Soldaten für die Dauer eines Jahres vor.“ Nigeria, Senegal, Niger und Burkina Faso hätten Truppen angeboten, ebenso Ghana und Togo. Außerdem „könnte Tschad mitmachen“.
Die algerische Zeitung L‘Expression sprach von 5.500 Soldaten. Algerien, direkter Anrainerstaat des nordmalischen Islamistengebietes und mächtigste Militärmacht der Region, ist gegenüber einem auswärtigen Eingreifen skeptisch und setzt auf eine politische Einigung mit Malis größter islamistischen Gruppe Ansar Dine sowie den Tuareg-Rebellen der „Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad“ (MNLA), die in Nordmali einen eigenen Staat wollen und gegen die radikalen Islamisten kämpfen.
„Die Bevölkerung ist zum Krieg bereit“
„Wieso eine Militärintervention, wenn vor Ort Ansar Dine und MNLA eine politische und friedliche Lösung der Krise gewählt haben?“ fragte ein Kommentar von L‘Expression.
Das Blatt bezieht sich auf den Gewaltverzicht, den Ansar Dine vergangene Woche in Burkina Faso verkündet hatte, der aber in Mali selbst mit Zurückhaltung aufgenommen wird. Die MNLA bietet sich nun als Vermittler an.
„Jede Militärintervention, die sich nicht auf die MNLA stützt, ist zum Scheitern verurteilt“, schrieben ihre Sprecher in einem Brief an die Uno, die Afrikanische Union, die EU und die Ecowas und sagten, ihre Bewegung „kennt das Terrain und genießt das Vertrauen der Bevölkerung“.
Die malische Anti-Tuareg-Miliz Ganda Iso, die Jugendliche des Peul-Volkes vereint, will hingegen an der Seite der Eingreiftruppe kämpfen. „Die Bevölkerung ist zum Krieg bereit“, erklärte Milizenchef Seyou Cissé und sagte, seine Kämpfer könnten aus Niger heraus als Vorhut der Westafrikaner in Mali einmarschieren.
2.000 weitere Jugendliche stünden im malischen Mopti bereit. Nötig für den Erfolg seien „gezielte Luftangriffe“. Solche Töne nähren die Befürchtung, ohne vorherige Verständigung zwischen den einheimischen Kräften könne jede Intervention ethnische Konflikte schüren und das Land weiter destabilisieren.
12.11.2012 |Truppen gegen Islamisten
Afrikanische Truppen sollen Mali im Kampf gegen Islamisten unterstützen. Seit einem Militärputsch im März wird der Norden des Landes von ihnen kontrolliert.
JOHANNESBURG/ABUJA dpa | Die westafrikanischen Staatschefs haben sich am Sonntag auf die Entsendung einer knapp 3300 Mann starken Truppe in den Krisenstaat Mali geeinigt. Das berichtete der Sender BBC am Abend vom Gipfel der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas in Abuja.
Diese afrikanische Truppe – überwiegend gestellt von Nigeria, Niger und Burkina Faso – soll Mali im Kampf gegen die Islamisten im Norden des Landes unterstützen. Sobald der UN-Sicherheitsrat zustimmt, könne die Stationierung beginnen, sagte Alassane Ouattara, Präsident der Elfenbeinküste und gegenwärtiger Vorsitzender der Ecowas. Das höchste UN-Gremium werde voraussichtlich bis Monatsende entscheiden.
Die Führung des Wüstenstaates Malis muss noch in den kommenden Tagen einen Plan zur Befriedung des Landes erarbeiten, dessen Norden seit einem Militärputsch im März dieses Jahres von radikalen Islamisten kontrolliert wird. Die radikalislamistischen Gruppen wollen dort einen Gottesstaat errichten. Immer wieder gibt es Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen.
Deutschland und Frankreich forderten einen entschlossenen Kampf gegen das Gewaltregime der islamistischen Extremisten. Die Entstehung eines Rückzugsgebiets für Terroristen in der afrikanischen Sahelzone berge große Risiken, schrieben Bundesaußenminister Guido Westerwelle und sein französischer Kollege Laurent Fabius in einem am Samstag veröffentlichten Beitrag für die Tageszeitungen Rheinische Post und Le Figaro.
Das westafrikanische Mali galt lange als demokratischer Vorzeigestaat in Afrika. Gleichzeitig kämpfen die Menschen aber seit vielen Jahren ums tägliche Überleben: Die durchschnittliche Lebenserwartung der rund 14,5 Millionen Einwohner, darunter etwa 300 000 Angehörige des Berbervolkes der Tuareg, liegt bei nur 53 Jahren.
Das 1,2 Millionen Quadratkilometer große Land am Südrand der Sahara ist einer der wichtigsten Baumwoll-Produzenten Afrikas. Dürreperioden haben der Landwirtschaft aber nachhaltig geschadet. 60 Prozent des Landes ist von Wüste bedeckt.
In den 1980er Jahre hatten viele Tuareg nach einer Dürre Mali verlassen. Als sie zurückkehrten, führten sie Krieg gegen die Regierungstruppen. Nach langen Verhandlungen wurden die Tuareg in Malis Armee integriert. Auch Libyens Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi rekrutierte Tuareg für seine Streitkräfte. Nach Gaddafis Sturz kehrten viele in die Heimat zurück und schlossen sich Aufständischen im Norden Malis an.
07.11.2012 | Politische Lösung in Sicht
Die bewaffnete islamistische „Ansar Dine“ in Mali stimmt einem Gewaltverzicht zu. Und die westafrikanischen Stabschefs einigen sich auf einen Einsatzplan.von Dominic Johnson
BERLIN taz | Die wichtigste islamistische Gruppe im Norden Malis hat einen entscheidenden Schritt zu einer politischen Lösung der Krise in dem gespaltenen Land getan. Bei Verhandlungen im benachbarten Burkina Faso sagte sich die Gruppe „Ansar Dine“ von Gewalt los.
„Ansar Dine verspricht, eine komplette Einstellung der Feindseligkeiten einzuhalten, Bewegungsfreiheit für Menschen und Waren zu garantieren und humanitäre Hilfe in den Zonen unter ihrer Kontrolle zu ermöglichen“, heißt es in der Erklärung vom Dienstag, die am Mittwoch in der burkinischen Zeitung Le Pays veröffentlicht wurde.
„Außerdem lehnt Ansar Dine jede Form von Extremismus und Terrorismus ab und bekennt sich zum Kampf gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität.“ Man werde mit den anderen bewaffneten Gruppen in Nordmali sprechen, um „das für einen allumfassenden politischen Dialog notwendige Vertrauen“ zu schaffen.
Die Verhandlungen in Burkina Faso finden im Rahmen der Krisenlösungsversuche der westafrikanischen Regionalgemeinschaft Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) statt. Sie sind ein Teil der Gesamtbemühungen der Ecowas für Mali. Dort hatte im März das Militär gegen die gewählte Regierung geputscht. Als Reaktion hatten bewaffnete Tuareg-Rebellen und islamistische Milizen den Norden des Landes erobert. Der UN-Sicherheitsrat und die EU-Außenminister sagten im Oktober Unterstützung für eine mögliche Militärintervention zur Rückeroberung Malis zu, sofern dafür ein Konzept vorliegt.
Militärs der Region beschließen Einsatzplan
Während in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou die politischen Gespräche mit Ansar Dine liefen, berieten in Malis Hauptstadt Bamako die hohen Militärs der Region über ein Eingreifkonzept. Unter Leitung des Generalstabchefs der Elfenbeinküste, General Soumaila Bagayoko, wurde am Dienstagabend ein Einsatzplan verabschiedet, der am kommenden Wochenende einem Ecowas-Sondergipfel in Nigeria vorgelegt werden soll. Details wurden nicht bekannt, doch einigten sich die Militärs Berichten zufolge auf eine integrierte Kommandostruktur.
Zuvor war spekuliert worden, eine westafrikanische Eingreiftruppe könne zwar Malis Armee unterstützen, Letztere aber eine autonome Befehlskette wahren, was absehbar zu Chaos führen würde.
Grundlage für den Einsatzplan ist das „Strategische Konzept“ von AU und Ecowas für Mali, das ebenfalls am kommenden Wochenende endgültig verabschiedet werden soll. Das Konzept, das der taz vorliegt, nennt sieben politische Ziele, an erster Stelle einen „inklusiven politischen Prozess“ in Mali – was eine Einigung zwischen allen politischen Kräften des Landes auf Schritte hin zu freien Wahlen bedeutet – sowie die „Wiederherstellung der Autorität des Staates und Bewahrung der nationalen Einheit und territorialen Integrität Malis“.
Letzteres umfasst auch „Hilfe, Expertise, Ausbildung und Kapazitätsaufbau sowie Ausrüstung“ für Malis Armee und staatliche Institutionen – die Grundlage für die derzeit in Deutschland diskutierte EU-Ausbildungsmission.
Das Einlenken Ansar Dines könnte die Umsetzung dieses Konzepts erleichtern. Nach den Tuareg-Separatisten der MNLA (Nationalbewegung Freies Azawad), die die Wurzel des Aufstands in Nordmali waren und dann von Islamisten marginalisiert wurden, wäre nun mit Ansar Dine – geführt vom Tuareg Iyad ag Ghali – auch der wichtigste einheimische Flügel der Islamisten befriedet. Alle Fraktionen in Mali könnten dann gemeinsam, mit ausländischer Hilfe, gegen die verbleibenden Gruppen vorgehen: die algerisch geführte al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) und die Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika (Mujao).
02.11.2012 | Europas Operation Wüstensand
In Mali will die EU mit Militärausbildern helfen, Islamisten zu besiegen. In Niger sind sie bereits vor Ort. Ein Besuch bei „EUCAP Sahel“.von Bettina Rühl
NIAMEY taz | Während in Deutschland über die Beteiligung an einem EU-Einsatz in Mali diskutiert wird, ist die EU längst vor Ort. Seit August sind 50 europäische Sicherheitsexperten in Niamey stationiert, der Hauptstadt des Nachbarlandes Niger. Aufgabe der Mission EUCAP-Sahel ist es, lokale Sicherheitskräfte im Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität zu schulen. Also Polizisten, Zöllner und Militärs, wie Oberst Francisco Espinoza Navas erklärt, Leiter von EUCAP Sahel und ehemals beim Geheimdienst der spanischen Guardia Civil.
Niger hat mit Mali eine gemeinsame Grenze, und das Nomadenvolk der Tuareg lebt in beiden Ländern. Eine Rebellion der Tuareg in Mali hatte Anfang 2011 die politische Krise ausgelöst, die nun den ganzen Sahelraum bedroht.
Nigers Premierminister Brigi Rafini begrüßt das Engagement der EU. „Wir haben selbst um diese Unterstützung gebeten“, sagt er der taz. Ziel seiner Regierung sei es, „unsere Sicherheitskräfte im Kampf gegen den Terror und gewaltsame Konflikte zu schulen“. Es gehe „auf keinen Fall darum, dass hier Militärbasen oder Posten europäischer Polizisten errichtet werden“.
EUCAP Sahel könnte auf Mali ausgeweitet werden. Denn „das Mandat umfasst die gesamte Region“, sagt Oberst Espinoza, „auch Mali und Mauretanien. Wir haben zudem Kontakt mit Algerien aufgenommen, weil es in der Region eine wichtige Rolle spielt.“ Allerdings können die EU-Experten in Niger nicht selbstständig die Ausbildung von Sicherheitskräften auch in Mali beginnen. „Das muss die Europäische Union entscheiden.“
Ausbildung ohne Waffen
Wie Oberst Espinoza betont, handelt es sich bei EUCAP Sahel um eine rein zivile Mission. Die Experten sind also ohne Waffen gekommen. Aber die Schulung von Militärs gehöre dennoch zum Programm. „Wir wollen die Ausbilder ausbilden.“ Erst aber müssten sie sich einen Überblick über den Bedarf verschaffen.
Der Ruf der nigrischen Armee ist deutlich besser als jener der Truppe im Nachbarland Mali. Über den geradezu verheerenden Zustand der malischen Armee wird immer wieder berichtet: Sie sei schlecht ausgebildet und ausgerüstet, dazu notorisch korrupt. Malis Armee hat die Krise ihres Landes mitverschuldet, als sie im März 2011 angesichts der ständigen Niederlagen gegen die Tuareg-Rebellen die gewählte Regierung stürzte und damit zuließ, dass Tuareg-Aufständische und Islamisten den Norden des Landes unter ihre Kontrolle bringen konnten.
Nigers Armee dagegen erwarb sich eher Anerkennung, als sie im Frühjahr 2010 gegen den zunehmend autokratisch regierendenden Präsidenten Mamadou Tandja putschte. In den folgenden Monaten beseitigte eine Militärjunta die Blockaden von politischer Opposition, Presse- und Meinungsfreiheit, und sie hielt ihr Versprechen, das Land zur Demokratie zurückzuführen. Im März 2011 wurde der jetzige Präsident Mahamadou Issoufou gewählt, die Armee kehrte in die Kasernen zurück – eine Rückkehr zur Demokratie, die in Mali noch aussteht.
Islamisten mit Waffen
Auch in Niger sind bewaffnete Islamisten aktiv. Sie haben in dem Land bislang aber wohl keine Basis, sondern ziehen sich nach einzelnen Aktionen immer wieder nach Mali zurück. Dennoch sind Entführungen und anschließende Lösegeldforderungen auch im Niger eine reale Bedrohung. Vier Franzosen, die 2010 in Niger von „al-Qaida im Islamischen Maghreb“ entführt wurden, sind immer noch in der Gewalt der Kidnapper. Und erst vor Kurzem wurden fünf nigrische und ein tschadischer Mitarbeiter einer Hilfsorganisation entführt. Das nigrische Militär erschoss die Geiseln samt den Entführern, in einer Aktion, die im Niger Fragen aufwirft.
Die Mitglieder der EU-Mission sollen anonym bleiben, bis auf die führenden Verantwortlichen, deren Namen ohnehin bekannt sind. Einer der europäischen Ausbilder nennt die „Stärkung des Rechtsstaats“ als einen der wahrscheinlichen Inhalte des künftigen Trainings in Niger. Dazu gehöre vor allem die Schulung der Kriminalpolizei, um zum Beispiel ihre Ermittlungs- und Verhörmethoden zu verbessern. Außerdem müssten die unterschiedlichen Einheiten vor Ort effektiver kooperieren und auch enger mit der Justiz zusammenarbeiten.
Gleichzeitig wächst im Niger die Angst vor den Folgen, die ein Militäreinsatz in Mali hätte. Viele Nigrer befürchten, dass Kämpfer aus Mali über die Grenze ausweichen, wenn sie militärisch verfolgt werden. Jean-Jacques Quairiat, EU-Repräsentant in Niger, kann die Besorgnis verstehen: „In allen Nachbarstaaten stellt sich die Frage nach den Konsequenzen.“
02.11.2012 | Rückkehr zur Demokratie
Alles soll in Mali gleichzeitig passieren: Verhandlungen mit gemäßigten Kräften im Norden, Gewalt gegen Islamisten, Vorbereitung von Wahlen. von Dominic Johnson
BERLIN taz | Noch bis Sonntag sollen Militärexperten in Malis Hauptstadt Bamako über ein Einsatzkonzept für die geplante internationale Militärintervention zur Rückeroberung des von Islamisten kontrollierten Nordens des Landes beraten. Es geht darum, eine Grundlage für die erwarteten Interventionsbeschlüsse von UNO und EU zu schaffen. Der UN-Sicherheitsrat und die EU-Außenminister hatten im Oktober grundsätzlich für eine Intervention grünes Licht gegeben. Mitte November sollen konkrete Beschlüsse fallen.
Es geht nach bisherigen Berichten um die Entsendung von bis zu 300 europäischen Militärberatern, die entweder im Süden Malis oder in Nachbarländern wie Niger stationiert werden und die Grundlagen dafür schaffen, dass eine gemeinsame Truppe aus ausgewählten malischen Armeeeinheiten und einer bis zu 3.300 Mann starken westafrikanischen Eingreiftruppe in Mali selbst zum Einsatz kommt.
Der Norden Malis fiel im März an eine Koalition aus Tuareg-Separatisten und radikalen Islamisten, während in der Hauptstadt Bamako im Süden des Landes das Militär putschte. Inzwischen haben die Islamisten im Norden die Macht übernommen und werben Dschihadisten aus halb Afrika an, während im Süden das Militär die Macht widerwillig und mit Einschränkungen an eine schwache zivile Übergangsregierung abgegeben hat.
Rückeroberung des Norden
Aus offizieller Sicht ist in Mali die Rückeroberung des Nordens die Vorbedingung für eine Rückkehr zur Demokratie. Der Militärputsch vom März 2012 hatte die für April 2012 geplante Präsidentschaftswahl verhindert. Die soll nun im Laufe des Jahres 2013 nachgeholt werden, aber zunächst muss die territoriale Einheit des Landes wiederhergestellt werden.
Weitere Voraussetzungen müssen erfüllt werden: Bei Beratungen zwischen der Übergangsregierung und den politischen Parteien in Bamako am Donnerstag wurde deutlich, dass die notwendige Aktualisierung des Wahlregisters erst vorgenommen werden kann, wenn der Staat wieder das gesamte Staatsgebiet kontrolliert. Offen blieb außerdem, ob die Angehörigen der derzeitigen Übergangsregierung zu den Wahlen antreten dürfen sollen oder nicht.
Während dieser Gespräche traf Übergangspremier Cheick Modibo Diarra in Bamako mit dem deutschen Bundesaußenminister Guido Westerwelle zusammen und bat ihn nach eigenen Angaben um „deutsche Hilfe bei der Einrichtung eines Verhandlungsrahmens mit jenen malischen Landsleuten, die in die Republik zurückkehren wollen, unter der Bedingung des Gewaltverzichts und der Respektierung des laizistischen Charakters der Republik“. Das bedeutet: Gespräche mit allen im Norden Malis außer den Islamisten sowie jenen radikalen Tuareg, die immer noch einen eigenen Staat „Azawad“ wollen.
Zur Militärintervention sagte der Premier, es gehe um „dringende Hilfe, um die Sicherheit der großen Städte zu gewährleisten“. Das geht über das bestehende Ausbildungsangebot der EU hinaus und richtet sich vermutlich an Malis westafrikanische Partnerländer.
25.10.2012 | Militärintervention rückt näher
Eine Militärintervention gegen die Islamisten in Nordmali durch die Afrikanische Union wird immer wahrscheinlicher. Mali ist außerdem wieder vollwertiges AU-Mitglied.
ADDIS ABEBA dpa | Ein Militäreinsatz zur Vertreibung radikaler Islamisten aus dem Norden Malis konkretisiert sich. Am kommenden Dienstag werde es in Bamako eine militärische Planungskonferenz zur Vorbereitung einer solchen Intervention geben, teilte der Friedens- und Sicherheitsrat der Afrikanischen Union am späten Mittwochabend in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba mit.
Die Konferenz sei Teil einer „gesamtheitlichen Lösung“ der Krise, die neben einer gewaltsamen Intervention auch weiterhin den Dialog mit moderateren Gruppen in Nordmali vorsieht.
Der UN-Sicherheitsrat hatte kürzlich eine Militäroffensive einer Regionaltruppe genehmigt und konkrete Pläne gefordert. Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas will mehr als 3.000 Soldaten bereitstellen. UN und EU könnten logistische Unterstützung leisten.
Die Kommissionschefin der Afrikanischen Union (AU), Nkosazana Dlamini-Zuma, betonte erneut, dass die Besetzung Nordmalis durch Extremisten „international eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit“ darstelle.
Zudem teilte die AU mit, dass Mali ab sofort wieder vollwertiges Mitglied der Völkergemeinschaft ist. Das westafrikanische Land war nach einem Militärputsch am 22. März vorübergehend aus der AU ausgeschlossen worden. „Der Rat hat die Suspendierung Malis von den Aktivitäten der AU aufgehoben. Das Land ist dazu eingeladen, wieder voll an allen Aktivitäten und Treffen teilzunehmen“, sagte der Kommissar für Frieden und Sicherheit, Ramtane Lamamra.
24.10.2012 | Für eine europäische Intervention in Mali ist es zu früh.
Mali ist nicht Somalia. Kommentar von Dominic Johnson
Deutschland hängt die geplante Beteiligung der Bundeswehr an einer Mali-Mission der EU tief, und das ist gut so. Es ist richtig von Bundesaußenminister Westerwelle, frühzeitig klarzustellen, dass keine deutschen Kampftruppen zum Einsatz kommen werden und dass die Krise in Mali eine politische Lösung braucht. Denn das nimmt einer relativ absurden Debatte den Wind aus den Segeln, bevor sie Fahrt aufnehmen kann.
Es geht nicht um deutsche Soldaten in Mali, oder überhaupt europäische Kampftruppen in der Sahara. Die EU plant eine vermutlich außerhalb Malis zu basierende Unterstützungsmission für eine westafrikanische Eingreifruppe, die wiederum Malis Armee in die Lage versetzen soll, innerhalb des eigenen Staatsgebiets gegen die ausländischen Dschihadisten und radikalislamistischen Milizen vorzugehen, die im wüstenhaften Norden des Landes die Menschen terrorisieren und die alte Kultur der Sahelregion zerstören. Gegen eine solche Unterstützung ist nichts einzuwenden.
Wer dagegen jetzt Protest erhebt, hätte sich zu Wort melden sollen, als vor mehreren Jahren die ersten Bundeswehrausbilder nach Uganda geschickt wurden, um ugandische Soldaten für den Einsatz in Somalia zu trainieren. Genau nach diesem Muster wird voraussichtlich auch die Sahel-Mission der EU verlaufen. Und die geplante westafrikanische Eingreiftruppe in Mali dürfte militärisch deutlich weniger Schaden anrichten als die afrikanische Eingreiftruppe in Somalia, die Zivilisten getötet und eine extrem korrupte Regierung gestützt hat.
Mali ist mit Somalia nicht zu vergleichen. Der Staat ist nicht verschwunden, er ist bloß zeitweilig sozusagen außer Kraft gesetzt – seit dem Militärputsch vom März werden sich die politischen Akteure in der Hauptstadt Bamako nicht über den Neuaufbau einer demokratischen Ordnung einig. Aber genau hier liegt das Problem des Eingreifens – im politischen, nicht im militärischen Bereich.
Denn solange kein politischer Rahmen in Mali besteht, der die legitimen Forderungen der Tuareg-Bevölkerung und anderer Siedlungsgruppen im Norden des Landes gegenüber ihrer weit entfernten Zentralregierung aufgreift, solange kann es auch keine gesamtmalische Einigkeit geben, mit der Mali in die Lage versetzt wird, entschlossen den Dschihadisten entgegenzutreten.
Und solange in Bamako Befürworter und Gegner einer Intervention abwechselnd auf die Straße gehen und die notwendige politische Grundsatzdiskussion über die Zukunft des Landes sich als Parteienzank äußert, solange wird auch offen bleiben, welche politische Kraft in Mali sich durch ein Eingreifen gestärkt fühlen wird und welche nicht. Aber wenn das offen ist, bleiben auch die realen innenpolitischen Auswirkungen eines Eingreifens offen und damit ist eine Grundvoraussetzung für auswärtige Intervention nicht gegeben: mit einem eindeutig definierten und legitimen Partner ein klares und vertretbares politisches Ziel zu verfolgen.
Die EU, die UNO, die Afrikanische Union und die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft werden jetzt bis mindestens Mitte November Interventionsszenarien hin- und herschieben. Hoffentlich wird gleichzeitig in Mali selbst die Politik sich sortieren. Sonst nützen militärische Planspiele wenig.
23.10.2012 | Ausbildung gegen Islamisten
Die Bundeswehr wird sich an einer EU-Mission in Mali beteiligen. Es gehe dabei nur um Ausbildungshilfe, sagte Außenminister Westerwelle.von Dominic Johnson
BERLIN taz | Deutschland wird sich an einer EU-Mission zur Unterstützung der Regierung Malis gegen Islamisten beteiligen, aber nicht mit einem Kampfeinsatz. „Es geht nicht um Kampftruppen“, sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle Dienstag in Berlin nach einem Gespräch mit dem neuen UN-Sonderbeauftragten für die Sahelzone, Romani Prodi. „Es geht darum, dass wir bereit sind, den Afrikanern dabei zu helfen, die Stabilisierung von Mali, von Nord-Mali, wieder möglich zu machen.“
Diese Hilfe werde beispielsweise „Ausbildung und Training einer afrikanischen Mission“ umfassen, so Westerwelle weiter. Die EU-Außenminister hatten am 15. Oktober beschlossen, bis zum 19. November ein Konzept für eine EU-Unterstützungsmission in Mali zu erarbeiten. Drei Tage zuvor hatte der UN-Sicherheitsrat grünes Licht für ein Eingreifen in Mali gegeben und eine Frist von 45 Tagen zur Vorbereitung eines Konzepts gesetzt.
Wie aus deutschen Regierungskreisen zu erfahren ist, wird sich der deutsche Beitrag voraussichtlich auf Ausbildung außerhalb Malis konzentrieren. Im Nachbarland Niger besteht seit August eine EU-Mission, die Nigers Streitkräfte bei der Terrorismusbekämpfung ausbildet. Im Rahmen dieser Mission „Eucap Sahel Niger“ könnte Ähnliches auch für die Streitkräfte Malis geleistet werden. Vorbild für eine solche Mission wäre die EU-Trainingsmission in Uganda für die Regierungsarmee Somalias, an der ebenfalls die Bundeswehr teilnimmt.
In Mali geht es ebenso wie in Somalia um den Kampf gegen bewaffnete Islamisten. Seit März steht der Norden Malis unter Kontrolle der islamistischen Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) und lokaler islamistischer Gruppen. Sie haben die Tuareg-Rebellen verjagt, die ursprünglich in dieser Region gegen Malis Zentralregierung gekämpft hatten. Deren Forderungen gelten nun als Hebel, um die Islamisten wieder zu marginalisieren.
Nichts anderes meinte Westerwelle, als er Dienstag sagte: „Wir schützen mit unserem Engagement für die Stabilisierung Malis unsere eigene europäische Sicherheit. Eine dauerhafte Stabilisierung in ganz Mali kann es aber nur durch einen politischen Prozess geben, der auch die berechtigten Anliegen der Menschen in Nord-Mali aufgreift und auch löst.“
15.10.2012 | Eingreifen im Sahel: Im Prinzip ja
Uno und EU wollen eine Intervention gegen die Islamisten im Norden von Mali planen. Eine schnelle Umsetzung ist jedoch unwahrscheinlich.von Dominic Johnson
BERLIN taz | Ein internationales Eingreifen gegen die Islamisten im Norden Malis zeichnet sich ab. Nach dem UN-Sicherheitsrat am Freitag haben am Montag auch die EU-Außenminister grundsätzlich grünes Licht für einen Militäreinsatz in dem Sahelstaat gegeben. Aber jetzt müssen konkrete Pläne erarbeitet werden – und das kann dauern.
In seiner einstimmig verabschiedeten Resolution 2071 bekräftigte der UN-Sicherheitsrat am Freitag seine Bereitschaft, mit einer internationalen Streitkraft die malische Armee bei der Rückeroberung der „besetzten Gebiete Nord-Malis“ zu unterstützen.
Der UN-Generalsekretär wird gebeten, innerhalb von 45 Tagen gemeinsam mit der Afrikanischen Union (AU) und der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) „in enger Abstimmung mit Mali, Malis Nachbarländern, den Ländern der Region und allen bilateralen Partnern und interessierten internationalen Organisationen“ einen Plan dafür zu erarbeiten.
Inoffiziell ist die Rede von 3.000 Mann, hauptsächlich aus westafrikanischen Ländern, die im Rahmen einer „Stabilisierungsmission“ Malis Armee logistisch zu Hilfe kommen, damit diese Kapazitäten frei hat, um in den Norden ihres Landes einzumarschieren. Eine solche „Stabilisierungsmission“ soll aber weniger Malis Armee von der Leine lassen als sie unter Kontrolle halten.
Waffenembargo behindert Armee
Denn im März war ein Putsch junger Soldaten in der malischen Hauptstadt Bamako der Auslöser dafür gewesen, dass Rebellen die Kontrolle über den Norden des Landes übernehmen konnten. Malis Armee hat die Macht mittlerweile abgegeben, aber wegen des Putsches gilt gegen sie weiter ein Waffenembargo, das sie daran hindert, zu kämpfen.
Ob dieses Embargo aufgehoben werden soll oder ob Waffen nur für ausländische Eingreiftruppen ins Land gelassen werden sollen, ist unklar. Radikale Unterstützer der Putschisten in Mali sind jetzt auch gegen eine ausländische Militärintervention – sie wollen lieber freie Hand für die eigene Armee.
Parallel zur Uno setzten sich die EU-Außenminister am Montag bei ihrem Wochentreffen in Luxemburg eine Frist bis 19. November, um ein Konzept für eine EU-Militärmission in Mali auszuarbeiten. Neben einer Ausbildungsmission soll dabei vor allem Satellitenüberwachung eine Rolle spielen.
Größter Bremser bei all dem ist der große nördliche Nachbar Algerien, dessen Armee die stärkste der Region ist. Algerien ist gegen eine Militärintervention in Mali, weil es befürchtet, dass sich die bewaffneten Islamisten dort auf algerisches Gebiet zurückziehen würden, wo sie hergekommen sind.
Frankreich erneuert Luftwaffe
In Algier fanden in den vergangenen Wochen diskrete Sondierungsgespräche mit den malischen Islamisten statt. In algerischen Medien wird regelmäßig davor gewarnt, der „Westen“ wolle nach Libyen 2011 nun über Mali seinen Einfluss ausdehnen.
Algeriens Haltung erscheint wie ein Spiegelbild der Frankreichs, das am deutlichsten auf eine Intervention drängt. Informelle Gespräche dazu führte der französische Präsident François Hollande am Wochenende am Rande seiner ersten Afrikareise, die ihn nach Senegal und in die Demokratische Republik Kongo führte. Frankreich erneuert gerade turnusmäßig seine Luftwaffenkapazitäten in der Elfenbeinküste und Tschad. Aber Frankreich muss vorsichtig sein: Seit zwei Jahren befinden sich vier in Niger verschleppte Franzosen in Geiselhaft radikaler Islamisten.
Malis Öffentlichkeit verfolgt diese ganze Debatte als Zuschauer, obwohl im Süden des Landes parteiübergreifend Einigkeit darüber besteht, dass man den Norden „befreien“ will. Malische Zeitungen analysierten gestern den UN-Beschluss so, dass ein Eingreifen nun nicht vor März 2013 zu erwarten sei.
13.10.2012 | UN erlaubt Militäroffensive in Mali
Der von islamistischen Aufständischen kontrollierte Norden Malis soll zurückerobert werden. Der UN-Weltsicherheitsrat beschloss eine entsprechende Resolution.
Bewohner aus dem Norden demonstieren in Bamako für einen Militäreinsatz. Nun kommt er. Bild: dapd
NEW YORK dapd | Der Weltsicherheitsrat hat am Freitag eine Militäroffensive gegen die islamistischen Aufständischen im Norden Malis genehmigt. In den kommenden 45 Tagen soll UN-Generalsekretär Ban Ki Moon nun mit der Regierung in Bamako, der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) und der Afrikanischen Union (AU) einen Plan zur Rückeroberung der besetzten Gebiete ausarbeiten.
Die am Freitag verabschiedete Resolution nach Kapitel VII der UN-Charta ermöglicht die Anwendung militärischer Gewalt. Zudem wird die Europäische Union um Unterstützung und Ausbildung der malischen Streitkräfte gebeten.
In der von Frankreich eingebrachten Resolution wird zudem vor den islamistischen Milizen und der Terrorgruppe Al-Kaida im Islamischen Maghreb gewarnt und auf von ihnen begangene Menschenrechtsverletzungen hingewiesen.
Zwangsprostitution und Vergewaltigungen seien im Norden Malis weitverbreitet, sagte der stellvertretende UN-Generalsekretär für Menschenrechte, Ivan Simonovic, am Freitag. Frauen und Kindersoldaten würden für weniger als tausend Dollar verkauft. Erschießungen gefangener Soldaten und Vergewaltigungen seien systematisch. „Die Bevölkerung leidet“, sagte Simonovic.
Der Norden Malis wurde nach einem Militärputsch im März von den Islamisten erobert. Mehr als 1,5 Millionen Menschen wurden aus ihren Heimatorten vertrieben.
28.09.2012 | "Wir sind alle Mudschaheddin“
Im Norden Malis sammeln die Islamisten Rekruten und rüsten sich gegen eine Militärintervention. Insbesondere die Frauen leider unter der Scharia.
GAO afp | Den Finger am Abzug seines Gewehres befiehlt der Islamistenkämpfer dem Fahrer des Autos anzuhalten. „Wir haben beschlossen, die Sicherheit zu verstärken“, sagt Aziz Maiga. Er ist erst 14. Eine Gruppe junger Männer in staubigen Uniformen beginnt mit einer minutiösen Durchsuchung des Fahrzeugs.
Auf dem Weg von Nigers Grenze nach Gao, die größte Stadt unter Islamistenkontrolle in Mali, sind fast alle Bewaffneten Schwarzafrikaner – nicht mehr Nordafrikaner wie vor einem halben Jahr, als islamistische Rebellen das Gebiet eroberten. „Jeden Tag bekommen wir neue Freiwillige“, sagt Hicham Bilal aus Niger, der in Gao eine Kampfeinheit (“Katiba“) kommandiert. „Sie kommen aus Togo, Benin, Niger, Guinea, Senegal, Algerien und sonstwo. Wir sind alle Mudschaheddin. Wir sind überall zuhause.“
In Gao fahren offene Militärlastwagen mit schwarzen Fahnen herum. Auf den Ladeflächen drängeln sich Waffen und teils sehr junge Kämpfer. „Wir stehen bereit“, sagt ein Ivorer. „Wir warten auf die französischen und afrikanischen Truppen“.
Die Freiwilligen melden sich in Gao am Sitz der islamischen Polizei. „Ich heiße Khalil, ich bin Ägypter“, sagt ein hagerer Mann, der sein Arabisch von einem sierraleonischen Begleiter übersetzen lässt. „Ich bin gekommen, um meine Brüder zu unterstützern“. Ein anderer sagt ein Englisch, er komme aus Pakistan: „Der Islam kennt keine Grenzen“.
Die „islamische Polizei“ in Gao scheint tatsächlich unter Kontrolle von Ägyptern und Pakistanis zu stehen. Auf der Straße Richtung Südwesten, also Richtung Frontlinie, stehen vor allem kampferfahrene Algerier. Es heißt, sie gehörten zur Einheit von Mokhtar Belmokhtar, Chef der „al-Qaida im Islamischen Maghreb“ (AQMI).
Der westafrikanische Staatenbund Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) will in Mali eingreifen, um der Regierung bei der Rückeroberung des Nordens zu helfen. Am Rande der UN-Vollversammlung in New York diese Woche erneuerte Malis Übergangspremier Cheikh Modibo Diarra diese Forderung, unterstützt von Frankreich. Ein UN-Beschluss steht noch aus.
Um eine mögliche Landung von Elitetruppen aus der Luft zu verhindern, haben die Islamisten in Gao die Flugpiste der Stadt mit Autowracks vollgestellt. In Wohnvierteln wurden schwere Waffen in Stellung gebracht.
Die Islamisten haben die Anwendung des islamischen Scharia-Rechts in Gao verschärft. Am 10. September wurde fünf mutmaßlichen Straßenräubern jeweils eine Hand und ein Fuß abgehackt. Sie liegen im städtischen Krankenhaus, bewacht von Bewaffneten in einem grell beleuchteten Zimmer.
„Ja, ich gebe zu, einen Reisebus überfallen zu haben“, sagt einer der fünf. „Aber es ist nicht Ordnung, mir dafür Hand und Fuß abzuschneiden“. Die Gruppe aus vier Peul und einem Tuareg griff im September einen Bus auf der Straße von Gao nach Niger an und raubte die Passagiere aus. Sie wurden verhaftet und öffentlich in Gao amputiert. Jetzt liegen sie bis auf weiteres in rostigen Betten auf Matratzen ohne Decken, es ist mehr eine Gefängniszelle als ein Krankenzimmer.
„Ich wusste nicht, dass mir das passiert“, sagt ein anderer. „Ich werde nie mehr arbeiten können. Ich werde mich verstecken müssen. Mein Leben ist zu Ende.“
Der Arzt Moulaye Djité meint, den fünf gehe es gut. „Es gibt keine Infektion, nichts. Sie sind auf dem Weg der Genesung.“ Zur Lage in Gao sagt er bloß: „Es gibt eine Situation, die Sie kennen.“
Die „Situation“ ist ein strenges islamisches Regelwerk, auf dessen Bruch mindestens Auspeitschung steht. Im Radio gibt es keine Musik mehr, Frauen trauen sich nur noch verschleiert auf die Straße, und nur die ganz Mutigen rauchen in der Öffentlichkeit. Wer Tabak kaufen will, fragt im Laden nach „Paracetamol“.
„Ich hasse das“, sagt Aicha, ein 15jähriges Mädchen. Sie sitzt mit ihren Freundinnen im Innenhof eines Hause. „Ich fühle mich wie im Gefängnis“. Alle die jungen Mädchen sagen, das Leben sei jetzt die Hölle.
„Wir sind absolut gegen die Anwendung der Scharia. Aber sagen dürfen wir das nicht“, sagt Mimi, ihre Augen hinter dem Schleier versteckt. „Sogar bei 45 Grad müssen wir uns anziehen, als sei es kalt. Genug ist genug!“
Zeinab ist wütend: Sie spielt Basketball, aber das ist jetzt verboten. Toula erinnert sich, wie sie früher mit ihren Freundinnen zum Fluss ging, um Wäsche zu waschen und zu baden. „Das war schön! Aber heute verbieten die Barbaren alles. Wir sind nicht mehr frei. Und niemand kommt, um uns zu befreien.“
Ihre Nachbarin Fatoumata sagt, die Mädchen würden sich gegenseitig per SMS aufmuntern. „Halte durch“, steht in einer Textnachricht. „Mit Gottes Hilfe ist das bald vorbei.“
21.08.2012 | Islamisten gefährden Einheit des Landes
Die zerstrittenen Politiker in Mali einigen sich auf eine Regierung. Aber dass Westafrikas Staaten jetzt gemeinsam gegen radikale Islamisten vorgehen, bleibt unsicher. Von Katrin Gänsler
ABUJA taz | Das monatelange Hin und Her um die Bildung einer neuen Regierung in Mali ist beendet. Seit Montagnachmittag steht in der Hauptstadt Bamako das neue Einheitskabinett mit 31 Ministern unter Premierminister Cheick Modibo Diarra. Damit könnte nun zumindest fürs Erste die lange Diskussion um Personen, Posten und Machtverhältnisse vorbei sein.
Diese Fragen haben die Politiker in Bamako in den Monaten seit dem Militärputsch vom März offenbar mehr beschäftigt als der Umgang mit den islamistischen Gruppierungen, die die Nordhälfte des Landes kontrollieren, sowie der Tuareg-Rebellenarmee „Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad“ (MNLA). Diese hatte Anfang des Jahres gegen Malis Armee und Regierung rebelliert und rief am 6. April schließlich ihren eigenen Staat „Azawad“ aus, der allerdings mittlerweile unter Kontrolle von Islamisten geraten ist.
Aufatmen dürfte nun vor allem die westafrikanische Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft). Sie hatte Malis Politiker immer wieder aufgefordert, endlich eine Regierung zu bilden, um dann Schritte zur Wiederherstellung der Einheit Malis einleiten zu können. Sie drohte sogar damit, Mali zeitweilig von der Staatengemeinschaft zu suspendieren.
Trotzdem verlängerte sie immer wieder Fristen, die letzte lief eigentlich bereits am 31. Juli aus. Denn die vielen Vermittlungsversuche – allen voran mit Burkina Fasos Präsident Blaise Compaoré als Mediator – waren monatelang alles andere als erfolgreich. „Wir brauchen einfach eine Regierung. Und diese braucht eine Agenda“, bestätigte Eyesan Okorodudu, Leiter der Abteilung „Demokratie und Regierungsführung“ der Ecowas-Kommission, vergangene Woche auf einer Tagung in Nigerias Hauptstadt Abuja die Linie des Staatenbundes.
Putschisten in der Regierung
Der neuen Regierung gehören auch mehrere Personen an, die dem Drahtzieher des Miliärputsches vom 22. März, Amadou Sanogo, nahestehen. Dessen Anhänger hatten sich zuvor mehrmals quergestellt. Jetzt können sich alle gemeinsam endlich mit der für Mali dringendsten Frage auseinandersetzen: Ist eine militärische Intervention im Norden die richtige Lösung?
Damit ist in den vergangenen Wochen immer wieder geliebäugelt worden. Von einer westafrikanischen Interventionstruppe mit rund 3.000 Soldaten ist die Rede gewesen. Doch nach wie vor fehlt das Mandat des UN-Sicherheitsrates, auf das die Ecowas schon vor Wochen gehofft hatte.
Dass im Malis Nordhälfte, wo nur rund 10 Prozent der Gesamtbevölkerung leben, dringend etwas passieren muss, steht außer Frage. Seit Monaten kämpfen die islamistischen Gruppierungen „Ansar Dine“ und „Mujao“ (Bewegung für Einheit und Jihad in Westafrika) um die Macht in der Region. Der Al-Qaida-Arm AQMI (Al-Qaida im Islamischen Maghreb) hat die Sahara längst als strategischen Stützpunkt für sich erklärt. Die Tuareg-Rebellenarmee MNLA hat indes kaum noch etwas zu melden. Hunderttausende Menschen haben sich inzwischen in den Süden sowie die Nachbarländer geflüchtet.
„Trotzdem bedeutet eine solche Situation nicht zwangsläufig, dass mit einem Militäreinsatz reagiert werden muss“, sagt Mahamadou Niakate, Generalinspektor der malischen Polizei. Seiner Meinung nach besteht nach wie vor die Möglichkeit zu einem Dialog – auch mit den radikalen Islamisten. „Ja, Ansar Dine gilt als radikal. Aber vor einiger Zeit hat die Gruppe beispielsweise der Einrichtung eines Versorgungskorridors zugestimmt.“
Klar sei allerdings auch, dass die Bevölkerung die Ziele von Ansar Dine nicht teile. „Die Gruppe will die Scharia. Diese Forderung akzeptiert in Mali niemand. Für uns ist sie viel zu radikal.“
05.08.2012 | Bewohner wehren sich gegen Scharia
Bewohner der Distrikthauptstadt Gao in Nordmali verhindern ein öffentliches Handabhacken. Islamisten wollten einen Waffendieb aus den eigenen Reihen bestrafen.
BAMAKO afp/taz | In Gao, der größten Stadt des von Islamisten kontrollierten Nordens von Mali, hat die Bevölkerung am Sonntag die strikte Anwendung des islamischen Schariarechts verhindert. Augenzeugen zufolge wurden die Islamisten in der Stadt daran gehindert, einem angeblichen Dieb öffentlich die Hand abzuhacken.
„Sie konnten ihm die Hand nicht abschneiden“, berichtete ein Lehrer aus Gao telefonisch gegenüber AFP. „Ganz früh am Morgen stürmten Hunderte Jugendliche den Unabhängigkeitsplatz von Gao, um die Bestrafung zu verhindern.“
Am Samstag hatte die islamistische Miliz „Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika“ (Mujao), eine der in Nordmali herrschenden Gruppen, im lokalen Rundfunk angekündigt, es werde am Sonntag auf dem zentralen Platz von Gao einem Dieb die Hand abgehackt.
Daraufhin kam es zur Mobilisierung der Bevölkerung. „Sie konnten den Gefangenen gar nicht erst auf den Platz bringen“, berichtete der Leiter einer Nichtregierungsorganisation in Gao. „Die Bewohner von Gao hielten den Platz besetzt.“
Der „Gefangene“ war angeblich selbst Mujao-Mitglied und hatte Waffen gestohlen, um sie weiterzuverkaufen. Die Mujao ist ein Zweig der „Al-Qaida im Islamischen Maghreb“ (AQMI) und soll in dieser für Entführungen von Ausländern zuständig sein. Sie soll vor allem Islamisten aus Ländern wie Mauretanien, Senegal und Niger angeworben haben, anders als die vor allem aus Maliern bestehende größere islamistische Gruppe Ansar Dine.
In Gao ist Mujao die stärkste Miliz. Vor Kurzem behauptete der Präsident des Nachbarlandes Niger, Mahamadou Issoufou, Ausbilder aus Pakistan seien in Gao gelandet, um Kämpfer auszubilden.
Dieben die Hände abzuhacken gilt als besonders rigorose Interpretation der Scharia und ist vor allem in Saudi-Arabien verbreitet. Vor Kurzem wurde in der Kleinstadt Aguelhok in Mali ein unverheiratetes Paar zu Tode gesteinigt; in Timbuktu zerstörten radikale Islamisten heilige Grabstätten aus dem Mittelalter.
„Wir wollen nicht wissen, was der junge Mann gemacht hat“, berichtete ein Bewohner von Gao über die Protestaktion. „Aber die werden nicht vor unseren Augen seine Hand abhacken. Die Islamisten haben nachgegeben. Und die Bürger haben als Siegeszeichen die malische Nationalhymne angestimmt.“
30.07.2012 | Präsident entmachtet Regierungschef
Im westafrikanischen Mali wird weiter um die politische Macht gerungen. Interimspräsident Traoré hat Regierungschef Diarra entmachtet und sich selbst mehr Kompetenzen verschafft.
BAMAKO afp | Der Interimspräsident von Mali, Dioncounda Traoré, hat den Übergangsregierungschef Cheick Modibo Diarra faktisch entmachtet. Traoré beschnitt am Sonntag die Kompetenzen des Ministerpräsidenten und schuf zugleich neue Organe, mit deren Hilfe die Krise im Norden des Landes beigelegt werden soll.
In einer im Staatsfernsehen verbreiteten Rede an die Nation verkündete Traoré, er habe einen Hohen Staatsrat begründet, dem er selbst vorstehe, und der die Verfassung Malis “vervollständigen” und den “gesellschaftlich-politischen Realitäten anpassen” solle.
Zudem werde er persönlich die Beratungen über die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit leiten, sagte Traoré weiter. Eine neue nationale Kommission werde ferner Friedensverhandlungen mit den Islamisten führen, die Nord-Mali kontrollieren.
Am Samstag hatte Übergangs-Ministerpräsident Diarra noch seinen von den wichtigsten Parteien des Landes geforderten Rücktritt abgelehnt. Das Land habe ihm diese Aufgabe anvertraut und er werde nicht abtreten, sagte der zunehmend umstrittene Diarra dem Fernsehsender Africable. Traoré war erst am Freitag nach zweimonatiger ärztlicher Behandlung in Frankreich wieder in die Heimat zurückgekehrt.
Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) hatte Mali zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit bis zum 31. Juli aufgefordert.
In Mali hatte am 22. März eine Gruppe von Soldaten den langjährigen Präsidenten Amadou Toumani Touré gestürzt. In dem Machtvakuum nach dem Putsch im März gelang es den Tuareg-Rebellen und den mit ihnen verbündeten Islamisten innerhalb weniger Tage, den gesamten Norden des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Seitdem wurden die Tuareg-Rebellen jedoch von den Islamisten aus den wichtigsten Städten Timbuktu, Gao und Kidal vertrieben. Die Islamisten führten in Timbuktu das islamische Recht der Scharia ein und zerstörten eine Reihe von islamischen Heiligengräbern.
21.07.2012 | Nichts ist, wie es war
Der Norden Malis wird von Islamisten beherrscht. Im Grenzgebiet versucht das Militär, Stärke zu zeigen, und gängelt die Medien. Eine Stadt und ihr Lokalradio im Alarmzustand. Von Gunnar Rechenburg
MOPTI taz | Sie waren schon mehrfach bei ihm. Drei, vier Soldaten der malischen Armee, bewaffnet mit Sturmgewehren. Sie klopften, durchsuchten die Räume, drohten und gingen wieder. „Nichts Besonderes“, sagt Mamadou Bocoum. Er ist Chefredakteur des lokalen Radiosenders Kaoural in Mopti. Die Stadt ist die letzte in der Südhälfte des Landes, die gefahrlos bereist werden kann. Rund 70 Kilometer dahinter beginnt Islamistengebiet.
Mamadou Bocoum ist Journalist des Jahres 2012 in Mali. Seit Wochen darf er aber nicht mehr berichten, jedenfalls nichts Politisches. „Es gibt für uns eine ganz klare Warnung des Militärs: Entweder wir bleiben unpolitisch oder sie kommen und zerstören den Sender.“
Bocoum ist derzeit nicht gut auf das Militär und die Pseudoregierung in Malis Hauptstadt Bamako zu sprechen. „Ich darf zwar nicht senden, aber wer soll mir das Recherchieren verbieten?“, fragt er trotzig. Die Freiheit der Presse ist in Malis Grundgesetz verankert, doch seit mehr als zwei Monaten gilt dies nur noch eingeschränkt. Seitdem im März in der Hauptstadt Bamako das Militär putschte und die Nordhälfte des Landes unter die Kontrolle einer Koalition von Tuareg-Rebellen und islamistischen Milizen geriet, haben sich die politischen Verhältnisse in Mali dramatisch verändert.
Wieder klingelt eines der Telefone auf Bocoums Schreibtisch. Er spricht laut, die Verbindung ist schlecht. Ein Kollege aus Gao berichtet ihm von den Zuständen in der von Islamisten kontrollierten größten Stadt Nordmalis. Bocoum stellt auf laut.
In Gao, sagt der Journalist, sei am Morgen demonstriert worden. Die Islamisten hätten in die Menge geschossen. „Es hat mehrere Tote gegeben.“ Die Stimmung sei ebenso angespannt wie die Versorgungslage. „Es fehlt vor allem Wasser.“ Beim Sturm auf Gao Ende März hätten die Tuareg-Rebellen und die islamistischen Kämpfer alles zerstört, was nach öffentlicher Ordnung aussah: Banken, Krankenhäuser, Verwaltungsgebäude, Geschäfte und Mobilfunkantennen. „Gao, Timbuktu und Kidal – es ist überall dasselbe“, sagt Bocoum, als er das Gespräch beendet.
Wenn man den Radiojournalisten nach den Gründen für die Situation im Norden fragt, beschuldigt er an erster Stelle Malis Armee. Sie habe versagt. Und mehr als das. „Ich habe hier Interviews“, sagt er und zeigt auf seinen Laptop, „mit Eltern, deren Söhne seit Wochen verschwunden sind. Wir haben Anhaltspunkte dafür, dass die Armee gegen arabisch- und tuaregstämmige Familien vorgeht.“ Fünf Menschen soll die Armee allein in Mopti in den letzten Wochen verschwinden lassen haben.
Das Leben in Mopti scheint äußerlich seinen gewohnten Gang zu gehen, Geschäfte und Märkte sind geöffnet. Aber der Handel stagniert, die Händler aus dem Norden bleiben aus. Immer weniger kommen mit ihren Pirogen den Fluss Niger hinauf, der sich eigentlich von Mopti aus gen Norden schwingt, bevor er südöstlich Richtung Niger und Nigeria weiterfließt. Diese Route ist jetzt dicht, und im Kriegsfalle würden wohl auch die Lastwagen aus Burkina Faso und der Elfenbeinküste wegbleiben. Die Menschen in Südmali sind jedoch auf diese Waren angewiesen.
Bereits jetzt nimmt die Militärpräsenz in und um Mopti spürbar zu. Die Armee patrouilliert zunehmend mit hochgerüsteten Pick-ups, selbst in der Altstadt. Außerhalb hat das Militär die Kontrolle der Checkpoints übernommen – ein Job, den in Friedenszeiten die Polizei erledigt. Jetzt stehen dort Truppenpanzer und bewaffnete Fahrzeuge.
Offensichtlich bereitet sich Malis Militär in Mopti auf den großen Gegenschlag vor: Immer wieder sind Schüsse vom Flughafen her zu hören. Dort hat die Armee ein Trainingsgelände. Die Truppenteile, die im März aus Gao, Timbuktu und Kidal geflohen sind, hat man nun teilweise in Mopti konzentriert.
Moptis Armeekommandant Patrick Sangaré ist zum Gespräch an einem neutralen Ort bereit. „Die Sicherheit der Menschen hier ist gewährleistet“, behauptet der Kommandant. Es habe einige wenige Korridore gegeben, durch die Islamisten oder Tuareg-Rebellen gen Süden gelangt seien, aber „diese Lücken sind nun geschlossen“. Auf die Frage, ob die Armee noch in diesem Jahr in den Norden einmarschieren wolle, antwortet er nur: „Als Soldat muss man den Feind überraschen.“ Derzeit, sagt Sangaré, sei die Luftwaffe mit Aufklärern über dem Norden im Einsatz. „Die malische Armee ist gut ausgerüstet, die Region Mopti ist sicher.“
Eine Behauptung, die in Sicherheitskreisen auf große Skepsis stößt. Vier Flugzeuge soll Malis Militär angeblich besitzen. „Nicht eines davon kann Munition mit sich führen“, sagt ein belgischer Sicherheitsexperte, der seit Jahren in Westafrika tätig ist. Die Hubschrauber seien zu klein und „zum großen Teil nicht einsatzbereit“. Und ausländische Hilfe? Einiges sei wohl schon da, vermutet der Belgier.
Verstärkung für die malische Armee könnten die sogenannten Gandakoye und Ganda Izo bringen: eine traditionelle Miliz, die von jungen Männern gebildet wird, die anderen Ethnien als den Tuareg oder Arabern angehören und gemeinsam aus den Städten des Nordens nach Mopti geflohen sind. Sie scheinen für den Ernstfall zu proben. Das Militär spricht darüber nicht, die Bevölkerung wohl.
Bei einem Besuch im Camp der Milizen sitzen dort etwa 700 junge Männer in kleinen Gruppen – und warten. Auf was, dürfen sie nicht sagen. Sie rauchen, spielen Karten, schlafen auf gepackten Taschen. In einem der Schlafsäle näht ein Jugendlicher ein GriGri, einen Talisman.
Die Funktionäre reden, doch gesprächig sind sie nicht. Sie wiederholen lediglich die offizielle Sprachregelung: Gandakoye und Ganda Izo seien sie nicht, sondern Flüchtlinge, die dringend Hilfe bräuchten. Nur einmal gewährt der Mann, der sich als „Personalleiter“ vorgestellt hat, einen kleinen Einblick in die Kämpfermentalität: „Die Ziege ist ein friedliches Tier, aber wenn man sie reizt, stößt sie zu.“
Auch Radiomann Mamadou Bocoum hat das Camp besucht. „Es besteht kein Zweifel, dass die Jungs kämpfen werden“, sagt er. Er hat erfahren, dass sie in Mopti Geld für Waffen gesammelt haben. Inzwischen gibt es Berichte, dass in Douentza, einer Stadt 180 Kilometer von Mopti, Angehörige dieser Milizen zu den Islamisten übergelaufen seien.
Was viele Malier zurückhaltend mit „das Problem im Norden“ umschreiben, sorgte international für Aufsehen, als die Islamisten in einem brutalen Akt das Weltkulturerbe in Timbuktu zerstörten. Die Sache hat durchaus Potenzial, zum internationalen Konfliktfall zu werden. Das islamistische Bündnis – bestehend aus der in Algerien beheimateten Aqmi (al-Qaida im Islamischen Maghreb) und der malischen Miliz Ansar Dine – ist keine rein malische Bewegung. Man geht von Verbindungen nach Nigeria und Somalia aus, sogar bis nach Pakistan und Afghanistan, und aus den Anrainerstaaten wie Mauretanien, Tschad, Niger, Burkina Faso und Libyen sollen Sympathisanten oder heimatlose Terroristen bereitstehen.
Wenn sie sich im Norden Malis festsetzen, dann haben die salafistischen Extremisten den Gürtel in Afrika geschlossen. Der belgische Sicherheitsexperte, der seinen Namen nicht nennen will, sagt: „Das Schlimmste wäre, wenn sich die Islamisten hinter Kidal in die Berge verschanzen.“ Dort beginnt Algerien.
Um die Tuareg-Rebellen und ihren Traum vom eigenen Staat Azawad geht es schon gar nicht mehr. Es zeigt sich immer deutlicher, dass die Tuareg von den Islamisten nur benutzt wurden. Jetzt regieren neue Herren in den Städten. In Gao sollen die Islamisten den Tuareg-Rebellen ein Ultimatum gestellt haben, innerhalb von zwei Stunden die Stadt zu verlassen. Nun patrouilliert dort die Schariapolizei, wie Menschen aus Gao berichten. Frauen und Männer dürfen sich nicht mehr zusammen zeigen, Bars sind geschlossen oder zerstört, Sport ist verboten, Rauchen und Alkohol sowieso.
Könnte Mali ein afrikanisches Afghanistan werden? Bocoum nickt. „Wir müssen uns darauf einstellen.“
10.07.2012 | Die Ikonoklasten von Timbuktu
Rebellen, Islamisten, Tuareg: Die Lage in Mali ist unüberschaubar. 16 wichtige Heiligengräber in Timbuktu sind derweil von einer gewaltsamen Zerstörung bedroht. Von Lydia Haustein
Staatliche Systeme bedienen sich immer der symbolischen Kraft von Bildwelten, um durch sie Identitäten zu verändern oder die alten politischen Systeme durch neue Inszenierungen ihrer Macht zu überblenden. Konkret verwenden die jeweils führenden Eliten Bilder als Symbole der Freiheit, aber auch als Projektionsflächen, um feindliche oder aggressive Handlungen auszulösen.
Von solchen radikalen Akten zeugen höchst aktuell Werke der documenta 13, deren Anspielungen von der Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan bis zu den Ereignissen auf dem Tahrirplatz reichen. Parallel zu den Kampfhandlungen in Mali ist eine ausgeprägte Propaganda zu beobachten, deren unüberschaubares „Schlachtfeld“ sich in den Medienquoten ebenso niederschlägt wie in realen Aggressionen gegen Menschen.
Der ikonoklastische Gestus geht und ging auch in Timbuktu mit einer neuen Bildrhetorik einher. Seit dem 14. Jahrhundert war die berühmte Oasenstadt „am Rande der Welt“ einer der wichtigsten Umschlagplätze für Waren und Ideen. Timbuktu als Sehnsuchtsort in der Wüste Sahara erlebte im Verlauf seiner Geschichte immer wieder neue Blüten unter sich verändernden kulturellen Vorzeichen. Neben architektonischen Kostbarkeiten zeugen davon einzigartige Sammlungen von unschätzbar wertvollen Manuskripten, deren sorgfältige Restaurierung gerade in den letzten Jahren am Ahmed-Baba-Institut begonnen wurde.
Diese über 30.000 Stücke umfassende Sammlung einzigartiger Schriften enthält Berichte und Abhandlungen aus allen Bereichen des Lebens: höchst intellektuelles oder naturwissenschaftliches neben mystischem Gedankengut, das kulturell in einer von Toleranz geprägten Gelehrsamkeit tief verankert war. Heilige Männer und Frauen in der schiitischen Religion wie Sidi Moctar, Sidi Mahmut und Alpha Moya wurden an ihren Grabstätten verehrt. Bis heute spielt das heilige Grab (Marabut) in der Volksreligion mitunter eine größere Rolle als die Moschee.
Bereits das 19. Jahrhundert kannte aus diesem Grunde eine Dschihad-Bewegung, die sich gegen die alten Grabstätten und Moscheen wandte, die sie als Konkretisierungen einer afrikanischen Mischreligion betrachteten. Die verschiedenen Aspekte der Toleranz verloren sich in einem immer mehr von Radikalität bestimmten Umfeld, das in der Regierungszeit von Seku Ahmadou von dem Versuch geprägt war, einen Gottesstaat zu errichten. Um 1830 ließ der radikalislamische Führer der Fulbe Massina etliche Moscheen aus der Songhay-Zeit niederreißen.
Doch niemand wagte die zentralen heiligen Monumente zu zerstören. Zu groß war die Ehrfurcht. Doch darum scheren sich die heutigen salafistischen Ableger eines „reinen“ Wahhabismus nicht mehr. Der Terror jeglicher Richtung bedient sich entsprechender Bilder und symbolischer Akte. Der Anthropologe Michael Taussig spricht von der absoluten Macht öffentlicher Bilder. Mittlerweile gehören Mythen und Symbole des Terrors zu den am häufigsten reproduzierten Bildern der Welt.
Dabei neigen die Beteiligten dieses Spiels zur formelhaften Verkürzung, zu Klischees, zu reduzierten Mustern, kurz: zu simplifizierenden Ikonen kollektiven Erinnerns. Auch der terroristische Akt des Ansar Dine, eines selbsternannten salafistischen Verteidigers des reinen Islam, kulminiert in einem radikalen Akt der Zerstörung in Timbuktu und fügt der internationalen Sprache einer bestehenden Bildsymbolik der Gewalt nur neue Vokabeln hinzu.
John Gray bemerkt, dass nichts irreführender sein könnte, als den islamistischen Extremismus als mittelalterlich zu bezeichnen oder die Ursache dieses Phänomens auf die verpasste Modernisierung des Islam zurückzuführen: die Netzwerke des Terrors sind als Nebenprodukte der Globalisierung ganz modern. Sie bedienen sich avancierter digitaler Medien und appellieren an Emotionen.
Dies dient dem Zweck, die gewaltsamen Zerstörungen der seit 1988 zum Weltkulturerbe der Menschheit gehörenden Grabstätten und der Djingerber-Moschee in Mali zu bekräftigen. Ohne Bilder in global agierenden Medien hätte die angekündigte Zerstörung von 16 wichtigen Heiligengräbern in Timbuktu keinen Sinn. Gleichzeitig zerstören die Rebellen jedes Symbol der Moderne, das den Menschen in Timbuktu das Gefühlt von Zeitgenossenschaft gibt.
Die Reaktion auf die Unesco und ihre Liste der gefährdeten Kulturschätze ist dabei nur noch ein weiterer strategischer Schritt im Bestreben, ganz Mali unter die Kontrolle dieser der al-Qaida nahe stehenden Gruppierung zu bringen. Geradezu hilflos erscheint angesichts dessen die Forderung der Unesco, die Zerstörung von Gräbern und Moscheen sofort zu beenden. Ansar Dine führt als Argument dagegen lediglich an, dass die Verehrung islamischer Gelehrter an diesen Grabstätten dem reinen Islam widerspreche.
Um diese Interpretation des Islam durchzusetzen, werde seine Gruppe sich am islamischen Recht, der Scharia, orientieren. Mit seiner unnachgiebigen Haltung bedrohte der Rebellenführer auch die Ältesten der Stadt, die anfangs versuchten, die Mausoleen und Moscheen zu schützen. Als dann noch mahnende Worte von Fatou Bensouda, der neuen Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof aus Den Haag, Mali erreichten, schien dies seine Aggressionen eher noch zu steigern.
Die Kämpfer um Ansar Dine geben jedenfalls nicht auf und wenden ihre Zerstörungen verstärkt gegen kulthafte oder rituelle Artefakte traditioneller Bildkulturen. Wir erleben die verstörende Erfahrung politisch motivierter Radikalität: Sufis stehen gegen Wahhabiten und liefern sich einen Kulturkampf ganz eigener Art.
Worum geht es eigentlich in Mali? Die Lage ist kompliziert, Freund und Feind sind nicht nach einfachen Kategorien zu unterscheiden. Fakt ist allerdings, dass die Menschen sowohl von den Rebellen als auch von Islamisten gequält werden. Wie in jedem anderen Krieg wird gegenwärtig auch in Mali das Recht auf Leben ebenso mit Füßen getreten wie das Recht auf den Schutz kostbarer und unwiederbringlicher Kulturschätze.
Die Zivilbevölkerung ist schockiert. In den vergangenen Monaten wurden zahlreiche Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, getötet. Mehr als 120.000 Menschen sollen nach UN-Angaben bereits in die Nachbarländer geflohen sein. 150.000 sind Vertriebene im eigenen Land. Zugang zu Trinkwasser oder Nahrungsmitteln ist nur sporadisch gegeben.
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen warf auch der malischen Armee schon vor Monaten vor, einige Flüchtlingslager von Hubschraubern aus bombardiert zu haben. Gleichzeitig beginnen Ansar Dines Truppen mit der Verlegung von Landminen, um andere feindliche Tuareg-Rebellen an der Rückeroberung der Stadt zu hindern. Verschiedene Gruppierungen der Tuareg stehen sich gegenüber.
Dieser Krieg – jeder gegen jeden – scheint seit den Sechzigerjahren immer wieder aufzuflammen. Obwohl es im Kampf zwischen Mali und den Rebellen offiziell um Autonomie ging, war der stärkste Feind, die Armut, stets präsent. Die Lebensverhältnisse in der Sahelzone veränderten sich dramatisch, viele Nomaden konnten nur noch in der Stadt überleben. Sie waren entwurzelt, verarmten und blieben häufig ohne Bildung. Die Argumente änderten sich, die Gewalt blieb.
Alle in diesem Spiel Beteiligten versuchen ihren Vorteil aus dieser Situation zu ziehen. Diktator Muammar al-Gaddafi in Libyen unterstützte die Rebellen, nutzte sie jedoch als Söldner aus – ein hoher Preis. Seit seinem Tod hat ein auch unter ihm ohnehin nur fragiles Gleichgewicht noch keine neue Balance gefunden. Im Gegenteil.
Seit dem Zusammenbruch des Regimes in Libyen spitzt sich die Situation mehr und mehr zu. Über 4.000 Tuareg-Söldner sollen den verschiedenen Armeen angehören. Wer in welchen Milizen aktiv wird und warum, ist nicht einfach zu beantworten.
Immer wieder sind die Tuareg Opfer und Täter. Obwohl sich oft nichts länger hält als romantische Exotisierungen, scheint das romantische Bild der Tuareg mehr als angekratzt. Die Tuareg, ihrer indigoblauen Kleidung wegen als „blaue Ritter der Wüste“ berühmt geworden, haben extreme Tourismusmythen gebildet. Hartnäckig hält sich der Mythos des unbesiegbaren, freiheitsliebenden Volkes, das seit der Kolonialzeit für seine Unabhängigkeit, Freiheit und traditionelle nomadische Lebensweise kämpfe.
Doch tatsächlich hat die Zuschreibung all dieser Eigenschaften mit den aktuellen Lebensbedingungen wenig zu tun. Die Zuschreibung der Freiheit kontrastiert vor allem mit der Tatsache, dass die Tuareg schon immer in fest zementierten hierarchisch-feudalen Gesellschaftsstruktur lebten. Diese hatten und haben mit demokratischen Werten wie Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit nichts zu tun.
Die Adligen (Imazighen) dominierten die schwarzen Sklaven und die abhängigen Bauern (Iklan). Im Gegensatz zu diesen Realitäten waren es die Tuareg selbst, die an ihrem Image gearbeitet haben. Mamadou Diawara, Ethnologe in Frankfurt, beschreibt es so: „Die Tuareg und andere Völker haben sich [dieses] Bild angeeignet, arbeiten damit und verkaufen […] sich als ’Blaumänner‘. Sie haben das Spielchen verstanden.“
Und manchmal blieb ihnen auch nichts anderes übrig. Aufgrund großer wirtschaftlicher Not stützten sich die Tuareg im Laufe der neunziger Jahre immer mehr auf illegale Geschäfte – vom Warenschmuggel durch die Sahara bis zum blühenden Kokainhandel. Durch die Entführung von Touristen verdienten sie noch etwas dazu. Die radikale MNLA im Norden entzog sich dem Zugriff der Regierung Malis.
Untergruppierungen des Terrornetzwerks al-Qaida nutzten die Instabilität der Region für ihre eigenen Agenden. Diese Eskalation ist keine Überraschung. Angesichts der ökonomischen und machtpolitischen Auseinandersetzungen sind die Tuareg schon seit vielen Jahrzehnten die Verlierer.
So sagte Ag Leche, Tuareg und Mitglied der heute weltberühmten Musikergruppe Tinariwen: „Wir haben schon seit Langem Alarm geschlagen. Die Welt hat uns 50 Jahre lang vergessen. Hätte jemand unsere Texte sorgfältig gehört, hätte er schon gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es zu einem neuen Gewaltausbruch kommt.“ Am 7.?Juli gab es ein Gipfeltreffen in Ougadougou, um den Konflikt in Mali einzudämmen. Ob es den Menschen helfen wird, bleibt dahin gestellt. Der Westen konzentriert sich unterdessen auf das Regelwerk der Unesco.
Lydia Haustein ist Professorin und unterrichtet Kunstgeschichte an der FU Berlin und an der KH Berlin-Weißesee. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Global Icons“
10.07.2012 | Verwüstete Grabstellen
BAMAKO afp | Islamistische Rebellen haben in der malischen Wüstenstadt Timbuktu die Zerstörung jahrhundertealter Gebäude fortgesetzt. Am Dienstag begannen sie nach Angaben von Augenzeugen damit, Gräber der größten Moschee der Stadt einzureißen.
„Sie sind dabei, zwei Mausoleen der großen Djingareyber-Moschee zu zerstören“, sagte ein Augenzeuge der Nachrichtenagentur AFP. Die in Regionen des nördlichen Mali herrschenden Islamisten hatten Ende Juni damit begonnen, die zum Weltkulturerbe zählenden Bauten einzureißen.
Nach Angaben der Augenzeugen zerstörten die Männer die Gräber, die in der charakteristischen Lehmbauweise erbaut wurden, mit Hacken und Meißeln. Ein weiterer Augenzeuge sagte, die Islamisten hätten in die Luft geschossen, um Schaulustige zu vertreiben.
Ende Juni hatten Mitglieder der islamistischen Rebellengruppe Ansar Dine bereits sieben der insgesamt 16 Mausoleen in der Wüstenstadt eingerissen und angekündigt, auch die weiteren Grabmäler „ohne Ausnahme“ zu zerstören. Vor einer Woche zerstörten sie zudem eine Tür an der Sidi-Yahya-Moschee, deren Öffnen dem örtlichen Glauben zufolge Unglück bringt.
Ebenso wie die Heiligengräber stammen die drei großen Moscheen in Timbuktu aus der Blütezeit der Stadt zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert, als sie ein wichtiger Knotenpunkt der Karawanenstraßen und ein Zentrum der islamischen Gelehrsamkeit war. Seit 1988 gehören die Bauten zum Weltkulturerbe.
Nach Ansicht der Islamisten verstößt die Verehrung der Heiligen gegen den Islam, der den Gläubigen gebietet, allein Allah zu verehren. Im Glauben der Bevölkerung spielen die Heiligen aber eine wichtige Rolle als Beschützer der Stadt.
Ansar Dine hatte die am Nordufer des Niger-Flusses gelegene Oasenstadt gemeinsam mit Tuareg-Rebellen unter ihre Kontrolle gebracht, nachdem die Regierung in Bamako im März von einer Gruppe Soldaten gestürzt worden war. Später vertrieben die Islamisten dann die Tuareg
06.07.2012 | UN beschließt Mali-Resolution
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat eine Mali-Resolution verabschiedet. Den islamistischen Extremisten im Norden des Landes drohen nun Sanktionen
NEW YORK dapd | Der UN-Sicherheitsrat hat islamistischen Kämpfern im Norden Malis Sanktionen angedroht. In einer am Donnerstag verabschiedeten Resolution verurteilt der Rat die jüngste Verwüstung historischer Stätten in Timbuktu durch die Extremistengruppe Ansar Dine. Jeder, der Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Kaida im Islamischen Maghreb (AQIM) unterhalten, müsse auf eine schwarze Liste gesetzt werden, hieß es weiter.
Zudem äußerte der Weltsicherheitsrat Besorgnis über die humanitäre Lage in Mali und forderte eine Wiederherstellung der verfassungsgemäßen Ordnung nach dem Militärputsch vom 21. März. Eine Intervention wurde mit der Resolution nicht genehmigt.
Eine solche Truppe hatten die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) und die Afrikanische Union vorgeschlagen. Ecowas-Präsident Kadré Désiré Ouédraogo erklärte, die Organisation betrachte die Resolution als ersten Schritt in Richtung einer Eingreiftruppe, die versuchen würde, die Islamisten aus dem Norden Malis zu vertreiben.
Die Gruppe Ansar Dine (Verteidiger des Islams) steht mit AQIM in Verbindung und will in dem von ihr beherrschten, Asawad genannten Gebiet strenges islamisches Recht durchsetzen. Sie hatte nach einem Putsch im März das Chaos ausgenutzt und gemeinsam mit säkularen Kämpfern der Volksgruppe der Tuareg weite Teile des Nordens erobert. Dann kam es aber zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Rebellengruppen, und die Islamisten gewannen die Oberhand. Ein Sprecher der Gruppe hatte am Montag erklärt, Ansar Dine erkenne die Vereinten Nationen nicht an.
04.07.2012 | Im Bann der Vergangenheit
Kommentar von Dominic Johnson
Hilflos sieht die Welt zu, wie in Mali einer der einst stabilsten Staaten Afrikas zerfällt. Es liege an der westafrikanischen Region selbst, sich zu engagieren, lautet die internationale Sprachregelung: Erst soll die westafrikanische Regionalorganisation Ecowas einen überzeugenden Plan vorlegen, den man von außen unterstützen kann.
Die Ecowas wiederum sagt: Erst soll in Mali eine stabile Regierung entstehen, dann könnte man Hilfe gewähren. In Mali kann aber keine stabile Regierung entstehen, solange in der einen Landeshälfte islamistische Milizen und in der anderen putschwütige Soldaten die zivilen Institutionen aushöhlen. So beißt sich die Katze in den Schwanz.
Vielleicht ist es zu viel verlangt, ausgerechnet von Westafrika zu erwarten, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Als vor anderthalb Jahren die Elfenbeinküste im Bürgerkrieg versank, blieb die Ecowas ebenso machtlos, und ihre beiden wichtigsten und größten Mitglieder Nigeria und Ghana fanden sich auf entgegengesetzten Seiten des Konflikts wieder.
Heute sind Nigeria und Ghana wieder im Zwist, weil Ghanas Regierung begonnen hat, Einwanderer aus den Märkten und dem Einzelhandel zu verdrängen. Die beiden Länder haben schon in vergangenen Jahrzehnten mit wechselseitigen Massenausweisungen völlig unnötige regionale Krisen vom Zaun gebrochen. Jetzt verhindern sie schon wieder die Einigkeit der Region.
Aber das wahre Problem Westafrikas geht noch tiefer. Für Krisen in frankophonen Ländern wie Mali oder Guinea sind immer noch vor allem frankophone Länder zuständig, für Krisen in anglophonen Ländern wie Liberia oder Sierra Leone sind es anglophone Länder. Aber Westafrikas Gesellschaften sind schon längst aus dem Schatten ihres kolonialen Erbes hervorgetreten. Es ist Zeit, dass es Westafrikas Politik auch tut.
04.07.2012 | In der Sahara ist es viel zu heiß
Greift jemand gegen die Islamisten ein, die in Timbuktu Kulturgüter zerstören? „Nicht heute oder morgen“, heißt es dazu bei Westafrikas Regionalorganisation Ecowas. Von Katrin Gänsler
ABUJA taz | Handeln wollen die Staaten Westafrikas in Mali unbedingt, um die Einheit des riesigen Wüstenstaates wiederherzustellen. Die Frage ist bloß, wann. Schon vor Wochen beschloss die Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) im Prinzip, Soldaten nach Mali zu schicken, aber davon ist nichts zu sehen.
Sunny Ugoh, Sprecher der Ecowas an ihrem Sitz in Nigerias Hauptstadt Abuja, kann kein Datum nennen, an dem möglicherweise Soldaten in den von Islamisten beherrschten Norden Malis geschickt werden. „Wir sprechen nicht über heute oder morgen. Wir sprechen über einen Prozess, für den wir bereits wichtige Schritte eingeleitet haben“, sagt er und stellt klar: „Im Moment wäre es naiv, Friedenstruppen zu schicken. Wir brauchen das Mandat des UN-Sicherheitsrats.“ Dann könnten Ecowas-Einheiten Hand in Hand mit Malis Armee kämpfen.
Die Zeit drängt. Am vergangenen Wochenende zerstörte die islamistische Gruppe Ansar Dine, die seit Anfang April immer weitere Teile des Nordens von Mali unter ihre Kontrolle gebracht hat, mindestens sieben heilige Grabstätten in der Stadt Timbuktu. Die Welt ist auch Tage später noch entsetzt darüber, denn die Mausoleen gehören zum Weltkulturerbe der Unesco. Es sind die Heiligtümer der historischen Wüstenstadt, die früher auch viele Touristen anzogen, auf die die malische Wirtschaft angewiesen ist. Doch Ansar Dine ist sich keiner Schuld bewusst.
Das gilt wohl auch für neue besorgniserregende Meldungen, die die größte nordmalische Stadt Gao betreffen: Islamisten sollen rund um die Stadt Antipersonenminen ausgelegt haben. Malische Zeitungen berichten, dass die Einwohner darüber per Radio informiert worden seien. Die Minen sollen die Tuareg-Separatisten der Nationalen Befreiungsbewegung von Azawad (MNLA) von Gao fernhalten, von wo sie vor einer Woche vertrieben wurden. Die MNLA, deren vorrangiges Ziel stets ein eigener Tuareg-Staat war, aber nie die Islamisierung, hat inzwischen die Kontrolle über die Städte Nordmalis komplett verloren. Mittlerweile sollen 300.000 Menschen aus der Region geflohen sein.
„Die Lage ist extrem schwierig“, gibt Ecowas-Sprecher Sunny Ugoh zu. Trotzdem tue die Ecowas all das, wozu sie in der Lage sei. In den kommenden Tagen soll eine Sondierungsmission nach Mali geschickt werden, um eine mögliche Truppenentsendung vorzubereiten. Wichtig sei außerdem, weiterhin einen Dialog anzubieten. Federführend bei all dem ist Burkina Fasos Präsident Blaise Compaoré.
Weiter diskutieren wollen die westafrikanischen Länder am kommenden Samstag bei einem Minigipfel in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou. An dem Treffen sollen auch Malis Übergangsregierung sowie Vertreter der Zivilgesellschaft teilnehmen. Ziel ist es, endlich eine einheitliche Strategie zu finden und vielleicht eine neue Regierung für Mali zu bilden, die dann förmlich um eine regionale Militärintervention bitten könnte. Denn die amtierende Übergangsregierung hat sich vor allem mit Streitigkeiten um Personen und Ämter sowie einem Machtkampf mit dem Militär hervorgetan, aber nicht mit praktikablen Lösungsansätzen.
In Nigerias Hauptstadt Abuja kursiert unterdessen die Sorge, dass sich ein Ecowas-Einsatz in Mali auch auf Nigeria negativ auswirken könnte. Angeblich soll die islamistische Sekte Boko Haram, die regelmäßig Anschläge in Nigeria verübt, gedroht haben, die Ecowas anzugreifen, falls diese in Mali einmarschiert. „Das kann ich nicht ernst nehmen“, kommentiert Ugoh. Allerdings sei klar: Nicht nur Mali werde von Islamisten destabilisiert, sondern auch Nigeria.
Am späten Dienstagabend kam es in Nigerias Hauptstadt Abuja wieder einmal zu einer Explosion. Vor einem Geschäftskomplex im Stadtteil Wuse explodierte eine Bombe in einem Mülleimer, die nach Polizeiangaben jedoch niemanden verletzte. Es war der zweite Anschlag dieser Art innerhalb von zwölf Tagen: Am vorletzten Wochenende explodierte ein Sprengsatz vor einem Nachtclub.
02.07.2012 | Die Zerstörungen sind Kriegsverbrechen
Die Vernichtung von Weltkulturerbe-Stätten im Norden Malis durch Islamisten geht weiter. Mail will die Verantwortlichen vor den Internationalen Gerichtshof bringen
BAMAKO afp/dapd | Islamistische Rebellen haben am Montag nach Angaben von Augenzeugen den Eingang der Sidi-Yahya-Moschee in Timbuktu im Norden von Mali zerstört. Die Angreifer hätten die „heilige Tür“ des zum Weltkulturerbe zählenden Gebäudes zerstört, die normalerweise nie geöffnet werde, sagte ein Bewohner der Stadt der Nachrichtenagentur afp.
Die Sidi-Yahya-Moschee gehört zu den drei großen Moscheen der Stadt und wird zusammen mit 16 islamischen Heiligengräbern von der UN-Kulturorganisation UNESCO als Weltkulturerbe gelistet.
Nachdem die UNESCO am Donnerstag die Denkmäler auf die Liste der gefährdeten Weltkulturerbestätten gesetzt hatte, begannen Mitglieder der islamistischen Rebellengruppe Ansar Dine am Samstag, die Mausoleen einzureißen. Bis Montag zerstörten sie sieben von ihnen.
Für die Zerstörung von Weltkulturerbe-Stätten in Timbuktu will Mali die verantwortlichen islamistischen Rebellen auf internationaler Ebene zur Verantwortung ziehen. Die Verwüstung historischer Heiligengräber komme Kriegsverbrechen gleich, erklärte die Regierung am Sonntag.
Sie kündigte an, sich an den Internationalen Strafgerichtshof zu wenden. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief zu Gesprächen über eine Lösung der Krise auf und appellierte an alle Beteiligten, das Kulturerbe Malis zu bewahren.
Ban rügte die Angriffe auf die Mausoleen als vollkommen ungerechtfertigt. Er bekräftigte nach Angaben eines Sprechers seine Unterstützung für die Bemühungen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS, der Afrikanischen Union und Ländern der Region, der Regierung und Bevölkerung Malis bei der Lösung der derzeitigen Krise auf dem Weg des Dialogs behilflich zu sein.
01.07.2012 | Der Traum vom eigenen Staat „Azawad“ ist am Ende. Eine Intervention ist zwingend nötig
Kommentar von Dominic Johnson
Mit der Zerstörung wichtiger Kulturgüter der Tuareg und des afrikanischen Islam durch radikale Islamisten in Timbuktu hat die Krise in Mali einen neuen Höhepunkt erreicht – und einen, der jetzt ein Eingreifen zwingend macht.
Die Tuareg-Rebellen, die in Malis Nordhälfte erst im März und April einen Siegeszug vollbracht und einen unabhängigen Staat „Azawad“ ausgerufen hatten, sind jetzt von ihren eigenen Alliierten verdrängt worden.
Die radikalen islamistischen Kämpfer haben mit dem Freiheitskampf der Tuareg nichts am Hut. „Azawad“ ist tot, noch bevor es tatsächlich gegründet werden konnte.
An seine Stelle tritt ein Al-Qaida-Rückzugsgebiet, das eine Bedrohung für die dortige Bevölkerung und für die gesamte Region von Algerien bis Nigeria darstellt.
Es rächt sich nun, dass seit dem Siegeszug der Tuareg-Rebellen vor einem Vierteljahr keine politische Kraft in Malis Hauptstadt Bamako und in Westafrika insgesamt eine Idee entwickelt hat, wie man innerhalb Malis mit den eigenen Tuareg einen Ausgleich finden könnte, der die Islamisten marginalisiert.
Stattdessen verwickelten sich in Bamako Politiker und Militärs in einen Machtkampf und die Westafrikanische Regionalorganisation Ecowas beschloss zwar mehrfach eine Militärintervention, um dann aber nichts zu ihrer Realisierung zu tun.
Es wäre vermutlich nicht besonders schwierig für eine gut ausgerüstete Spezialtruppe, die drei nordmalischen Städte Gao, Kidal und Timbuktu zu besetzen und die Islamisten in ihre Wüstenverstecke zurückzujagen.
Die Afrikanische Union und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sollten umgehend grünes Licht für eine solche Militäroperation geben, und an dieser Operation sollten sich auch westliche Nationen beteiligen, die nach ihrem Krieg zum Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen eine gewisse Verantwortung für die Stabilisierung der Region tragen.
01.07.2012 | Gotteskrieger im Siegesrausch
Zuerst haben sie die Tuareg-Rebellen verjagt. Nun zerstören muslimischen Fundamentalisten im Norden Malis das Weltkulturerbe der Wüstenstadt Timbuktu. Von Dominic Johnson
KIGALI taz | Trotz weltweiter Empörung sind die Islamisten in Timbuktu unbeirrt. „Wir handeln im Namen Gottes“, sagte der Sprecher der radikalislamistischen Gruppe Ansar Dine, Sanda Ould Boumana, gegenüber AFP. Seit Samstag früh sind islamistische Eiferer in der berühmtesten Stadt Malis dabei, systematisch alle 16 Mausoleen und Grabstätten zu zerstören, in denen die Heiligen Timbuktus begraben sind und verehrt werden.
Nachdem am Samstag die Mausoleen Sidi Mahmoud, Sidi Moctar und Alpha Moya dem Erdboden gleichgemacht worden sind, machten sich die Islamisten am Sonntag an das Gelände der größten Moschee der Stadt, Djingareyber. Vier Mausoleen dort sollten noch am gleichen Tag zerstört werden.
„Wir werden die Mausoleen alle zerstören, ausnahmslos“, sagte Sanda Ould Boumana weiter. „Es gibt nur einen Gott. Dieses ganze Zeug ist verboten.“
Mali und Azawad
Die Republik Mali erhielt 1960 ihre Unabhängigkeit. Der riesige Binnenstaat im Inneren Westafrikas zählt zu den ärmsten Ländern der Erde. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung von etwa 15 Millionen Einwohnern hat keinen sicheren Zugang zu sauberem Trinkwasser. Nur 47 Prozent der Kinder besuchten 2003 eine Schule. Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner lag 2009 bei nur 691 US-Dollar im Jahr.
Der Azawad bildet den nördlichen Teil Malis. Ein großer Teil des Gebiets besteht aus Wüsten. Die dort lebenden Tuareg erklärten im April 2012 die Unabhängigkeit von Mali. International gilt der Azawad aber weiter als Teil Malis. Die Bevölkerungszahl wird auf über eine Million geschätzt. (taz)
Berichten zufolge weigert sich die lokale Bevölkerung, den Islamisten bei ihrem Wüten zu helfen. Die berühmten Mausoleen sind aber ebenso wie alle anderen alten Gebäude der Wüstenstadt Timbuktu aus Lehm gebaut und können mit Spitzhacken relativ einfach zu Staub gelegt werden.
„Sie machen alles kaputt“, berichtete ein lokaler Journalist. „Es tut weh, aber man kann nichts machen. Die Verrückten sind bewaffnet.“ Mit der Zerstörungsaktion markieren die nordmalischen Islamisten ihren Sieg über die Tuareg-Rebellen der MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad), mit der sie ab Ende März bis vor Kurzem noch Malis Nordhälfte gemeinsam beherrschten.
Im Zuge wachsenden politischen Streits zwischen Tuareg-Separatisten und Islamisten kam es zum Bruch zwischen den Waffenbrüdern. Im Verlauf der vergangenen Woche verjagten die islamistischen Gruppen die MNLA aus ihrem Hauptquartier in der Stadt Gao und eroberten auch die beiden anderen wichtigen Städte komplett, Kidal und Timbuktu. Allein in Gao forderten die Kämpfe angeblich über 35 Tote. Die Islamisten sind jetzt im Siegesrausch.
Die Regierung in Malis ferner Hauptstadt Bamako ist machtlos. Auf einem Unesco-Gipfel im russischen St. Petersburg rief Malis Kulturministerin Diallo Fadima Touré die UNO auf, gegen die „Verbrechen am kulturellen Erbe meines Volkes“ einzugreifen. Auf Anregung der deutschen Delegation gab es eine Schweigeminute. Die Unesco verurteilte die „wahllosen“ Zerstörungen.
In Afrika mehren sich Stimmen, die ein militärisches Eingreifen in Mali fordern. Bereits am Freitag erneuerte die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ihren Beschluss, auf ein UN-Mandat zur Entsendung von Eingreiftruppen nach Mali zu drängen. Marokko forderte ein gemeinsames Handeln der islamischen Länder.
29.05.2012 | Staat ja, aber was für einer?
Tuareg-Rebellen und Islamisten beraten über eine gemeinsame Regierung für ihren neuen Staat „Azawad“ in Nordmali. Aber der Umgang mit al-Qaida spaltet die Geister. Von Dominic Johnson
BERLIN taz | Knapp zwei Monate nach der Unabhängigkeitserklärung der Tuareg-Rebellen im Norden Malis nimmt die Gründung eines Staates namens „Azawad“ Gestalt an. Aber wie der aussehen soll, ist umstritten: ein Ausdruck der Selbstbestimmung der Wüstenvölker – oder ein Schaufenster des grenzüberschreitenden Islamismus?
Am Samstag unterschrieben die Tuareg-Rebellenarmee MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Awazad) und die islamistische Gruppe Ansar Dine ein gemeinsames „Protokoll“ zur Gründung eines „Übergangsrates des Islamischen Staates Azawad“.
Unterzeichner waren MNLA-Generalsekretär Bilal Ag Chérif, gewählter malischer Parlamentsabgeordneter für die nördliche Stadt Kidal, und Stammesführer Abass Ould Antilla für Ansar Dine. Das Protokoll verkündet die Selbstauflösung beider Organisationen und ihre Verschmelzung in einem 40-köpfigen Übergangsrat als Vorläufer einer Regierung.
Das hätte eine historische Versöhnung sein sollen. Die MNLA besteht aus Rebellen des Tuareg-Nomadenvolkes. Ansar Dine ist eine rivalisierende Gruppe unter Führung des früheren Tuareg-Rebellenführers Iyad Ag Ghali, die aus Südalgerien heraus agiert.
Sie soll der radikalen „al-Qaida im Islamischen Maghreb“ (AQMI), geführt von Algeriern und zuletzt auch in Niger und Mauretanien aktiv, nahestehen. All diese Gruppen profitierten davon, dass seit dem Sturz der Gaddafi-Diktatur große libysche Waffenbestände umhergeistern.
Die Rebellen eroberten ganz Nord-Mali, nachdem in Malis Hauptstadt Bamako in der Nacht zum 22. März unzufriedene Soldaten putschten, und riefen am 6. April „Azawad“ aus.
Die MNLA brauchte Ansar Dine, weil in Nordmali auch andere Volksgruppen als die Tuareg leben; Ansar Dine brauchte die MNLA, um nicht als Anhängsel al-Qaidas gesehen zu werden.
Aber Ansar Dine huldigt einer strikten Auslegung der Scharia, möglichst in ganz Mali; sie hat die algerischen Al-Qaida-Führer nach Mali eingeladen und Sittenpolizei auf die Straßen von Gao und Timbuktu geschickt. Die laizistische MNLA hingegen verfolgt einfach den alten Tuareg-Traum von Selbstbestimmung.
Die gemeinsame Erklärung vom Samstag hat diese Differenzen nicht beseitigt. So hat sich die Ratifizierung einer abschließenden Erklärung verschoben: Die MNLA sperrt sich gegen die Scharia als alleiniges Recht und gegen ein Betätigungsverbot für nichtmuslimische Hilfsorganisationen.
Sie will auch nichts mit den Al-Qaida-Kämpfern von AQMI zu tun haben. Ansar Dine wiederum „hat uns gesagt, dass es nicht in Frage kommt, AQMI den Krieg zu erklären; das ist das Problem“, sagte MNLA-Mitglied Ibrahim Assaley, Bürgermeister der Kleinstadt Talataye.
Aus Sicht der Tuareg-Rebellen spielen die Islamisten ein doppeltes Spiel. Während MNLA und Ansar Dine in Gao über ihre Fusion verhandelten, traf Ansar Dines Führer Iyad Ag Ghali in Timbuktu die Führer von AQMI und einer weiteren bewaffneten islamistischen Gruppe namens Mujao (Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika).
AQMI-Chef Abdelmalek Droukdel, Algerier, soll seine Kämpfer aufgerufen haben, sich Iyad Ag Ghali unterzuordnen. Damit wäre AQMI offiziell Teil eines neuen islamischen Azawad-Staates.
Die algerische Zeitung L’Expression äußerte gestern die Befürchtung, nun könnten im Norden Malis tunesische, libysche und marokkanische Rekruten ausgebildet werden. Für Beunruhigung sorgt in diesem Zusammenhang die Meldung, dass die Islamisten vergangene Woche in Gao ein gigantisches unterirdisches Waffenarsenal entdeckt haben, das Malis Regierungstruppen bei ihrer Flucht vor zwei Monaten zurückließen.
„Bisher waren sie leichte Waffen gewohnt und seit kurzem Luftabwehrraketen aus Libyen; jetzt haben die bewaffneten Gruppen in der Region schwere Waffen und sogar Panzer“, analysiert der Fachdienst Sahel Intelligence. „Dies ermöglicht ihnen einen qualitativen Sprung.“
25.05.2012 | „Wir wollen unseren eigenen Staat“
Der Staat Azawad, den Rebellen in Mali ausgerufen haben, begeistert geflohene Tuareg in Burkina Faso. Nicht aber die Nachbarn. Ein Besuch bei Tuareg-Flüchtlingen. Von Katrin Gänsler
FERREIRO, BURKINA FASO taz | Mohamed Ag Altegal dit Samba hört es nicht gern, wenn man über den Norden Malis spricht. „Der Norden Malis? Azawad heißt unser Staat“, sagt der hagere Mann mit dem grauen Bart nachdrücklich und streckt seinen Rücken. Gesehen hat er Azawad noch nicht: Der Staat wurde am 6. April von Malis Tuareg-Rebellenarmee Nationale Bewegung zur Befreiung Azawads (MNLA) ausgerufen. Mohamed lebt seit Ende Januar im Nachbarland Burkina Faso, wohin sich laut UNO mittlerweile gut 61.000 Malier geflüchtet haben.
Im Flüchtlingscamp von Ferrerio hat sich Mohamed Ag Altegal dit Samba mit seiner Familie eingerichtet. Chef des Camps ist er – und somit privilegiert. Anders als die übrigen Flüchtlinge lebt er nicht in einem der so typischen Tuareg-Zelte, sondern hat ein kleines Haus zugeteilt bekommen. In der Regenzeit, die unmittelbar bevorsteht, wird es ihm ein wertvoller Schutz sein.
Ganz gleich, ob Mitarbeiter einer Hilfsorganisation oder geflohener Tuareg: Jeder, der neu in Ferrerio ist, muss das kleine Haus von Mohamed Ag Altegal dit Samba betreten und sich bei ihm vorstellen. Er will wissen, wer gerade im Camp ist. Deshalb ist das kleine Haus brechend voll.
Revolte: Seit Januar kämpft die Rebellenarmee MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad) im Norden Malis gegen die Regierungsarmee und für einen eigenen Staat. Es ist die jüngste einer Reihe von Tuareg-Aufständen in Mali und Niger in den vergangenen Jahrzehnten. Angesichts wiederholter Niederlagen der Regierungsarmee putschten unzufriedene Soldaten in Malis Hauptstadt Bamako in der Nacht zum 22. März. Daraufhin eroberten die MNLA-Rebellen ganz Nordmali und riefen am 6. April einen unabhängigen Staat Azawad aus. Dieser existiert aber nur auf dem Papier, und die Lage in Nordmali bleibt unübersichtlich, auch weil die radikalen Islamisten der “al-Qaida im Islamischen Maghreb” und ihr malischer Verbündeter, “Ansar Dine”, dort Fuß gefasst haben und der MNLA die Kontrolle streitig machen.
Massenflucht: Der Krieg im Norden Malis, aber auch eine zunehmend schlechte Ernährungslage treiben immer mehr Menschen in die Flucht. Nach neuesten UN-Angaben sind 167.000 Malier in die Nachbarländer Mauretanien, Burkina Faso und Niger geflohen, weitere 30.000 nach Algerien. Innerhalb Malis gibt es rund 150.000 Binnenvertriebene.
Tuareg berichten: Ab Freitag berichten Vertreter der malischen Tuareg auf dem Würzburger Africa Festival, dem größten europäischen Musikfestival für afrikanische Musik, täglich über ihre Kultur und die Lage in ihrer Heimat. Einzelheiten: www.africafestival.org.
In zwei Zimmern sind auf dem Boden Matratzen ausgelegt, Männer quetschen sich darauf. Lautstark diskutieren sie auf Tamashek, der Sprache der Tuareg. Eines, da ist Mohamed Ag Altegal dit Samba sich sicher, würde die Menschen hier vereinen: „Wir alle wollen Azawad, unseren eigenen Staat.“
Für diesen Tuareg-Staat will er auch von Burkina Faso aus kämpfen. Mohamed Ag Altegal dit Samba stammt aus Timbuktu, jener, wie er schwärmt, historischen Stadt, die so reich an Traditionen ist. Dass die MNLA am 6. April Azawad ausrufen würde, konnte er ja nicht erahnen, als er Ende Januar ins Nachbarland aufbrach. Damals kämpften die malischen Regierungstruppen noch gegen die MNLA. Wie der Kampf ausgehen würde, war völlig offen. Aber das Klima für Tuareg wurde immer ungemütlicher. Deshalb packte Mohamed Ag Altegal dit Samba Hab und Gut zusammen, nahm Familie und Vieh und floh.
Sieben Wochen später überschlugen sich die Ereignisse: Am 22. März rief eine Gruppe von Soldaten in Malis Hauptstadt Bamako einen Staatsstreich aus und versprach gleichzeitig, sie wolle den Krieg im Norden beenden. Für kurze Zeit gab es ein wenig Hoffnung, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Dann kam die Sezessionserklärung der Rebellen. In Malis Hauptstadt kam Empörung auf, die Einheit des Landes stand auf dem Spiel.
Jetzt zuckt Mohamed Ag Altegal dit Samba mit den Schultern. Wie seine Lösung aussieht, nämlich die Anerkennung des unabhängigen Tuareg-Staates, das weiß er zwar, gleichzeitig aber auch, dass das international nicht akzeptiert wird.
Der Lagerchef hat sich auf eine der Matratzen gesetzt und schüttelt mehrere Hände. Dann wiederholt er das Gesagte noch einmal auf Tamashek, und die Männer um ihn herum nicken zustimmend. Neben ihm wird Mahmud Ag Abdulahi laut. „Ein eigener Staat ist unser Recht“, ruft er und fängt an, sich in Rage zu reden. Er schimpft über die Regierung in Bamako und vor allem darüber, dass niemand Azawad anerkennen will. Der Mann, der neben ihm sitzt, sagt ihm, er soll erst einmal den Chef ausreden lassen.
Dessen Augen fangen an zu leuchten. So nah wie jetzt seien die Tuareg noch nie an ihrem eigenen Staat gewesen. Dabei habe man immer wieder dafür gekämpft. Doch beide Rebellionen ab den Jahren 1990 und 2006 scheiterten an der damals viel zu mächtigen Regierungsarmee.
Er zählt auf, was den Tuareg während der beiden Rebellionen, aber auch in den Jahrzehnten zuvor widerfahren ist. Massaker gegen sie habe es immer wieder gegeben. Die Regierung im fernen Bamako hat sie nie ernst genommen. „Wir sind so müde gewesen. All das hat uns geschwächt.“ Endlich habe sich das umgekehrt.
Was Mohamed Ag Altegal dit Samba verschweigt: Es gibt keine einzige Zahl, die belegt, dass die Mehrheit der Tuareg Malis tatsächlich ihren eigenen Staat will. Niemand hat die knapp 1,5 Millionen Menschen, die in der Region leben, je befragt. „Bis es so weit ist, könnte ich mir vorstellen, ein Referendum zu machen“, gibt er dann zähneknirschend zu und ist gleichzeitig sicher: „Das gewinnen wir natürlich.“ Unterstützung für das große Ziel würden die Tuareg sogar von anderen ethnischen Gruppen erhalten, da ist er sicher.
Die sind in den vergangenen Monaten jedoch völlig in Vergessenheit geraten. Der Norden Malis wird oft einfach als Land der Tuareg bezeichnet. Dabei leben beispielsweise entlang des Flusses Niger seit Jahrhunderten die Songhai. Weitere ethnische Gruppen bezeichnen die Region ebenso als ihre Heimat. Dass sie ebenfalls einen eigenen Staat wollten, ist nie bekannt geworden. Die Tuareg wiederum leben nicht nur in Mali, sondern auch in Niger sowie in Teilen Algeriens und auch in Burkina Faso.
Kultur, Traditionen, Sprache und die Fähigkeit, in der Wüste zu überleben – das verbinde natürlich die Malier und die Burkiner, sagt Ahaya Ag Erless. Er gehört zu Burkina Fasos einheimischen Tuareg, ist gut 40 Kilometer südlich von Ferrerio groß geworden. Seine Eltern leben heute noch in einem kleinen Dorf, das auf keiner Landkarte zu finden ist. Ahaya Ag Erless selbst ist nach Gorom-Gorom gegangen, die letzte Stadt vor der Grenze nach Niger und Mali. Nördlich von Gorom-Gorom gibt es nur noch Piste und viel Sand.
Gorom-Gorom hat einen Markt, kleine Läden, eine Post und sogar eine Handvoll Hotels. Am Stadtrand hat Ahaya Ag Erless ein kleines Haus mit zwei Zimmern gebaut, in dem der 46-Jährige mit seiner Familie lebt. Die jüngste Tochter, er zeigt stolz auf das kleine Mädchen, fängt gerade an zu laufen. Vor der Haustür scharren Hühner im Sand. Ein paar schwarz-weiß gescheckte Ziegen suchen den Boden nach Essbarem ab. Eine Katze schläft im Schatten. Ahaya Ag Erless ist zufrieden mit dem Leben, das er hier führen kann. Sein fester Job als Nachtwächter hilft ihm dabei. Reich würde er damit nicht. „Aber ich habe ein geregeltes Einkommen für meine Familie.“
Dass er Tuareg ist, verrät Ahaya Ag Erless nur auf Nachfrage. Er würde zwar mit seiner Frau und den Kindern, seinen Freunden und Verwandten Tamashek sprechen, sich in der Wüste zu Hause fühlen, die Gegend, in der er groß geworden ist, heute noch genauso gut kennen wie früher. Ständig darüber reden und alle Welt wissen lassen, dass er Tuareg sei, möchte er aber nicht. „Ich bin ja auch Burkiner.“
Nur einmal sagt er „wir“, als er über die Tuareg in Burkina Faso spricht. „Wir sind da anders.“ Die Tuareg aus Mali würden ja unbedingt ihren eigenen Staat wollen. Ihm hingegen sei diese Idee völlig fremd.
„Hat sich mal irgendjemand überhaupt darüber Gedanken gemacht, wie sich dieser Staat finanzieren soll?“, fragt Ahaya Ag Erless und zuckt mit den Schultern. Entlang des Niger-Flusses sei es zwar möglich, Landwirtschaft zu betreiben. „Aber das reicht doch alles nicht. Wenn man solche Forderungen hat, muss man doch auch überlegen, ob sie sich praktisch umsetzen lassen.“
Ahaya Ag Erless war nie in Mali. Auch Flüchtlinge aus dem Nachbarland, von denen ein paar auch in Gorom-Gorom untergekommen sein sollen, hat er nicht getroffen. Ahaya Ag Erless hat offensichtlich wenig Mitleid mit ihnen. „Seien wir doch mal ehrlich: Die Malier sind mit ihrer Forderung schon ein bisschen verrückt.“
Malier! Wenn Mossa Ag Inzoma das gehört hätte. Er ist zu Besuch bei den Tuareg-Flüchtlingen in Ferrerio und stellt sich vor. „Ich bin Ex-Malier“, sagt er. „Jetzt bin ich Azawadier.“ Das Wort geht ihm leicht über die Lippen. Mossa Ag Inzoma sitzt in der Mitte eines Tuareg-Zeltes und raucht Marlboro Light. 20 Männer etwa haben sich um ihn geschart. Er ist ein seltener Gast, der hier seine Familie besucht. Man bringt ihm fast ein bisschen Ehrfurcht entgegen, lebt er doch in Gossi, also in Azawad. Gossi liegt zwei Stunden von Gao entfernt, der größten Stadt der Region.
„Die Lage ist einigermaßen ruhig und beruhigt sich weiter, seitdem die MNLA das Gebiet übernommen hat“, erzählt er. Offensichtlich will er versuchen, den einen oder anderen Flüchtling zur Rückkehr zu bewegen. Andere Menschen, die im Norden festsitzen, bewerten die Situation anders. Die Versorgungssituation sei prekär, das Gefühl von Unsicherheit groß.
Dass die MNLA irgendetwas damit zu tun habe, weist Mossa Ag Inzoma weit von sich. „Viele Flüchtlinge wollen deshalb nicht zurück, weil sie noch immer an die Regierungstruppen denken. Als diese die MNLA bekämpften, haben sie keinen Unterschied gemacht, ob jemand bewaffnet ist oder nicht.“ Er zeichnet ein düsteres Bild der Zeit, bevor die MNLA den Norden eroberte. Auf seine MNLA will er nichts kommen lassen. Denn sie kämpft für die Tuareg, also für die gute Sache.
Für den Neu-Azawadier heißt das: „Wir bilden unseren eigenen Tuareg-Staat.“ Im Zelt ist es still. Die Männer, die um ihn herum sitzen, lauschen andächtig. Als er über den Sudan spricht, nicken zwei zustimmend. Die Teilung des einstmals größten afrikanischen Flächenstaates im vergangenen Jahr, als Südsudan unabhängig wurde, gilt als großes Vorbild. Es brauchte dafür 20 Jahre Bürgerkrieg, sechs Jahre Übergangszeit und ein kompliziertes Referendum.
International gibt es keine Bereitschaft, dieses Modell auf Azawad zu übertragen. Das versteht Mossa Ag Inzoma nicht. Er verspricht: „Wenn es sein muss, dann kämpfen wir weiter für Azawad – für unser Azawad. Es ist unser Staat.
22.05.2012 | Präsident im Palast halb tot geprügelt
Anhänger der Militärs, die im März geputscht hatten, gehen mit Gewalt gegen den durch westafrikanische Vermittlung eingesetzten Interimspräsidenten Dioncounda Traoré vor. Von Dominic Johnson
Anhänger der Putschisten stürmen den Präsidentenpalast in Bamako, der Hauptstadt von Mali. Bild: reuters
BERLIN taz | Zwei Monate nach dem Militärputsch in Mali ist immer noch keine Lösung des Machtkampfes in Sicht. Junge Demonstranten stürmten am Montag in Bamako den Präsidentenpalast, in dem Interimspräsident Dioncounda Traoré residiert, und verprügelten den 70-Jährigen bis zur Bewusstlosigkeit.
Traoré wurde in ein Krankenhaus gebracht, die erst am Wochenende bestätigte Übergangsordnung für Mali liegt in Trümmern.
In Mali hatten unzufriedene Soldaten unter Kapitän Amadou Sanogo am 22. März den gewählten Präsidenten Amadou Toumani Touré gestürzt. Sie warfen ihm Untätigkeit im Kampf gegen Tuareg-Rebellen im Norden des Landes vor.
Die Rebellen eroberten im Gegenzug die Nordhälfte Malis und riefen den eigenen Staat Azawad aus. Westafrikas Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) bewog die Putschisten schließlich per Sanktionen zum Rückzug zugunsten einer Übergangsregierung unter Diancounda Traoré. Der übernahm sein Amt am 12. April zunächst für 40 Tage.
Doch da angesichts der Spaltung Malis keine Neuwahlen möglich sind und auch die Ecowas ihre mehrfach angekündigte Militärintervention nicht in die Tat umsetzt, haben diese 40 Tage keine Lösung gebracht.
Also vereinbarten Ecowas-Unterhändler am Wochenende mit Malis Militärs die Verlängerung von Traorés Übergangsmandat um ein Jahr. Putschist Sanogo, der sich Hoffnungen auf eine Rückkehr an die Macht nach dem Ablauf der 40 Tage gemacht hatte, stimmte zu.
Doch die Zustimmung war offenbar wenig wert. Anhänger der Putschisten gingen ab Montag früh auf die Straße. Dass sie widerstandslos in den festungsartig gesicherten Präsidentenpalast eindringen konnten, spricht dafür, dass die dort stationierten Militärs mit den Demonstranten sympathisierten.
Schon am Wochenende hatten die Ecowas-Vermittler vermerkt, dass die Militärs um Sanogo misstrauischer aufzutreten schienen als sonst.
Traorés Familie ist jetzt nach Senegal geflohen, während Interimspremier Cheik Modibo Diarra im Fernsehen schimpfte: „Wenn wir so weitermachen, stürzt das Land ins Chaos.“ Aus Sicht der Nachbarn ist Mali da schon längst.
10.05.2012 | „Wir brauchen Dialog mit den Tuareg“
Der korsische Europaabgeordnete François Alfonsi wendet sich gegen eine militärische Lösung des Konflikts in Mali. Die Forderungen der Tuareg sind legitim, sagt er. Interview: François Misser
taz: Die EU hat sich gegen die Sezession des Tuareg-Gebiets von Mali ausgesprochen, und die EU-Außenpolitikbeauftragte Catherine Ashton hat Beratungen über eine Unterstützung der Armee Malis zur Rückeroberung des Nordens aufgenommen. Sie hat dafür breite Unterstützung im Europaparlament erhalten – außer von einigen kleineren Gruppen wie der Ihren. Wieso sind Sie dagegen?
François Alfonsi: Wir hatten den Eindruck, dass Ashton eine militärische Lösung vorzieht, obwohl die Tuareg-Frage eine sehr alte ist, die schon viele Verhandlungsprozesse hinter sich hat. Die Tuareg sind immer wieder betrogen worden, nachdem sie Friedensabkommen mit Regierungen in Mali geschlossen haben. Ihre identitären Forderungen sind legitim, man muss sie anhören und verstehen. Die militärische Lösung wäre eine Sackgasse. Es würde viele Flüchtlinge geben, und politisch würde man nicht weiterkommen. Der radikale Islamismus würde dadurch an Boden gewinnen.
Die Tuareg sind zwar Muslime, aber haben mit Fundamentalismus nichts zu tun; ihr traditionelles Recht ist viel toleranter und gewährt auch den Frauen Rechte. Also sollte man nicht mit Repression drohen und mit einer Militärdiktatur, die in der riesigen Wüste die Waffen klirren lässt, sondern einen Dialog mit den Tuareg führen.
Plant die Europäische Union wirklich den Einsatz militärischer Mittel?
Catherine Ashton hat die Einsetzung einer Übergangsregierung in Mali begrüßt und ihren Willen unterstützt, die territoriale Integrität des Landes wiederherzustellen. Doch gegen eine bewaffnete Rebellion kann das nur mit Gewalt erfolgen. Also unterstützt Ashton diesen Weg. Mit welchen Mitteln? Das kann sehr weit gehen, bis zu Luftunterstützung und Luftangriffen. Das wäre genau das, was die radikalen Islamisten der AQMI wollen.
In Malis Hauptstadt Bamako sagt man aber eher: Dialog mit den Sezessionisten bestätigt deren kriegerische Linie.
Es hat doch schon oft Dialog mit Tuareg-Rebellen gegeben. Es gab das Abkommen von 1992. Dann wurde es nicht respektiert, so gab es ein neues Abkommen 2006. Es ist auch nicht respektiert worden. Nun haben wir einen Konflikt. Den löst man entweder durch Vernichtung einer Seite oder durch Dialog und Kompromiss. Kompromisse auf dem Verhandlungsweg hat es bereits gegeben, also ist bekannt, wie sie aussehen können. Malis Regierung hat die bisherigen Abkommen unterschrieben. Europa sollte sich engagieren, damit die Abkommen umgesetzt werden.
Profitieren von der Tuareg-Revolte nicht vor allem die Islamisten?
Der Islamismus ist erst spät dazugekommen. Hätte man die Tuareg-Frage vorher gelöst, dann wären wir jetzt in einer viel stabileren Situation. Weil der Tuareg-Konflikt nicht gelöst wurde, gibt es Instabilität, von der diejenigen profitieren, die von den Islamisten finanziert werden.
François Alfonsi ist französischer Europaabgeordneter für die korsisch-nationalistische Partitu di a Nazione Corsa (PNC), Teil der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz. Er will gemeinsam mit schottischen und flämischen Nationalisten Vertreter der Tuareg-Rebellenarmee MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad), die kurz vor Ostern im Norden Malis einen eigenen Staat ausrief, zur EU einladen.
02.05.2012 | Blutige Kämpfe in Bamako
Mehr als zwei Dutzend Menschen sollen bei Gefechten zwischen den Putschisten und der alten Präsidentengarde in Mali getötet worden sein. Freie Wahlen scheinen illusorisch. Von Katrin Gänsler
COTONOU taz | Vorbei ist es mit dem friedlichen Militärputsch in Mali, der Ende März vielen Menschen Hoffnung gemacht hat. Seit Montagabend sollen bis zu 27 Menschen bei Gefechten zwischen den Soldaten der Putschisten und der alten Präsidentengarde des gestürzten Staatschefs Amadou Toumani Touré (ATT), ums Leben gekommen sein.
So schätzen es verschiedene Medien vor Ort ein. Mittlerweile hat sich die Situation zwar einigermaßen beruhigt, doch die Anspannung ist geblieben. „Wir wissen nicht, wie es weitergeht“, sagt ein Mann, der in der Hauptstadt Bamako lebt, seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen will.
Mit dem Gegenputsch und der unsicheren Lage in Bamako rückt nun das Ziel der Übergangsregierung, nach Ablauf von 40 Tagen freie und faire Wahlen zu organisieren und so zur Demokratie zurückzukehren, in weite Ferne. Die Frist galt zwar von Anfang an als unrealistisch.
Doch jetzt wird deutlich, dass von Anfang an mit einer längeren Übergangsphase hätte geplant werden müssen. Annette Lohmann, Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako, hält es deshalb für sinnvoll, das Mandat der Übergangsregierung zu verlängern. Fraglich ist jedoch, wie die Putschisten unter Amadou Sanogo reagieren. „Denn er hat bekräftigt, dass er es nur bis zum Ablauf der 40 Tage respektiert. Daher ist offen, wie es danach mit der Übergangsregierung weitergeht“, so Lohmann.
Damit rückt auch eine nachhaltige und von allen Seiten akzeptierte Lösung für den Norden Malis, den die MNLA (Nationale Bewegung zur Befreiung von Azawad) seit dem 6. April Azawad nennt, in weite Ferne. Doch genau die gilt als zentral im Mali-Konflikt.
Viele Beobachter gehen davon aus, dass Wahlen erst dann Sinn machen, wenn sich die politische Situation in der Nordregion stabilisiert hat. Doch davon ist im Moment nicht auszugehen, im Gegenteil: Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch gibt es derzeit eine Zunahme von Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen.
Auch kommen mehr Kindersoldaten zum Einsatz. Verantwortlich dafür seien nicht nur die Tuareg-Rebellen, sondern auch islamistische Gruppierungen wie Ansar Dine. Anfang der Woche forderte Human Rights Watch deshalb von der Regierung, diese Vorfälle zu untersuchen. Vorerst wird diese aber wohl damit beschäftigt sein, die Situation in der Hauptstadt wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen.
27.04.2012 | Lieber friedlich hungern
Hunderttausende sind inner- und außerhalb des Landes vor dem Bürgerkrieg auf der Flucht. Das verschärft die ohnehin schwierige Versorgungslage. Von Katrin Gänsler
COTONOU taz | Wer noch irgendwie kann, der flieht. Seit dem Putsch in Mali, vor allem aber der Ausrufung des Staates Azawad durch die Tuareg-Rebellenbewegung MNLA (Nationale Bewegung zur Befreiung Azawads) vor drei Wochen versuchen immer mehr Menschen, den Norden Malis zu verlassen. Fehlende Nahrungsmittel treiben sie zur Flucht, aber auch eine große Unsicherheit.
Erst flohen viele Tuareg vor Übergriffen, die im Süden Malis aus Rache gegen das Vorrücken der Tuareg-Rebellen im Norden stattfanden. Dann breiteten sich im MNLA-Gebiet im Norden islamistische Gruppierungen aus und trieben lokale Bevölkerungen sowie Zugereiste aus dem Süden in die Flucht.
Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR haben bislang knapp 133.000 Personen innerhalb Malis einen sichereren Ort aufgesucht; das UN-Welternährungsprogramm WFP geht von bis zu 200.000 aus. Aber auch die Flüchtlingsströme in die Nachbarländer werden immer stärker. In die Nachbarländer Mauretanien, Burkina Faso und Niger sollen sich bislang mehr als 146.000 Personen gerettet haben. Dazu kommen rund 30.000 in Algerien.
Die westafrikanische Regionalorganisation Ecowas (Westafrika- nische Wirtschaftsgemeinschaft) hat auf einem Sondergipfel in der Elfenbeinküste die Entsendung von Eingreiftruppen nach Mali und Guinea-Bissau in Aussicht gestellt. Bis zu 3.000 Soldaten sollen „unverzüglich“ nach Mali aufbrechen, um die U?bergangsregierung zu schützen, hieß es am Donnerstagabend.
Der Übergangsregierung, die vor zwei Wochen die Militärjunta vom 22. März abgelöst hatte, wurde eine Frist von 12 Monaten für Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gesetzt – bisher war von 40 Tagen die Rede gewesen. In Guinea-Bissau, wo Militärs am
12. April geputscht hatten, sollen 500 bis 600 Soldaten die Rückkehr zur Demokratie innerhalb von 12 Monaten gewährleisten und die abziehende angolanische Militärmission ersetzen. Da beide Eingreiftruppen bisher nur auf dem Papier existieren, ist eine schnelle Stationierung unwahrscheinlich.
Das könnte nun verheerend für die ganze Region werden. Schon seit Monaten warnen Hilfsorganisationen vor einer möglichen Hungerkrise im Sahel. Grund dafür sind die schlechten und sehr ungleich verteilten Niederschläge im vergangenen Jahr. In den Sahel-Ländern sank die nationale Getreideproduktion 2011 deshalb um 20 bis 56 Prozent im Vergleich zu 2010. Nahrungsmittel gibt es zwar vielerorts noch, doch die Preise sind derart gestiegen, dass sich viele Menschen selbst einen Sack Hirse schlichtweg nicht mehr leisten können.
Über 15 Millionen Menschen, so schätzen die UN-Hilfswerke, könnten dieses Jahr in der Sahelregion von akuter Nahrungsknappheit betroffen sein. In Malis Nachbarländern würden die Flüchtlingsströme die Nahrungsmittelknappheit verschärfen, sagt Charlotte Heyl vom Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (Giga) in Hamburg. „Dies wird die Nachbarländer unter Druck setzen“, so Heyl.
Die meisten Menschen – vor allem aus der Region Timbuktu – haben sich bisher nach Mauretanien geflüchtet. Offiziell sollen es gut 60.000 sein. Der mauretanische Journalist Intagrist El Ansari geht jedoch davon aus, dass allein in den letzten zwei Monaten mehr als 70.000 Menschen gekommen sind. Es gebe zwar eine Grundversorgung durch das UNHCR, die mauretanischen Behörden und verschiedene nichtstaatliche Organisationen.
Trotzdem sei die Situation der Flüchtlinge äußerst schwierig, so der Mauretanier. „Sie leben jetzt im äußersten Südosten Mauretaniens. Es ist eine Region, in der Hitze, Wassermangel, Seuchen und Dürrekatastrophen an der Tagesordnung sind.“ Ausgerechnet dort müssen nun jeden Tag weitere 1.000 neu eintreffende Menschen versorgt werden.
Besorgniserregend für Intagrist El Ansari ist auch, dass die Situation eigentlich vorhersehbar war. Vor gut zwanzig Jahren sei es ganz ähnlich gewesen, analysiert er. Damals tobte im Norden Malis die erste Tuareg-Rebellion, wegen der ebenfalls viele tausend Menschen nach Mauretanien flohen. Erst viele Jahre später trauten sie sich zurück in den Norden Malis. „Die Geschichte wiederholt sich – das hat mir gerade jemand gesagt, der damals 13 Jahre alt war“, so El Ansari.
Auch in Burkina Faso scheint sich die Situation weiter zuzuspitzen. Gut 46.000 Menschen sollen sich dorthin geflüchtet haben. Laut UNHCR, das Neuankömmlinge interviewt, fürchten sie Offensiven der malischen Armee zur Rückeroberung der Rebellengebiete. Die schwierige Sicherheitslage an der Grenze mache eine Betreuung unmöglich.
Auch laut Ärzte ohne Grenzen ist die Hilfe sehr begrenzt. In der Provinz Oudalan im Norden würde es lediglich behelfsmäßige Unterkünfte geben. Kurz vor Ende der Trockenzeit klettern dort die Temperaturen gern auf über 40 Grad Celsius.
24.04.2012 | Per Bus zu den Tuareg-Rebellen
Ein Arzt aus Malis Hauptstadt Bamako berichtet über eine Reise in sein Dorf, das im Gebiet der Tuareg-Rebellen liegt. Was er unterwegs sieht, erschrickt und bedrückt ihn.
BAMAKO taz | Meine* Familie lebt in einem Dorf tief im Tuareg-Gebiet, weit hinter der Stadt Gao. Nachdem diese Region unter Kontrolle von Tuareg-Rebellen, al-Qaida im islamischen Maghreb, Salafisten und anderen Elementen gefallen ist, können wir – angesichts der Bilder und Nachrichten von dort – nicht untätig bleiben. Vor allem für diejenigen, die dort Familie haben, wird die Situation mit jedem Tag unerträglicher.
Also entschloss ich mich, am 11. April die Reise aus Bamako nach Gao auf mich zu nehmen. Ich stellte mit großer Bitterkeit fest, dass ich ab Sévaré ein anderes Land betrete: Azawad. Obwohl ich mich in meinem eigenen Land befinde.
Nach Sévaré befanden sich in meinem Bus nur noch Kamikazes, wenn man das so sagen darf. Wir waren sieben in einem Bus mit über 60 Plätzen. Schnell fanden wir heraus, dass fünf aus dem Dorf Fana kommen, das für seinen Widerstand gegen Tuareg-Überfälle legendär war. Dann gab es die Witwe eines Militärs und mich. Uns allen war das Risiko dieser Reise klar.
Zwei Stunden nach dem letzten Posten von Mali erreichten wir also Azawad. Die erste Sperre befand sich im Ort Douentza. Dort sah ich zum ersten Mal Rebellen, sehr nervöse und genervte bewaffnete Männer, die zur Kontrolle in den Bus stiegen. Ihre einzige Waffe schien die Einschüchterung zu sein. Sie sehen dir tief in die Augen und warten, ob du Panik kriegst, bevor sie dir Fragen stellen. Es ist traurig, mein Land in diesem Zustand zu sehen. Von Douentza bis Gao war die Reise relativ ruhig. Wir fuhren immer wieder an schwerbewaffneten Pick-Ups vorbei, mit Rebellen an Bord, wie um uns daran zu erinnern, dass wir in Azawad sind.
Die Ankunft in Gao war wie die Ankunft in einer Stadt im Belagerungszustand. Wir wurden aus dem Bus geholt und in die Basis der Islamisten gebracht. Wir sagen dort Männer unterschiedlicher Herkunft, die unterschiedliche Sprachen sprachen: Tamasheq (die Tuareg-Sprache), Arabisch, Songhai (eine malische Sprache) und andere, die ich nicht kannte. Sie waren sehr angespannt. Es herrschte der Eindruck eines unbeschreiblichen Durcheinanders.
Es war völlig unklar, wer das Sagen hat: AQMI (al-Qaida im Islamischen Maghreb)? Ansar Eddine (malische Islamistenarmee)? MNLA (die Tuareg-Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad)? Man konnte anhand der Flaggen leicht feststellen, wer wer war.
Sie stellten uns drei Fragen. Wieso kommt ein Bus aus Bamako 1.200 Kilometer nach Gao mit nur sieben Passagieren an Bord – wo sind die anderen? Wieso wollen wir ausgerechnet jetzt nach Gao? Wieso haben wir neue Personalausweise? Die Frage bezog sich auf das Gerücht, wonach Militärs als Zivilisten verkleidet das Rebellengebiet infiltrierten.
Das Interview dauerte vier Stunden. Schließlich setzten sie uns am Stadtrand aus. Wir gingen zu Fuß weiter. Ich rief einen Cousin an, der bei einem medizinischen Hilfswerk arbeitet, er holte mich mit dem Motorrad ab. Zurück in Gao, suchten uns die neuen Herren der Stadt auf. Der Abend endete mit der Beschlagnahmung unserer Mobiltelefone.
Gao, die schöne legendäre Stadt, ist eine Geisterstadt geworden. Alles ist geplündert, verwüstet und zerstört. Ich hatte Zeit, das Regionalkrankenhaus zu besuchen, das beste der Region. Es sah nach der Plünderung so aus, als habe nie jemand dort gelebt. Die humanitäre Lage ist katastrophal. Die Menschen haben Angst, insbesondere die Frauen.
Ich reiste schließlich weiter in mein Dorf. Was für eine Erleichterung! Die Rebellen waren durchgezogen und hatten geplündert, aber niemand hatte sein Leben verloren. Mit meiner Reise wollte ich meine Mutter und einige ältere Personen nach Bamako holen. Ihre Antwort war eine Lektion des Mutes und der Würde: Wir verlassen unseren Grund und Boden nicht.
Also entschloss ich mich, als Arzt zu handeln, angesichts des Fehlens jeglicher Gesundheitsversorgung. Ich trat die Rückfahrt mit drei jungen Schwangeren an, mit Kindern und Kranken. Ich entschloss mich, nicht mehr auf dem gleichen Weg zurückzufahren. Ich nahm den Umweg über Niger, Burkina Faso und von dort aus nach Bamako. Mein Haus in Bamako ist zum Flüchtlingslager geworden. Das muss ich jetzt erst mal organisieren. Aber immerhin bin ich heil zurückgekommen.
- Der Name des Autors ist in der Redaktion bekannt
19.04.2012 | Im Schatten der Islamistenfahne
Die Berichte aus dem von Tuareg-Rebellen ausgerufenen Wüstenstaat zeugen von islamistischen Übergriffen. Auch die Versorgungslage scheint schlecht zu sein. Von Katrin Gänsler
COTONOU taz | Issa Dicko wird mit jedem Tag besorgter, wenn er die Nachrichten aus seiner Heimat hört. Der Targi stammt aus Timbuktu, der historischen Stadt im Norden Malis, die nun zu „Azawad“ gehört. Das ist das Territorium, das die Tuaregrebellenarmee MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad) seit dem 6. April als ihren eigenen Staat bezeichnet. Und genau aus dieser Gegend gibt es nun jeden Tag neue Schreckensmeldungen. Zuletzt meldeten malische Zeitungen, in Gao hätten Bewaffnete beim öffentlichen Gebiet zwei jungen „Dieben“ die Hände abgehackt.
Die Tuaregseparatisten der MNLA seien das kleinere Problem, findet Dicko. Viel mehr sorgt sich der einstige Mitorganisator des legendären Kulturfestivals „Festival au Désert“ nun um den Einfluss von Ansar Dine (Verteidiger des Glaubens). Der Anführer dieser radikalen islamistischen Gruppe, Iyad Ag Ghaly, ist ebenfalls Targi und war Rebellenführer der ersten Stunde aus den 1990er Jahren. Jetzt sind seine Kämpfer, bis vor Kurzem in Algerien basiert, in den Norden Malis eingerückt und haben sich fest etabliert, vor allem in Gao. In den von Ansar Dine eroberten Gebieten soll die Scharia besonders streng ausgelegt werden.
Issa Dicko empfindet das als einen großen Widerspruch. „Wir sind doch schon Muslime“, sagt er. Die Tuareg hätten zwar immer wieder für Autonomie im Norden gekämpft, aber nie für radikalen Islam. „Das ist eine neue Idee, und viele Menschen sind damit überhaupt nicht einverstanden“, sagt er.
Zu der Spekulation, der Norden Malis werde nun endgültig zum Sammelbecken von Terroristen, passt auch die Vermutung, dass Boko Haram dort Fuß gefasst haben könnte. In Nigeria gilt die radikale Sekte seit Jahren als größtes Sicherheitsrisiko und hat Hunderte von Menschenleben auf dem Gewissen. Boko Harams Ziele sind denen von Ansar Dine ziemlich ähnlich. Vergangene Woche sollen Mitglieder von Boko Haram in Gao gesichtet worden sein.
An einen eigenen Boko-Haram-Flügel in Mali glaubt Hussaini Abdu, Leiter der nichtstaatlichen Organisation ActionAid in Nigeria, nicht. „Allerdings ist es sehr gut möglich, dass Mitglieder von Boko Haram in den vergangenen Jahren in der Sahara ausgebildet worden sind“, sagt Abdu, der sich seit Jahren mit Boko Haram befasst. Schuld daran habe Malis Regierung, die über eine lange Zeit nichts dagegen unternommen hätte. „Der Norden ist seit einigen Jahren zu einem rechtsfreien Raum geworden, in dem sich radikale Gruppen gut ausbreiten konnten.“
Dass die Angst vor radikalen Islamisten die eigentlich größere ist, denkt auch Martha Mamozai. Die Deutsche ist seit 1996 mit einem Malier verheiratet. Ihr Mann lebt derzeit in Douentza, südlich von Timbuktu, an der Grenze zwischen Azawad und Mali. Fast täglich telefoniert sie mit ihm. Das Handy sei das Einzige, was noch einigermaßen funktioniere. Doch der Rest sei katastrophal. „Mein Mann erzählt, dass die Geschäfte geschlossen sind. Es gibt keine Busse mehr, und der Bevölkerung gehen die Lebensmittel aus.“
Man helfe sich zwar gegenseitig, so gut es gehe, aber ganz besonders betroffen seien die vielen Straßenkinder, die nichts mehr zu essen hätten. Dazu kommt noch die großen Sorge, wie sich die Lage in den kommenden Wochen entwickeln wird. „Die Menschen können Ansar Dine nicht einschätzen und sind sehr verunsichert“, so Mamozai.
Um zumindest etwas zu tun, hat sie nun gemeinsam mit anderen ehemals oder aktuell in Mali tätigen Deutschen einen Brief an Außenminister Guido Westerwelle verfasst. Darin wird Deutschland aufgefordert, in Mali zu vermitteln – „Deutschland war das erste Land, welches die Republik Mali nach der Unabhängigkeit 1960 politisch anerkannte“, so der Brief. Auch bei der Befriedung seitheriger Tuaregrebellionen in Mali hat Deutschland immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. „In der Region hat es viele Projekte gegeben“, so Mamozai. „Man kann das nicht alles hängen lassen.“
09.04.2012 | Von friedlicher Lösung weit entfernt
Kommentar von Katrin Gänsler
Es hat zwar Druck und Drohungen von Seiten der Westafrikanischen Regionalorganisation Ecowas gebraucht. Trotzdem haben Malis Putschisten das getan, was sie von Anfang an angekündigt hatten. Sie haben sich schnell wieder von der plötzlich gewonnenen Macht getrennt und sie wollen nun den Weg zu freien Wahlen ebnen.
Es klingt zu schön, um wahr zu sein. Und das ist es denn auch. Denn die Putschisten sind in den vergangenen Wochen ein kleines und ziemlich handzahmes Problem gewesen, das keine ernsthafte Bedrohung dargestellt hat. Ganz anders sieht die Lage im Norden aus, wo die Tuareg-Armee MNLA nun den unabhängigen Staat Azawad ausgerufen hat.
Mali ist damit weiter denn je von einer friedlichen Lösung entfernt. Denn mit dem Rücktritt der Putschisten ist eine verlockende Idee verbunden: Innerhalb der nächsten 40 Tage soll ein neuer Präsident gewählt werden, so lautet der Fahrplan der Übergangsregierung unter dem bisherigen Parlamentspräsidenten Dioncounda Traoré. Und der Norden ist mal wieder außen vor.
Dieser, so wollen es die Regierung in Bamako sowie die internationale Gemeinschaft, dürfe sich auf keinen Fall vom Süden abspalten. Um das zu verhindern, wäre auch eine Ecowas-Intervention – zur Not auch mit Gewaltanwendung – möglich.
Doch schon ohne einen Einmarsch könnte es kaum zu glaubwürdigen Wahlen kommen. Noch immer sind Hunderttausende auf der Flucht, von funktionierender Infrastruktur kann kaum noch gesprochen werden. Im Norden wird also gekämpft und im Süden gewählt. Dabei soll das Land doch eins bleiben.
All das führt nur dazu, dass sich der Norden wieder einmal missachtet und marginalisiert fühlen wird, egal, wohin sich die Region entwickeln wird. Denn nach einem sinnvollen Zeitplan und nach nachhaltigen Lösungsansätzen sucht in Mali offensichtlich niemand.
09.04.2012 | Die Militärjunta gibt auf
Die Putschisten in Bamako haben die Macht wieder abgegeben. Im Gegenzug hat Westafrika Sanktionen aufgehoben und überlegt, bei der Rückeroberung des Nordens zu helfen. Von Dominic Johnson
BERLIN taz | Im Bürgerkriegsland Mali ist ein wichtiger Schritt zur Lösung der politischen Krise getan. Die Militärjunta, die am 22. März in der Hauptstadt Bamako die Macht ergriffen hatte, einigte sich mit Westafrikas Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) auf die Rückgabe der Macht an eine zivile Übergangsregierung.
Juntachef Kapitän Amadou Sanogo verlas die Einigung am Freitagabend im malischen Staatsfernsehen in Anwesenheit des Ecowas-Vermittlers, des Außenminister von Burkina Faso, Djibril Bassolé. Im Gegenzug hob die Ecowas am Sonntag die scharfen Sanktionen gegen Mali auf, darunter die Schließung der Grenzen und die ökonomische Isolation des Landes, die am 2. April als Strafe für den Putsch in Kraft getreten waren.
Dioncounda Traoré, bisher Parlamentspräsident in Mali, soll nun in Bamako eine Übergangsregierung bilden, die innerhalb von 40 Tagen freie Wahlen organisiert. Dies entspricht der Verfassung, nach der der Parlamentspräsident die Amtsgeschäfte des Staatschefs übernimmt, wenn dieser verhindert ist. Der vom Militär gestürzte Staatschef Amadou Toumani Touré, der sich seit dem Putsch an einem geheimen Ort in Bamako aufhielt, erklärte umgehend schriftlich seinen Rücktritt zugunsten Traorés. Dieser war am Samstag aus Burkina Faso, wohin er nach dem Putsch geflohen war, nach Bamako zurückgekehrt und führt nun Gespräche über die Regierungsbildung.
Nun sind alle zufrieden und können so tun, als sei nie etwas passiert. Der neue Übergangspräsident Traoré lobte am Samstagabend sogar die Putschisten, die er gerade von der Macht verdrängt hatte. „Ich möchte den jungen Offizieren gratulieren, die immerhin die Weisheit und die Intelligenz besaßen, zu verstehen, dass unser Land heute Einheit und Solidarität braucht“, sagte er im Staatsfernsehen. „Unser Land braucht seine Armee, um sein gesamtes Staatsgebiet zurückzugewinnen.“
Wie das gehen soll, bleibt völlig offen. Mali ist zerfallen. Die Armee hatte im März geputscht, weil sie keine Lust mehr hatte, in einen verlustreichen Krieg gegen die Tuaregrebellenbewegung MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad) im Norden geschickt zu werden. Folgerichtig stellte sie nach ihrem Putsch den Kampf ein, die MNLA eroberte den gesamten Norden Malis und rief dort am 6. April den unabhängigen Staat Azawad aus.
Dies wird von allen anderen Kräften inner- und außerhalb des Landes abgelehnt – sogar von den Islamisten, die im Windschatten der MNLA im Norden Malis eingerückt sind und nun erklären, sie kämpften für den Islam, nicht für Unabhängigkeit. Aber diese Islamisten gelten inzwischen als noch größere Gefahr für die Stabilität der Region als die Tuaregrebellen.
Westafrikas Planspiele für eine Militärintervention in Mali, die die Putschisten zum Einlenken bewegen soll, könnten nun nach deren freiwilligem Rückzug von der Macht in eine Intervention zur Rückeroberung Nordmalis umgewandelt werden. Dies wurde am Wochenende bei einem Treffen der Ecowas-Generalstabschefs in Nigeria sondiert. Im Anschluss an dieses Treffen erklärte die Ecowas, Mali sei „unteilbar“ und man sei bereit, „alle Mittel einschließlich der Gewaltanwendung zur Sicherung der territorialen Integrität Malis“ anzuwenden. Ein Mandat dafür muss jetzt von Westafrikas Staatschefs gebilligt werden.
09.04.2012 | Malischer Präsident tritt zurück
Ende März hatten Soldaten in Mali gegen die Regierung geputscht. Staatsoberhaupt Amadou Toumani Touré tauchte danach unter. Jetzt gibt er das Amt ab.
BAMAKO dapd | Der seit einem Putsch im März untergetauchte malische Präsident Amadou Toumani Touré hat seinen Rücktritt eingereicht. Reporter des staatlichen Fernsehens und des französischen Senders France 24 filmten den Staatschef am Sonntag dabei, wie er in einer Villa in der Hauptstadt Bamako ein Rücktrittsschreiben unterzeichnete und an einen Emissär übergab.
„Ich tue das ohne Druck, ich tue das in gutem Glauben und ich tue das vor allem aus Liebe zu meinem Land“, sagte Touré. „Ich habe mich entschieden, mein Rücktrittsschreiben zu übergeben.“
Damit machte der 63-Jährige den Weg für eine Übergangsregierung frei. Das Verfassungsgericht des Landes kann nun erklären, dass der Präsident nicht in der Lage sei, sein Amt weiter auszuführen. Dann könnte Parlamentspräsident Dioncounda Traoré die Amtsgeschäfte kommissarisch übernehmen, wie es die Verfassung vorsieht.
Traoré war am Samstag aus dem benachbarten Burkina Faso nach Bamako zurückgekehrt. Der 70-Jährige soll eine Übergangsregierung bilden und Neuwahlen organisieren. Die Putschisten hatten zuvor unter starkem internationalen Druck die Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung zugesagt. Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas hob ihre gegen Mali verhängten Sanktionen mit der Rückkehr Traorés auf.
Am 21. März hatte eine Gruppe Soldaten um den Hauptmann Amadou Haya Sanogo geputscht. Sie warfen der Regierung vor, sie für ihren Kampf gegen die Rebellen vom Volk der Tuareg nicht angemessen auszurüsten. In den anschließenden Wirren brachten die Aufständischen weite Teile des Nordens von Mali unter ihre Kontrolle und riefen zuletzt einen unabhängigen Staat Azawad aus.
06.04.2012 | Revolte gegen kolonialistische Grenzen
Im Norden Malis erklärt die Rebellenarmee MNLA die Unabhängigkeit. Das von ihr beanspruchte Gebiet nennen sie „Azawad“. Von Dominic Johnson
BERLIN taz | Malis Tuaregrebellen machen Ernst. In der Nacht zum Karfreitag erklärte die Rebellenbewegung MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad) die Unabhängigkeit des von ihr beanspruchten Gebietes unter dem traditionellen Tuaregnamen „Azawad“.
„Angesichts der vollständigen Befreiung des Territoriums von Azawad rufen wir unwiderruflich den unabhängigen Staat Azawad aus, ab diesem Freitag, 6. April 2012“, heißt es in der Erklärung. Man werde einen demokratischen Staat aufbauen und die Grenzen zu allen Nachbarn anerkennen. Die Weltgemeinschaft solle Azawad „unverzüglich“ anerkennen, „im Geist von Gerechtigkeit und Frieden“.
Die Abspaltung Azawads ist das erklärte Ziel der MNLA, seit sie im Januar den Kampf gegen Malis Armee aufnahm, und das beanspruchte Gebiet ist präzise definiert. Die Unabhängigkeitserklärung folgt auf die jüngsten militärischen Erfolge der Rebellen: Erst am vergangenen Wochenende eroberten sie die drei großen Städte des Nordens, Kidal, Gao und Timbuktu. Zuvor hatte Malis Armee in der Hauptstadt Bamako geputscht.
Die Putschisten sind international isoliert, und die Armee hat den Kampf gegen die Rebellen praktisch eingestellt. Zugleich machen sich im Rebellengebiet islamistische Tendenzen breit, gegen die sowohl die MNLA als auch die Putschisten in Bamako internationale Hilfe fordern.
So manche Afrikaner trauen aber der Tuaregrevolte nicht. Sie erinnern sich an gescheiterte Versuche Frankreichs vor fünfzig Jahren, die Entkolonialisierung Afrikas durch die Schaffung eines Sahara-Satellitenstaates zu schwächen: die Gemeinsame Organisation der Sahara-Regionen (OCRS) im Süden Algeriens sowie dem Norden Malis und Teilen von Mauretanien, Niger und Tschad. Dort sollten unter französischer Ägide Uran und Erdgas gefördert und Atomtests durchgeführt werden können.
Afrikas Befreiungskämpfer verwahrten sich dagegen und errichteten stattdessen Zentralstaaten nach sozialistischem Muster mit dem Anspruch, die Wüstengebiete von fernen Hauptstädten aus zu kontrollieren. Seitdem gelten Tuareg, Berber und andere Wüstenvölker vielen Modernisierern Nord- und Westafrikas als suspekt und ihre Wünsche nach kultureller und politischer Eigenständigkeit als subversiv.
Die MNLA setzt dem nun entgegen: Bei der Unabhängigkeit Französisch-Westafrikas 1960 habe man Azawad ohne die Zustimmung seiner Bewohner Mali angegliedert, erklärt sie. Explizit bezieht sich die Unabhängigkeitserklärung auf einen Brief des Kadis von Timbuktu und anderer Tuaregwürdenträger an die französische Kolonialmacht vom 30. Mai 1958. Darin wenden sich die Unterzeichner gegen die Unabhängigkeit Malis: „Wir wollen französische Muslime bleiben“, schreiben sie, „integraler Bestandteil der französischen Nation“, statt von einer „Minderheit afrikanischer Politiker, die nicht einmal richtige Bürger ihres eigenen Landes sind“, regiert zu werden.
So würden die Tuareg das heute nicht mehr ausdrücken. Keine Tuaregrebellion ist allerdings so weit gegangen wie jetzt die MNLA bei der Ablehnung des Staates, in dem sie lebt.
International wird die Unabhängigkeitserklärung zurückgewiesen. Sie sei „null und nichtig“, so das französische Außenministerium. Die Afrikanische Union erklärte, sie „habe keinen Wert“. In Bamako indes sehen Beobachter Malis finsterste Stunde seit der Unabhängigkeit gekommen. „Eine erniedrigte Nation“, charakterisiert die Zeitung Le Républicain den Zustand des Landes. „In den Dreck gezogen, dann zerstückelt und auf den Index gesetzt.“
06.04.2012 | Eines Tages waren sie plötzlich Malier
Viele Angehörige der Tuareg wachten eines Morgens auf und waren plötzlich Bürger eines Staates, den sie gar nicht kannten: Mali, Algerien, Niger. Von Katrin Gänsler
BAMAKO/COTONOU taz | Aïcha Walet braucht beide Hände, um nachzuzählen, wie viele Sprachen sie spricht. Auf acht kommt die Mitarbeiterin in Malis Bildungsministerium schließlich.
Obwohl sie dort meistens Bambara – Malis wichtigste Verkehrssprache – und Französisch spricht, ist eine ihre Herzensangelegenheit: Tamashek, die Sprache der Tuareg, ihres Volkes. Aïcha Walet stammt aus Timbuktu und erinnert sich gerne an ihre Kindheit in der sagenumwobenen Stadt, wo noch heute große Teile ihrer Familie leben.
Timbuktu ist Heimat für sie. In Bamako hat sie einen guten Job beim Staat. Sie betreut Nomadenschulen, die es möglich machen, dass Tuaregkinder mit ihren Familien mitziehen und zugleich zur Schule gehen, denn ein Lehrer begleitet die Gruppen ständig.
Genau dieses Umherziehen, verbunden mit einer großen Unabhängigkeit, ist auch für Issa Dicko, Mitorganisator der wohl berühmtesten Kulturveranstaltung in Timbuktu, des Festival au Désert, existenziell für das Nomadenvolk. „Es hat früher die ganze Sahara kontrolliert“, sagt Dicko, der selbst Targi ist.
Früher waren die Tuareg in großen Konföderationen organisiert, zu denen mehrere Großfamilien gehörten und die damals in der Sahara ebenso bekannt waren, wie es heute die Namen von Staaten sind, analysiert Dicko. „Regeln und Gesetze von außen gab es nicht“, erklärt er. Das passt nicht in die heutige Welt mit engen Gesetzen und Vorschriften, Reisepässen, vor allem aber ziemlich willkürlich gezogenen Staatsgrenzen. Außer in Mali leben Tuareg in Algerien, Libyen, Niger und Burkina Faso.
„Eines Tages waren sie plötzlich Algerier oder Malier in einem Staat, den sie überhaupt gar nicht kennen“, sagt Issa Dicko. „Die Menschen verloren mit einem Mal ihre ganze Autonomie. Den zentralen Staat erleben sie als einen, der sich nicht kümmert und der vor allem für Repressionen zuständig ist.“
Für ein Nomadenvolk ist kein Platz. Für Yehia Ag Mohamed Ali, nationaler Koordinator des deutschen Entwicklungsprogramms Mali Nord, hat das vor allem zu einer Entwicklung geführt: „Menschen fragen sich, ob ein Targi seinen Job nur bekommen hat, weil er Targi ist.“
Aïcha Walet ist indes froh, dass sie diesen Vorwurf noch nicht gehört hat. „In Bamako erlebe ich keinen Rassismus“, sagt sie und vermutet: „Manchmal werden persönliche Diskrepanzen als Rassismus gedeutet.“ Ohnehin erlebt sie seit Beginn der jüngsten Krise im Januar eine andere Entwicklung. „In der Hauptstadt rücken die Menschen viel dichter zusammen. Bambarafamilien nehmen Tuareg auf. Man hilft sich gegenseitig.“
06.04.2012 | Kein Staat, aber ein wichtiges Symbol
Kommentar von Dominic Johnson
Ein Traum wird wahr: Der Staat namens Azawad, Heimat der Tuaregnomaden tief in den Weiten der Saharawüste, erblickt das Licht der Welt. Die am 6. April veröffentlichte Unabhängigkeitserklärung der Rebellenbewegung der Tuareg MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad) folgt auf einen fulminanten Vormarsch der Aufständischen, die erst am vergangenen Wochenende die drei großen Städte des malischen Nordens unter ihre Kontrolle brachten.
Selten hat eine Guerillabewegung so schnell und so klar gesiegt. Jedenfalls sieht es auf den ersten Blick so aus. Bei näherem Hinsehen aber löst sich Azawad ebenso in Luft auf wie eine Fata Morgana im Flimmern der Wüste. Diese Unabhängigkeitserklärung ist bestenfalls eine Absichtserklärung. Es gibt darüber keinerlei politische Vereinbarung mit Mali noch überhaupt Einigkeit innerhalb des Tuareglagers.
Azawad hat keine Verfassung, keine Regierung, keine Struktur. Die MNLA ist auf rein symbolischer Ebene vorgeprescht, wohl vor allem um den Islamisten der Ansar Eddine Wind aus den Segeln zu nehmen. Diese Gruppierung bietet im Schatten der MNLA-Vorstöße in Malis Norden der Führung von al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) Aufenthalt.
Die Tuaregrebellen wollen nicht in die Nähe des fundamentalistischen Islams oder des islamistischen Terrorismus gerückt werden. Sie wollen mit ihrer Unabhängigkeitserklärung klarmachen, worum es ihnen geht: Selbstverwaltung. Sie tun das im Kontext eines komplett zerfallenen Staates – das neue Mali muss die alte Zentralstaatlichkeit reformieren.
Es wäre falsch, Azawad jetzt als Staat anzuerkennen, aber es wäre ebenso falsch, Azawad jetzt als Terrorschlupfloch zu verteufeln. Es ist ein Ausruf, der Gehör sucht. Die beteiligten politischen Akteure sollten das Zeichen ernst nehmen.
06.04.2012 | Aus Nordmali wird Azawad
Kaum haben die Tuareg-Rebellen im Norden Malis einige Städte eingenommen, wird auch schon ein neuer Staat ausgerufen. Den will aber längst nicht jeder anerkennen
BAMAKO rtr | Nach der Einnahme mehrerer strategisch wichtiger Städte haben die Tuareg-Rebellen am Freitag die Unabhängigkeit des Nordens von Mali ausgerufen. Ihr neuer demokratischer Staat in Westafrika werde Azawad heißen, teilte die Rebellen-Gruppe MNLA mit.
Sie wird unterstützt von Islamisten mit Verbindungen zu Al-Kaida, was international Befürchtungen über einen weiteren unberechenbaren Staates aufkommen ließ. Frankreich erklärte umgehend, eine Unabhängigkeitserklärung, die von den anderen afrikanischen Staaten nicht anerkannt werde, habe für die Regierung in Paris keinerlei Bedeutung. Mali ist eine ehemalige französische Kolonie, die 1960 ihre Unabhängigkeit erlangte.
Die aufständischen Tuareg hatten in den vergangenen Tagen ein riesiges Gebiet im Norden unter ihre Kontrolle gebracht. Dabei waren Waffen und Kämpfer aus Libyen im Einsatz. In der Wüstenzone, die größer als Frankreich ist, liegen auch der alte Handelsposten Timbuktu und Gao, wo jetzt die Unabhängigkeit erklärt wurde.
Die Rebellen hatten von der Unruhe durch einen Putsch in der Hauptstadt Bamako im Süden des Landes profitiert: Dort wollten Offiziere mit einem Staatsstreich gegen Präsident Amadou Toumani Toure am 22. März eigentlich den Kampf gegen die Tuareg vorantreiben, die seit Jahrzehnten nach einem eigenen Staat streben.
Der neue Staat solle im Einklang mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen, erklärten die Tuareg-Rebellen. Alle Grenzen mit den Nachbarländern würden anerkannt. Mali hat die drittgrößten Goldlagerstätten in Afrika.
05.04.2012 | Tuareg beenden Militäroperationen
Die Tuareg-Rebellen haben einen Waffenstillstand in Mali verkündet, da sie den Norden des Landes „vollständig befreit“ haben. Eine nationale Versammlung wurde indes abgesagt
„Der Norden weint“: Flüchtlinge aus dem Norden Malis versammeln sich in Bamako. Bild: reuters
ADDIS ABEBA/DAKAR dpa | Die Tuareg-Rebellen haben ihre Militäroperationen im Norden des westafrikanischen Krisenlandes Mali eingestellt. Die Entscheidung sei getroffen worden, weil die Region mittlerweile „vollständig befreit“ worden sei, teilte die MNLA (Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad) am Donnerstag auf ihrer Webseite mit.
Zudem wollten die Rebellen der Forderung des UN-Sicherheitsrates nachkommen, die Gewalt in der Region umgehend zu stoppen. Die Separatistenkämpfer wollen eine Abspaltung des Nordens erreichen.
Der Weltsicherheitsrat hatte am Mittwoch in New York eine Erklärung verabschiedet, in der unter anderem die Angriffe der Rebellen im Norden des Landes scharf verurteilt und ein Ende der Gewalt gefordert wurde. Mit Hilfe von islamistischen Gruppen hatte die MNLA am vergangenen Wochenende die historische Stadt Timbuktu eingenommen, die zum Weltkulturerbe der Unesco gehört.
Lokalen Medienberichten zufolge kommt die Entscheidung der Rebellen nicht überraschend, da sie in den vergangenen Wochen große Erfolge erzielt und vor Timbuktu bereits die wichtigen Städte Kidal und Gao erobert hatten. Die Tuareg nennen das Gebiet, das sie für sich beanspruchen, Azawad. Es reicht von den Grenzen zu Algerien und Niger bis zum Fluss Niger, der außerhalb von Timbuktu verläuft.
Unterdessen haben die Putschisten in der Hauptstadt Bamako eine geplante nationale Versammlung abgesagt, in der über die Zukunft des Landes und die Einrichtung einer demokratischen Regierung entschieden werden sollte. Die wichtigsten Parteien des westafrikanischen Staates hatten zuvor angekündigt, nicht an dem Treffen teilzunehmen, weil die Versammlung „nicht mit der Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung kompatibel“ sei, hieß es in einer Mitteilung.
Meuternde Soldaten hatten sich am 22. März an die Macht geputscht und Präsident Amadou Toumani Touré gestürzt. Die Armee Malis zog sich anschließend weitgehend aus dem Norden zurück, was den Tuareg-Rebellen ein schnelles Vorrücken in die wichtigsten Städte des Gebietes ermöglichte.
Die nun regierende Militärjunta ist unter großem internationalen Druck. Die Nachbarländer haben gegen Mali bereits schwere Sanktionen verhängt, um die Putschisten zu einer Rückkehr zur Demokratie zu bewegen. Die Grenzen wurden für den Handel geschlossen, und das Land wurde von der regionalen Zentralbank abgeschnitten.
Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas wollte noch im Laufe des Donnerstag in der Elfenbeinküste über eine militärische Lösung in der Krise beraten, berichtete der Rundfunksender Radio France International (RFI). Rund 3000 Männer stehen bereit und könnten in Mali einmarschieren.
05.04.2012 | Die Unsicherheit nach dem Putsch
Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas hat ihre Drohungen wahr gemacht und Sanktionen gegen Mali verhängt. Die Menschen befürchten Schlimmes. Von Katrin Gänsler
COTONOU taz | Es sind echte Horrorszenarien, die zwei Wochen nach dem Militärputsch durch Bamako geistern. Wie lange wird es in Malis Hauptstadt noch Strom geben? Kann noch Benzin gekauft werden? Wird sogar das Wasser knapp?
Ausgerechnet jetzt, wo die Temperaturen tagsüber auf knapp 40 Grad klettern und sich die Luft so anfühlt, als würde einem ständig ein Föhn entgegenpusten. Soumana Coulibaly, nationaler Koordinator der Organisation Enda Mali, die unter anderem örtliche Schulen fördert, bewertet die Lage dennoch recht gelassen: „Im Moment geht es hier in Bamako noch ganz gut“, sagt er, aber „niemand weiß, was in den kommenden Tagen passieren wird.
Einen Vorgeschmack hatten viele Hauptstädter schon in der vergangenen Woche bekommen. Nach dem Putsch schlossen die Tankstellen, erste Gerüchte über mögliche Sanktionen kursierten, vor den Geldautomaten bildeten sich lange Schlangen. Mali gehört zu den 25 ärmsten Ländern der Welt, und etwa 60 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze.
Ein Kleinhändler, der ganz in der Nähe des noblen Libya Hotels Ketten, Kleider und Holzarbeiten an Touristen verkauft, gehört zu jenen, die nun nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen. Wie so viele der 14 Millionen Einwohner des Landes ist er auf das angewiesen, was die Urlauber bei ihm kaufen oder was Freunde ihm aus Frankreich überweisen. Doch Urlauber gibt es nicht mehr. Die Regierungen Deutschlands und anderer Staaten warnen derzeit dringend vor Reisen nach Mali und empfehlen ihren Bürgern, die noch im Land sind, die unverzügliche Ausreise.
Zudem können die Freunde des Händlers ihm inzwischen keine Mittel mehr über die Agentur Western Money Union Transfer schicken, über die Millionen von Menschen Geld auf den Kontinent senden, um so beispielsweise ärmere Verwandte zu unterstützen.
Bleibt es bei den Sanktionen – dazu gehören auch die Schließung der Grenzen zu den Nachbarländern sowie das Einfrieren des Staatskontos bei der Westafrikanischen Zentralbank –, könnte sich die Lage schnell zuspitzen, es könnte zu massiven Ausschreitungen kommen. Irgendwann sind die Benzinreserven aufgebraucht, und der Kampf ums alltägliche Überleben beginnt.
05.04.2012 | Mali ist Symptom
Kommentar von Dominic Johnson
Die Krise in Mali ist viel mehr als eine Krise in Mali. Erst war es bloß ein Aufstand bewaffneter Tuareg gegen die Zentralmacht in Bamako. Jetzt sind die radikalen Islamisten der „al-Qaida im Islamischen Maghreb“ eingerückt. Ein ganzes Jahrzehnt westlicher Eindämmungspolitik des bewaffneten Islamismus in der Sahara-Sahel-Region steht vor dem Scheitern.
Das ist eine direkte Folge der nordafrikanischen Revolutionen des Jahres 2011. Der Libyenkrieg und der Sturz des Gaddafi-Regimes setzten gigantische Waffenarsenale frei, an denen sich die bewaffneten Gruppen der Region bedienen können.
Die Demokratisierung von Tunesien und Ägypten hat darüber hinaus das politische Wiedererwachen des radikalen Salafismus, abgegrenzt vom traditionellen Islamismus, sichtbar gemacht. Beide Entwicklungen strahlen in den gesamten muslimischen Teil Afrikas aus, wo die Unzufriedenheit der Menschen groß und die Handlungsfähigkeit der Staaten gering ist.
Dass ausgerechnet in Mali, Lieblingspartner der internationalen Gemeinschaft in Westafrika, jetzt der komplette Zerfall droht, wirft ein Licht auf den Realitätssinn europäischer und US-amerikanischer Politik in der Sahelregion.
Würde die Welt die Bedrohung durch herrenlose Waffenarsenale und militante Islamisten in Mali ernst nehmen, müsste sie dagegen etwas tun. Doch sie verhängt scharfe Sanktionen gegen junge Militärs, die aus Wut über den Zerfall des Landes in der Hauptstadt geputscht haben, und isoliert damit ihren einzigen potenziellen Verbündeten.
Jetzt muss erst mal der malische Flächenbrand gelöscht und eine Neuordnung des Staates angegangen werden. Jenseits dessen aber darf die Welt nicht mehr Zuschauer bleiben, wenn es um die Vollendung der demokratischen Neuordnung Nordafrikas geht. Die arabischen Revolutionen strahlen weit über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus. Der Sturm in der Sahara beweist es.
05.04.2012 | Putschist aus Versehen
Erst seit zwei Wochen an der Macht, gelten gegen Amadou Sanogo schon jetzt internationale Sanktionen. Einen Staatsstreich zu begehen, war nie sein Plan. Von Dominic Johnson
Selten hat die Welt einen Putschisten so schnell und so rabiat in die Mangel genommen wie Amadou Sanogo. Der junge Armeekapitän regiert Mali erst seit dem 22. März, aber schon gelten gegen den Präsidenten des Nationalkomitees zur Aufrechterhaltung der Demokratie und zur Wiederherstellung des Staates (CNRDRE) internationale Sanktionen und keiner will mit ihm reden, obwohl er längst zugesagt hat, die Macht wieder abzugeben.
Das dachten sich Malis Soldaten wohl nicht, als sie am 21. März eine Meuterei gegen die Regierung anzettelten, an deren Schluss ein Militärputsch stand. Sanogo und die anderen protestierten mit ihrer Meuterei dagegen, dass sie ohne vernünftige Ausrüstung gegen viel stärkere Rebellen im Norden des Landes an die Front geschickt wurden.
Präsident Amadou Toumani Touré weigerte sich, seine Garde auf die Meuterer schießen zu lassen; er ergriff die Flucht, die Meuterer ergriffen die Macht, und nun sind die Rebellen im Norden noch viel stärker als vorher, die Armee kämpft überhaupt nicht mehr und mit jedem Tag wächst in Mali die Sorge um die Zukunft.
Amadou Aya Sanogo, vierter Sohn eines Krankenpflegers aus der Stadt Ségou, wird in Berichten aus Mali als gebildet, zurückhaltend und klug beschrieben. Im Jahr 2004 kam er zur Militärausbildung in die USA, unter anderem an die Akademie Quantico, wo die US-Marines gedrillt werden. Er absolvierte mehrere Kurse bis 2010; Malis Armee arbeitet eng mit den USA gegen bewaffnete Islamisten zusammen.
Nach seiner Rückkehr in die Heimat war Sanogo ein regelmäßiger Teilnehmer an regionalen Treffen zur Terrorbekämpfung in der Sahelregion. Er lehrte auch Englisch an Malis Militärschule Koulikoro. Aber im Oktober 2011 wurde er entlassen, als fünf Offiziersschüler während einer körperlichen Disziplinierung zu Tode gefoltert wurden – nicht von ihm selbst, aber die gesamte Lehrerschaft musste damals gehen.
Mehrere seiner Kameraden, deren Karriere durch diese Affäre einen Knick bekam, sollen jetzt zu seiner Entourage gehören. Sanogo ist einer der wenigen Putschisten der Welt, denen man Glauben schenken darf, wenn er sagt, er habe sich vorher nie träumen lassen, einen Staatsstreich zu begehen.
04.04.2012 | Islamisten setzen sich in Timbuktu fest
Im Windschatten der Tuareg-Rebellen haben sich al-Qaida-Kämpfer im Norden des Landes angesiedelt. Sie sollen eine Militärkaserne in Timbuktu besetzt haben.Von Dominic Johnson
BERLIN taz | Nachdem Aufständische des Tuareg-Nomadenvolkes die Nordhälfte von Mali unter ihre Kontrolle gebracht haben, setzen sich dort radikale Islamisten fest. Die Führung der Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) soll sich in Timbuktu angesiedelt haben, das am Wochenende an die Rebellen gefallen war.
„Timbuktu ist geteilt“, berichtet ein Malier in der Hauptstadt Bamako mit guten Kontakten in die legendäre Wüstenstadt, im Mittelalter ein Zentrum der globalisierten islamischen Gelehrsamkeit. „In der einen Hälfte sitzt die MNLA, in der anderen Ansar Eddine.“ Ansar Eddine ist eine Miliz des malischen Tuareg-Politikers Iyad ag Ghali, der das islamische Scharia-Recht für ganz Mali anstrebt. MNLA steht für die Tuareg-Rebellenarmee Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad, die den Norden Malis als eigenen Staat „Azawad“ abspalten will.
„Sie haben die Militärkaserne in einen Bunker verwandelt“, so der Malier in Bamako weiter über die Islamisten in Timbuktu. „Und sie fordern die Frauen in der Stadt auf, sich zu verschleiern, und die Männer, zu beten.“ Sie drohen auch harte körperliche Strafen gegen Plünderer an.
Im Gefolge von Ansar Eddines Chef Iyad ag Ghali sollen auch die drei wichtigsten algerischen Al-Qaida-Führer nach Timbuktu gekommen sein: Mokhtar Belmokhtar, Abou Zeid und Yahya Abou al-Hammam. Die drei „nahmen an einem Treffen zwischen Iyad ag Ghali und den Imamen der Stadt teil“, berichtete die Nachrichtenagentur AFP.
Es wäre das erste Mal, dass die AQMI-Islamisten eine dauerhafte städtische Basis bekommen. AQMI ist die Nachfolgeorganisation jener bewaffneten Islamisten Algeriens, die dort 1999 nach einem langen Bürgerkrieg mit Hunderttausenden Toten als Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC) weitermachten, bevor sie sich 2006 formell al-Qaida anschlossen. Sie wird heute auf rund 1.000 Kämpfer geschätzt, die sich auf vier Brigaden verteilen und in Algerien, Mauretanien, Mali und Niger aktiv sind.
AQMI hat mit Entführungen von Europäern und durch Lösegeldzahlungen viel Geld verdient. Immer wieder hat sie sich auch am lukrativen Transsaharahandel beteiligt, in Zusammenarbeit mit mächtigen, zumeist maurischen Händlerfamilien, die den Fernhandel durch Mauretanien und Mali Richtung Nordafrika kontrollieren und in den letzten Jahren durch die Duldung des Schmuggels von Migranten, Waffen oder Drogen reich geworden sind. „Cocaine City“ heißen die Villenviertel, die jüngst in so manchen malischen Wüstenstädten entstanden sind – jetzt alles Rebellenhochburgen.
Das Selbstverständnis der Tuareg, die Freiheit für ihr nomadisches Leben fordern, hat mit islamischem Fundamentalismus nichts zu tun. Beide Strömungen haben sich in der Vergangenheit mit der Waffe bekämpft. Aber beide eint eine Abneigung gegen Versuche der Zentralstaaten, den informellen Grenzhandel abzuwürgen und die Wüstenbevölkerungen zu kontrollieren. Beide profitierten nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen 2011 von libyschen Waffenarsenalen.
Einer der vier AQMI-Brigadeführer ist ein Cousin des malischen Tuareg-Politikers Iyad ag Ghali. Aus dieser Brigade soll Ansar Eddine hervorgegangen sein. Augenzeugen aus Gao berichten, zu dieser Gruppierung gehörten auch Kämpfer aus Libyen und Mauretanien. Nun wächst die Furcht, die Islamisten könnten versuchen, bis zu Malis ferner Hauptstadt Bamako vorzustoßen und den Umstand auszunutzen, dass die dortige Militärregierung gerade mit internationalen Sanktionen belegt worden ist.
03.04.2012 | Radikale Islamisten im Aufwind
Die Rebellen in Mali rücken weiter nach Süden vor. Augenzeugen berichten von verängstigter Bevölkerung und Plünderungen. Über Ziele der Aufständischen wird spekuliert. Von Dominic Johnson
BERLIN taz | Die Rebellen im Norden von Mali rücken immer weiter vor. Wie die französische Nachrichtenagentur AFP am Dienstagmittag meldete, soll es „Bewegungen“ in der Nähe der Stadt Mopti geben, rund 250 Kilometer südwestlich von Timbuktu, das die Aufständischen am Montag unter ihre Kontrolle gebracht hatten.
Mopti ist durch eine ausgebaute Straße mit der Garnisonsstadt Gao verbunden, die am Wochenende an die Rebellen gefallen war.
Über Identität und Ziele der Aufständischen wird weiter spekuliert. Es sind offenbar nicht nur malische Tuareg. Augenzeugenberichte aus Gao und Timbuktu, die die taz erreichten, sprechen von Kämpfern aus Libyen und Mauretanien.
„Die meisten Leute sind verängstigt, trauen sich nicht auf die Straße und verstecken sich in ihren Häusern“, so ein Bewohner von Gao.
„Die Rebellentruppen plündern Geschäfte, zerstören Banken und staatliche Institutionen, haben auch Krankenhäuser angegriffen; sämtliche Bars wurden aufgebrochen und zerstört; die Versorgung der Bevölkerung ist blockiert, es gibt nichts zu kaufen.“
Neben der Tuareg-Rebellenarmee MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad), die einen Tuareg-Staat in Malis Nordhälfte verlangt, kämpft die islamistische „Ansar Eddine“, die von dem malischen Tuareg-Politiker Iyad ag Ghali geführt wird, aber Verbindungen zur „al-Qaida im Islamischen Maghreb“ (AQMI) haben soll.
Ein Kameramann, der den Einzug der Rebellen in Timbuktu am Montag früh miterlebte, berichtete gegenüber AFP, die Kämpfer von Ansar Eddine hätten die MNLA verjagt, „die MNLA-Fahne verbrannt und ihre eigene gehisst“.
Iyad ag Ghali habe eine Rede gehalten, wonach es ihm um den Islam gehe und nicht um die Unabhängigkeit. Eine mauretanische Nachrichtenagentur berichtete, AQMI habe die Militärkaserne von Timbuktu übernommen.
Die Soldaten, die in Malis Hauptstadt Bamako vor zwei Wochen putschten, stehen derweil isoliert da.
Trotz des Versprechens der Putschisten, die alte Verfassung wieder einzusetzen, setzten die Staatschefs der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) am Montagabend harte Strafmaßnahmen in Kraft. Mali stehe jetzt unter „totalem Embargo“, hieß es.
Malis Juntachef Amadou Sanogo erklärte daraufhin, man danke der Ecowas für ihr Interesse und stehe weiter für Gespräche zur Verfügung.
02.04.2012 | Ratlose Putschisten
Kommentar von Dominic Johnson
Malis Tuareg-Rebellen haben den Norden ihres Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Alle drei wichtigen Städte der Wüstenregion, in der sie ihren unabhängigen Tuareg-Staat Azawad ausrufen wollen, sind innerhalb weniger Tage an die Aufständischen gefallen.
Das ist eine logische Folge des Militärputsches in der malischen Hauptstadt Bamako am 21. März. Die Junta unter Kapitän Amadou Sanago, die den gewählten Präsidenten Amadou Toumani Touré stürzte, hatte ihren Staatsstreich damit begründet, man wolle sich nicht länger an der Front verheizen lassen. Kein Wunder, dass die Armee seit dem Putsch keine Lust zum Kämpfen mehr hatte. Es war schließlich das Überlaufen hochrangiger Militärs zu den Rebellen, das deren Triumph möglich machte.
Andererseits haben die Putschisten betont, sie wollten Malis Einheit retten, und Unterstützung gegen die Rebellen gefordert. Nun stehen sie selbst in der Situation, vor der sie Mali bewahren wollten: Das Land ist faktisch geteilt. Kein Wunder, dass die Putschisten jetzt ratlos sind. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand, denn sie haben Mali nichts anzubieten.
Dazu hat auch die eindeutige Positionierung der westafrikanischen Nachbarn beigetragen. Sie haben den Putsch umstandslos verurteilt und mit finanziellen und militärischen Maßnahmen gedroht. Es scheint, als hätten die Drohungen Früchte getragen. Die Putschisten sind dabei, klein beizugeben. Damit spricht jetzt alles dafür, dass es in Mali einen politischen Dialogprozess geben könnte – der dann natürlich auch die Tuareg-Rebellen einschließen müsste.
Diesen Prozess muss die Region mitgestalten, wenn sie es ernst meint. Dieselbe Entschlossenheit, mit der Westafrika die Putschisten zum Einlenken brachte, ist jetzt gefragt, wenn es um die Neuordnung Malis geht.
02.04.2012 | Malis Armee streckt die Waffen
Kidal, Gao, Timbuktu: Alle Städte im Norden Malis fallen an die Rebellen. Die bedrängten Putschisten in Bamako sagen die Rückkehr zur Verfassung zu. Von Dominic Johnson
BERLIN taz | Die Tuareg-Rebellen in Mali haben sich durchgesetzt. Innerhalb weniger Tage haben sie die drei großen Städte Nordmalis, das sie „Azawad“ nennen und in einen unabhängigen Staat verwandeln wollen, erobert. Nach Kidal am Freitag und Gao am Wochenende rückten die Kämpfer der „Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad“ (MNLA) am Sonntag und Montag auch in Timbuktu ein, der alten Universitätsstadt mit einmaligen bibliothekarischen Schätzen aus dem Mittelalter.
„Wir sind in Timbuktu und wir gehen weiter nach Süden“, erklärte ein Tuareg-Führer. Die Stadt sei kampflos gefallen, hieß es in Medienberichten. Nachdem die regulären Soldaten am Sonntag die Flucht ergriffen oder Zivilkleidung anzogen, habe eine lokale arabische Miliz die friedliche Übergabe ausgehandelt.
Die MNLA feierte bereits am Sonntag einen „beispiellosen Tag in der Geschichte des Volkes von Azawad, an dem die Würde zurückkehrt“, wie es in einer Erklärung hieß. Man werde jetzt Azawad als „Land der Freiheit, der Gerechtigkeit und des dauerhaften Friedens“ aufbauen. In einer weiteren Erklärung hieß es, man habe „die malische Besetzung beendet“.
Nach der MNLA kamen auch Kämpfer der islamistischen Rebellenarmee Ansar Eddine, die vom Tuareg-Politiker Iyad ag Ghali angeführt wird, nach Timbuktu. Ansar Eddine will anders als die MNLA das islamische Scharia-Recht einführen und soll Basen in Algerien haben.
Die Blitzoffensive der MNLA, die ihren Kampf Mitte Januar begonnen hatte, begann am Freitag mit der Einnahme der Stadt Kidal, Knotenpunkt des Transsaharahandels. Die Stadt fiel, nachdem Oberst Hadji ag Gamou, Kommandeur der Regierungstruppen der Region, sich mit anderen hohen Militärs der Rebellion anschloss. Er ist selbst Tuareg. Die MNLA zog nach Kidal ein, der Stadtkommandant und der Gouverneur wurden festgenommen.
Am Samstag rückten die Rebellen weiter nach Gao vor, wo der Generalstab der Armee in Nordmali seinen Sitz hat. Sie eroberten in der Nacht zum Sonntag beide Militärkasenen der Stadt – eine fiel an die MNLA, die andere an Islamisten.
Am Sonntag stießen die Rebellen dann nach Timbuktu vor. Auch hier stand zunächst die MNLA an der Front, gefolgt von Ansar Eddine. Ebenso wie zuvor in Gao gab es vereinzelte Plünderungen, besonders in Hotels mit Alkoholausschank, was die Islamisten ablehnen.
Rivalitäten zwischen Islamisten und MNLA zeichnen sich bereits ab. Die malische Zeitung L‘Indépendant berichtet, Oberst Gamou in Kidal habe sich der MNLA angeschlossen, um sich vor Ansar Eddine in Schutz zu bringen. Zu der Gruppe soll auch ein Sohn des traditionellen Führers von Kidal gehören.
Parallel zum Vormarsch der Rebellen stand Malis Militärregierung unter diplomatischem Druck. Unzufriedene Militärs hatten am 21. März in der Hauptstadt Bamako die gewählte Regierung gestürzt, weil sie ihr Unfähigkeit im Kampf gegen die Rebellen vorwarfen. Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) hatte den Putsch verurteilt und am Donnerstag abend ein 72stündiges Ultimatum gestellt, nach dessen Ablauf die Grenzen zu Mali geschlossen und das Land aus dem Währungsverbund des frankophonen Afrika ausgeschlossen werden sollte.
Über die Umsetzung dieser Maßnahmen sollte am Montag in Senegals Hauptstadt Dakar beraten werden, am Rande der Feierlichkeiten zur Amtseinführung des neugewählten senegalesischen Präsidenten Macky Sall. Die Beratungen begannen am Nachmittag direkt nach Ende der Zeremonie.
Doch die militärische Zuspitzung hat die Lage verändert. Am Samstag erklärte Malis Juntachef Kapitän Amadou Sanogo, er habe befohlen, die Kämpfe nicht zu „verlängern“. Am Sonntag verkündete er die Wiederherstellung der Verfassung und der gestürzten Institutionen „mit sofortiger Wirkung“. Doch „angesichts der Krise“ solle ein „Nationalkonvent“ aus allen politischen Kräften „Übergangsorgane“ gründen, um korrekte Wahlen zu ermöglichen, sagte Sanogo nach Gesprächen mit dem Ecowas-Vermittler, Burkina Fasos Außenminister Djibril Bassolé.
Es scheint, als sei der Putsch in Bamako faktisch vorbei. Bleibt der Krieg im Norden.
02.04.2012 | Timbuktu vollständig eingenommen
Die malischen Rebellen haben nach eigenen Angaben Timbuktu vollständig eingenommen. Einwohner berichten von vereinzelten Plünderungen in mehreren Stadtteilen
KAPSTADT/BAMAKO afp/dpa | Die Rebellen in Mali haben die Stadt Timbuktu nach eigenen Angaben vollständig eingenommen. Timbuktu und die ganze Region um die Stadt seien unter der Kontrolle der Aufständischen, erklärte die Nationale Befreiungsbewegung von Azawad (MNLA) am Sonntag im Internet. Nach Angaben von Einwohnern nahmen die Tuareg-Rebellen die Stadt ein, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen.
Augenzeugen berichteten am Telefon von vereinzelten Plünderungen vor allem in öffentlichen Gebäuden in mehreren Stadtteilen. Auch sollen sich die Kämpfer der Tuareg mit örtlichen Milizen verbündet haben. Timbuktu war die letzte Stadt im Nordosten Malis, die noch von der Armee gehalten wurde. Die historische Stadt mit ihren 50.000 Einwohnern steht auf der UNESCO-Weltkulturerbeliste.
Die Tuareg wollen den Norden Malis abtrennen. In dem Sahel-Land in Afrika hatten die Militärs vor zehn Tagen erfolgreich gegen den Präsidenten Amadou Toumani Touré geputscht. Sie hatten die Machtübernahme mit der angeblichen Unfähigkeit der Regierung begründet, die Tuareg-Rebellion im Norden des Landes zu beenden.
Die Tuareg bombardierten laut BBC in Timbuktu einen lokalen Militär-Stützpunkt, der aber bereits verlassen worden war. Timbuktu ist die letzte Stadt im Norden Malis, die bisher noch von den Streitkräften dominiert wurde.
Die Putschisten in Mali stehen unter einem großen Druck der Nachbarländer, die Macht wieder an eine zivile Regierung abzugeben. Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) hat den Militärs in Mali ein Ultimatum gestellt, bis Montag die Macht wieder abzugeben und die verfassungsmäßige Ordnung wieder herzustellen.
Sonst würden “diplomatische, wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen” eingeleitet, so die Regionalorganisation, zu der 15 westafrikanische Staaten gehören. Touré, der sich an einem unbekannten Ort in Mali versteckt, rief die Bürger im Rundfunk auf, für die Wiederherstellung der Demokratie zu kämpfen.
30.03.2012 | Genug ist genug“
Der Putsch war eine „Implosion des Regimes“, sagt Henner Papendieck, Gründer des Entwicklungsprogramms „Mali-Nord“. Dass die Soldaten selber regieren wollen, glaubt er nicht.Interview: Katrin Gänsler
taz: Am 21. März hat es in Mali einen Militärputsch gegeben. Kam das überraschend?
Henner Papendieck: Ich habe mich gefragt, ob die Putschisten am Morgen des 21. März schon wussten, ob sie am Abend putschen würden. Ich denke, es war eher die Implosion eines Regimes, das sich überlebt hatte. Auslöser war der Besuch des Verteidigungsministers am Vormittag in einer Kaserne. Er wollte die Soldaten in den Norden schicken, in das Kriegsgebiet, wo die Tuareg-Rebellenarmee MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad) auf dem Vormarsch ist. Viele von ihnen hatten das aber gerade erst erlebt und sagten: Genug ist genug. Wir haben keine Waffen und keine Munition. Wir haben keine Lust, Kanonenfutter zu werden.
Dabei haben doch die USA die malische Armee unterstützt, zum Kampf gegen Islamisten.
Ich erinnere mich, dass in Timbuktu Flugzeuge direkt aus Frankfurt ankamen. Es waren Spezialeinheiten, die mit der Armee Übungen zur Terrorismus-Bekämpfung machten. Aber wenn die Spezialkräfte ankamen, wo sie die Terroristen vermuteten, waren diese schon von Verwandten aus der Antiterroreinheit vorgewarnt worden. So hat man nicht viele gefunden.
Wer sind die Putschisten?
Das sind die einfachen Soldaten und die Unteroffiziere. Am Tag nach dem Putsch gab es den ersten Fernsehauftritt. Der war sehr unbeholfen. Ich hatte den Eindruck, selbst der Name „Nationalkomitee zur Aufrechterhaltung der Demokratie und zur Wiederherstellung des Staates (CNRDRE) war erst am Nachmittag festgelegt worden. Die konnten weder die Abkürzung noch den Namen richtig aussprechen. Das ist Mannschaftsniveau.
Könnte diese Gruppe nun Mali auch regieren?
Nein, das denke ich nicht. Sie wäre überfordert. Die Soldaten wollten nur, dass mit dem alten Regime Schluss ist. Der gestürzte Präsident Amadou Toumani Touré (ATT) hat ja am Ende nur noch Verzweiflungstaten begangen. So hat er einem Großhändler Geld gegeben, der damit Waffen und Munition kaufen sollte. Die sind offenbar nie angekommen. Es entstand der Eindruck, alle bereichern sich und die Soldaten werden geopfert. Wenn diese Gruppe sich zutraut, Mali zu regieren, bewiese das einen großen Mangel an Einsichtsfähigkeit. Ich glaube aber, Amadou Haya Sanogo (Präsident des Nationalkomitees) möchte eine Regierung der nationalen Einheit bilden und ehrliche Wahlen veranstalten.
Entscheidend ist auch, wie die Tuareg-Rebellion im Norden beendet werden kann.
Es muss zu einem Waffenstillstand kommen. Jetzt gibt es zumindest einen Verhandlungspartner ohne Scheuklappen. ATT hat immer geglaubt, die Ifoghas (Tuareg des Adrar) seien sein Hauptfeind, und hat alle gegen sie mobilisiert. Jetzt scheint mir das sehr viel neutraler. Die Leute des CNRDRE scheinen mir relativ nüchtern, und sie wollen ihre Soldaten nicht verheizen.
Die erste Tuareg-Rebellion hat es allerdings schon vor ATTs Amtszeit gegeben. Könnten die wirklichen Ursachen noch viel weiter zurückliegen?
Ja. Als die Unabhängigkeit kam, hatte Mali das französische Kolonialerbe eines Zentralstaats, der von einem klugen und starken Mann regiert werden soll. Stammeszugehörigkeiten sollten überwunden werden. Nomaden passten überhaupt nicht in dieses Konzept. Sie galten quasi als Landstreicher. Vielleicht muss man ganz neu über mögliche Autarkiemodelle und Autonomiemodelle nachdenken.
Wie sieht die Lage im Norden derzeit aus?
Der Norden ist dabei, an die Rebellen zu fallen. Die Stadt Kidal ist umstellt. Bei Gao und Timbuktu ist die Frage, ob die MNLA die Städte einnehmen will.
Haben die Putschisten Unterstützung, oder wächst jetzt doch zunehmend Kritik?
Ich habe Mali als ein verblüffend arrangierfreudiges Land kennengelernt. Menschen wechseln problemlos von heute auf morgen die Seite. Man schaut jetzt in Bamako, wie die Sache ausgeht, und meldet sich zwischenzeitlich schon einmal bei Herrn Sanogo, um zu signalisieren, man könne bei der Lösung vielleicht behilflich sein.
Wie könnte die internationale Gemeinschaft mit dem Putsch umgehen?
Sie kann nicht sagen: Die Putschisten haben die Macht, und wir brechen alle Gespräche ab. Man wird sich eine Hintertür offen lassen. Denn an Mali gibt es große Interessen. Wer will denn, dass die Tuareg-Rebellion völlig gewinnt? Dass al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) ungestört agieren kann? Vernünftig wäre es, wenn man eine Lösung bis Ende des Jahres anstrebte. Erst einmal hängt aber alles davon ab, was bei den Verhandlungen zwischen Nationalkomitee und den Rebellen herauskommt.
HENNER PAPENDIECK gründete 1994 das deutsche GTZ-Programm Mali-Nord zur Entwicklung und Dezentralisierung der Tuareg-Region. Er leitete es bis 2010. Die taz traf ihn in Bamako.
30.03.2012 |Die Drohungen nutzen nicht
Kommentar von Katrin Gänsler
Jetzt wird gedroht: Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas hat empfindliche Sanktionen gegenüber Mali angekündigt, falls die Putschisten nicht bis Sonntagabend ihre gerade gewonnene Macht wieder abgeben. Es sind deutliche Worte, die der politischen Entwicklung aber kein bisschen weiterhelfen.
Wenn die Drohungen wahr gemacht werden, könnte das Land erst richtig in eine Krise schlittern. Denn in einer Region, wo sich die Nahrungsmittel in den vergangenen Monaten massiv verknappt haben, wären geschlossene Grenzen – so lautet eine der möglichen Sanktionen – geradewegs die Katastrophe. Diese Ankündigungen schüren deshalb nur die Angst und den Zorn gegenüber der Ecowas, aber auch der ganzen internationalen Gemeinschaft.
Diese muss selbstredend einen Militärputsch erst einmal verurteilen. Gleichzeitig muss sie aber auch beachten, wie dieser im Land selbst wahrgenommen wird. Es gibt kritische Stimmen, trotzdem erfährt das Nationalkomitee der Putschisten weiterhin viel Unterstützung. Ebenso wichtig ist es zu begreifen, warum es zu dem Sturz des alten Präsidenten gekommen ist. Diese Mühe hat sich bisher niemand gemacht.
In Mali ist mithilfe der Putschisten ein System kollabiert, das nicht in der Lage war – oder schlimmer noch: kein Interesse hatte –, einen blutigen, aussichtslosen Kampf im Norden zu beenden. Diesem haben auch die Nachbarländer viel zu lange zugesehen, obwohl sie durch die Flüchtlingsströme selbst betroffen waren.
Das Nationalkomitee der Putschisten wirkt auch zehn Tage nach dem Umbruch oft hilflos und ohne klare Linie – das stimmt. Doch damit sollte die Ecowas umgehen können und weiterhin auf Gespräche statt auf Drohungen setzen.
30.03.2012 | Nachbarstaaten stellen Ultimatum
Wenn die Putschisten die Macht nicht bis Montag abgeben, drohen Sanktionen: Handel soll blockiert und Konten gesperrt werden. Tuareg-Rebellen erobern Stadt im Norden.
BAMAKO afp/taz | Die Lage für die Putschisten in Mali spitzt sich zu: Rund eine Woche nach dem Staatsstreich vom 21. März haben sechs Nachbarländer den Anführern ein Ultimatum gestellt. Sollte die Macht im Lande nicht innerhalb von 72 Stunden an eine zivile Regierung zurückgegeben und die verfassungsmäßige Ordnung wiederhergestellt werden, würden „diplomatische, wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen“ eingeleitet.
Das beschloss die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) am späten Donnerstagabend. Das Ultimatum werde am Montag auslaufen, erklärten die Präsidenten von Benin, Burkina Faso, der Elfenbeinküste, Niger und Nigeria.
Sie trafen sich in der ivorischen Hauptstadt Abidjan, nachdem eine Delegation westafrikanischer Staatschefs am Donnerstag mit dem Versuch gescheitert war, in die malische Hauptstadt Bamako zu fliegen, um dort politische Gespräche zu führen. Anhänger der Putschisten hatten den Flughafen von Bamako besetzt. Die aus Abidjan kommende Maschine der Präsidenten machte aus Sicherheitsgründen kehrt und flog nach Abidjan zurück.
Meuternde Soldaten hatten vor einer Woche die Regierung des Präsidenten Amadou Toumani Touré gestürzt. Sie begründeten den Putsch mit der Unfähigkeit der Regierung, die Rebellion der Tuareg im Norden zu beenden. Touré hält sich weiterhin in Mali auf, möglicherweise in der Hauptstadt Bamako.
Die Ecowas, zu der 15 westafrikanische Staaten gehören, drohte in Reaktion auf die gescheiterte Vermittlung, die Grenzen zu Mali zu schließen und den Handel zu blockieren. Zudem könnten die Konten Malis bei der Westafrikanischen Zentralbank eingefroren werden. Mali gehört zum Währungsraum des westafrikanischen CFA-Franc, der in den meisten Ländern der Region genutzt wird.
Ohne Zugang zum Zahlungssystem der in Senegal beheimatete westafrikanischen Zentralbank würde der Zahlungsverkehr in Mali zum Erliegen kommen. Viele westliche Geberländer haben ihre Hilfen für das arme Land nach dem Putsch bereits auf Eis gelegt und leisten nur noch die nötigste humanitäre Hilfe.Die UN-Mission in der Elfenbeinküste hat ihre Patrouillen an der Grenze zu Mali verstürkt.
Inmitten dieser politischen Zuspitzung rücken die Rebellen, die bereits große Teile des von der Sahara-Wüste bedeckten Nordens von Mali kontrollieren, weiter vor. Am Freitag vormittag nahmen sie die wichtige Stadt Kidal im Nordosten des Landes ein.
Die Armee habe keinen Widerstand geleistet, berichteten Augenzeugen gegenüber AFP. Die Rebellen hätten ihre Offensive am Donnerstag abend gestartet und am Morgen die beiden Militärlager der Stadt überrannt. “Sie rufen Allahu Akbar (Gott ist groß), und wir rufen Allahu Akbar zurück”, berichtete ein Augenzeuge.
Kidal war in den vergangenen Tagen bereits von den Kämpfern der Tuareg-Rebellenarmee MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad) und der islamistischen Bewgung “Ansar Dine” umzingelt worden. “Ansar Dine” wird von dem in Kidal geborenen Tuareg-Politiker Iyad ag Ghali geführt, der früher gemeinsam mit Malis Regierung Friedensverhandlungen mit Tuareg-Rebellen führte, jetzt aber selbst in den Aufstand getreten ist.
Während die MNLA für die Gründung eines eigenen Staates “Azawad” in Malis Nordhälfte kämpft, fordert “Ansar Dine” die Einführung des islamischen Scharia-Rechts und sol, Verbindungen zur islamistischen “al-Qaida im Islamischen Maghreb” (AQMI) unterhalten. Die AQMI hat Rückzugsgebiete nördlich von Kidal nahe der algerischen Grenze.
28.03.2012 | Jeder will schimpfen und fluchen
Westafrikanische Regerungen drohen, mit militärischen Mitteln gegen die Putschisten in Mali vorzugehen. In der Hauptstadt dagegen werden sie gefeiert. Von Katrin Gänsler
BAMAKO taz | Sobald einer der Demonstranten am Denkmal der Unabhängigkeit im Zentrum von Bamako Mikrofon und Kamera blitzen sieht, kommt er angerannt und fängt an zu brüllen. Es ist eine gewaltige Wut, die sich entlädt. „Vor 21 Jahren, am 26. März 1991, hatten wir gehofft, dass sich in unserem Land endlich eine Demokratie entwickelt“, sagt ein großer Mann im karierten Hemd.
Er spielt auf den historischen Umsturz an, den ausgerechnet der soeben gestürzte Präsident Amadou Toumani Touré (ATT) anführte. Dessen Putsch in Reaktion auf Massaker an Demonstranten durch die vorherige Diktatur beendete damals, vor 21 Jahren, eine grausame Militärherrschaft und brachte Mali eine Mehrparteiendemokratie.
„Aber schau dir unser Land doch an! Das ist doch in den vergangenen Jahren nicht demokratisch gewesen.“ Dann hält der Mann ein Blatt Papier in die Luft, auf dem steht: „Demonstration zur Unterstützung der malischen Armee und des CNRDRE“. CNRDRE ist das neu gegründete „Nationalkomitee zur Aufrechterhaltung der Demokratie und zur Wiederherstellung des Staates“: Die Militärjunta, die Mali regiert, seit meuternde Soldaten in der Nacht zum 22. März den Präsidentenpalast besetzten.
Der Demonstrant könnte ewig weitersprechen und das alte Regime verfluchen. Doch die übrigen Demonstranten, die eine Traube um ihn geformt haben, lassen ihn nicht. Jeder will schimpfen und seinem Hass auf den gestürzten Präsidenten Luft machen. Was währenddessen aus dem Lautsprecher dröhnt, nur hundert Meter von ihnen entfernt auf einem grünen Minibus, interessiert nicht. Doch die Lautsprecher scheppern so sehr, dass man ohnehin kaum verstehen kann, was die Unterstützer der Putschisten zu sagen haben.
„Endlich ist ATT weg!“, jubelt ein Demonstrant im blauen T-Shirt. Weg wäre ATT zwar auch, wenn es wie ursprünglich geplant Ende April Wahlen gegeben hätte. Der 63-jährige Präsident hatte angekündigt, nicht mehr anzutreten. „Aber wären die Wahlen überhaupt möglich gewesen? Du weißt schon, wie die Situation in Norden ist“, sagt ein dritter Demonstrant etwas leiser.
Er fängt an, darüber nachzudenken, was in der Nordhälfte Malis, die zwischen Mauretanien und Algerien tief in die Saharawüste hineinragt, passiert. Die Situation nördlich von Mopti spitzt sich zu. Die Tuareg-Rebellenarmee MNLA (Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad) breitet sich aus. Der Putsch letzte Woche erfolgte, weil viele Soldaten sich beim Kampf gegen die Rebellen im Stich gelassen fühlten. „Unsere Brüder dort oben leiden“, sagt der Mann.
Wichtig sei, dass das Nationalkomitee oder eine mögliche Übergangsregierung die Situation im Norden erst einmal in Griff bekommt, erklärt Ousmane Cissoko, Präsident der neu gegründeten Bewegung „Neue afrikanische Kraft“ (NFA). Sie hat am Mittwochmorgen ihre Anhänger zu der Kundgebung rund um das Unabhängigkeitsdenkmal mobilisiert. „Wir sind sehr glücklich, dass es zu diesem Putsch gekommen ist“, erklärt Cissoko, als die ersten Demonstranten wieder abziehen wollen. „Jetzt können wir uns auch vorstellen, dass es bald demokratische Wahlen gibt. Voraussetzung dafür ist natürlich politische Stabilität in Mali.“
Stabilität in Mali, aber anders, will auch die Regionalorganisation Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft). Auf einem eilig einberufenen Sondergipfel in der Elfenbeinküste entschieden die Mitgliedstaaten, Mali wegen des Putsches zu suspendieren. Gegen die Putschisten werden Sanktionen verhängt, das Land soll unverzüglich zur Demokratie zurückkehren. Gleichzeitig sollen Ecowas-Truppen bereitgehalten werden – „für den Fall, dass der CNRDRE die Beschlüsse nicht respektiert“.
Mitten in Bamako leert sich der Platz. Auch Oumar klemmt sein kleines Holzschild unter den Arm. Er ist stolz darauf, an der Demonstration teilgenommen zu haben. „Es geht um Mali“, sagt er. Und die Malier wüssten am besten, was gut für ihr Land ist. „Nicht etwa die Ecowas. Die hat so lange zugeschaut, was im Norden passiert, und jetzt will sie auf einmal Truppen schicken? Das ist doch lächerlich.“
25.03.2012 | An Machthabern wird erste Kritik laut
In der Hauptstadt Bamako ist das Militär kaum noch präsent. Allerorten wird spekuliert, wie es weitergehen könnte. Der Umsturz wird international verurteilt. Von Katrin Gänsler
BAMAKO taz | Vier Tage nach dem Militärputsch kehrt in Malis Hauptstadt Bamako langsam wieder Alltag ein. Die großen Geschäfte an den Hauptstraßen bleiben zwar weiterhin geschlossen, da die Angst vor möglichen Plünderungen noch zu groß ist. Aber die ersten Tankstellen sowie die kleinen Läden in den Seitenstraßen haben wieder geöffnet. Am Sonntagmorgen ist im Stadtzentrum auch vom Militär nicht mehr viel zu sehen. Ab und zu fahren Soldaten mit Gewehren auf Pick-ups vorbei.
Trotzdem wird überall darüber spekuliert, wie es nach dem Militärputsch weitergehen könnte. „Gut ist ein Putsch zwar nicht, aber jetzt sind wir endlich ATT los“, sagt etwa Amadou Traoré, der sich in einer kleinen Bar einen Kaffee gekauft hat und nun mit Freunden über die politische Entwicklung diskutiert.
ATT ist der gestürzte Präsidenten Amadou Toumani Touré, der in den vergangenen Monaten immer mehr an Glaubwürdigkeit verloren hat. Vor allem aber konnte oder wollte er die Tuareg-Rebellion im Norden nicht stoppen. Dort sind 200.000 Menschen auf der Flucht. Viele denken ähnlich wie der junge Mann. Doch das neue „Nationalkomitee zur Aufrechterhaltung der Demokratie und zur Wiederherstellung des Staates“ (CNRDRE), das unter Führung von Konaré gegründet wurde, steht immer mehr in der Kritik.
Die Afrikanische Union, die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft und die UNO haben den Putsch verurteilt. Laut Radio France Internationale sprachen sich 38 Oppositionsgruppen gegen das Nationalkomitee aus und forderten, die alte Verfassung wieder in Kraft zu setzen.
Auf die Seite der Putschisten steht weiterhin die Partei SADI (Afrikanische Solidarität für Demokratie und Unabhängigkeit) von Oumar Mariko, der als bedeutender Oppositionspolitiker gilt. Gemeinsam mit Verbündeten hat er die Bewegung des 22. März gegründet. Ziel sei es, nach dem Staatstreich zur Demokratie zurückzukehren.
Der Putsch des 22. März ist der erste seit mehr als 20 Jahren. Am 26. März 1991 stürzte der heute unbeliebte Expräsident Amadou Toumani Touré das damalige Regime und beendete die blutige Militärdiktatur. Ein Jahr später fanden demokratische Wahlen statt. Der Staatsstreich ist in Mali so wichtig, dass deshalb heute ein Feiertag ist.
23.03.2012 | Geputscht wird anderswo
Der Putsch könnte Bewegung in die Tuareg-Rebellion im Norden Malis bringen. Doch viele plagen andere Sorgen – die Hungerkrise geht weiter. Von Katrin Gänsler
So langsam wird es auch in anderen Teilen Malis das Thema schlechthin: Das Militär hat geputscht, und der gestürzte Präsident Amadou Toumani Touré – häufig wird er nur ATT genannt – soll sich irgendwo in Mali versteckt halten.
Am Donnerstagabend ließ Amadou Konaré, Führer des neu gebildeten Nationalkomitees in dem sich die Soldaten zusammen getan haben, verkünden: ATT geht es gut. Allerdings sagte er nicht, ob die Soldaten den 63-Jährigen bereits haben oder zumindest wissen, wo er sich befindet. Genau das heizt die Spekulationen in Mali kräftig an.
Auch in der kleinen Bar, die zur namenlosen Auberge in Sevare gehört und an der Straße gen Norden nach Timbuktu liegt. Auf beiden Seiten des Raumes stehen ein paar Holzstühle und Tische an der Wand. Das Neonlicht ist schwach und flackert ungemütlich. Über der Bar läuft der Fernseher.
Ein paar Männer stehen am Tresen und sind extra deshalb gekommen – und wegen der Nachrichten aus Bamako. Auch Paul Dolo hat sich gerade ein kleines Bier bestellt und schaut gebannt auf den Bildschirm, auf dem ein paar Soldaten zu sehen sind. Er schüttelt den Kopf. Einverstanden ist er nicht mit dem, was gerade in Bamako geschieht.
„So ein Putsch ist doch nie gut. So etwas richtet sich immer gegen Zivilisten, die mit der ganzen Sache nichts zu tun haben.“ Von Plünderungen habe er schon gehört und den Schusswechseln. Trotzdem beschreiben Augenzeugen die Lage mittlerweile wieder als einigermaßen ruhig. Verschiedenen Angaben zufolge hat es einen Toten und 40 Verletzte gegeben. Das Nationalkomitee hat eine Ausgangssperre verhängt und alle Grenzen dicht gemacht. Angst bereiten Dolo die Nachrichten jedoch nicht. „Bamako ist einfach weit weg. Hier wird uns schon nichts passieren“, sagt er und nimmt einen kräftigen Schluck.
Es hat ein bisschen gedauert, bis die Nachrichten überhaupt durchgesickert sind. Am Mittwochabend besetzten Soldaten den Präsidentenpalast, danach Staatsfernsehen und Staatsradio und erklärten den Sturz ATTs. Doch im Moment haben viele Menschen in der Region, die einst das beliebteste Touristenziel des Landes war, ganz andere Sorgen. In Wadouba, einem kleinen Dorf gut eine Autostunde von Bandiagara entfernt, steht Moussa Ouologeum in der Sonne.
Er ist ein hagerer Mann und der erste, der am Donnerstagmorgen seinen Sack Hirse entgegen nimmt. 7500 Cefa – gut elf Euro – bezahlt er dafür. Möglich macht es ein Projekt der Welthungerhilfe zur Bekämpfung der Nahrungsmittelkrise im Sahel. Alleine in Mali sind 1,8 der rund 14 Millionen Einwohner akut von den Ernteausfällen betroffen. Bis zur nächsten Ernte könnten es fünf Millionen Menschen sein. Moussa Ouologuem ist froh über diese Unterstützung.
„Wir sind 21 in meiner Familie“, sagt er und schaut sich den 50-Kilo-Sack Hirse an. Vermutlich wird dieser gerade einmal drei Tage lang reichen. Doch was passiert, wenn der Sack leer ist? Das ist seine große Sorge und nicht das, was gerade in Bamako geschieht. „Ich habe heute Morgen aus dem Radio erfahren. Aber äußern kann ich mich eigentlich nicht dazu“, sagt Moussa Ouologuem und packt seinen Sack auf den Eselkarren, den er sich mit einem Nachbarn teilt.
Für den Familienvater wird sich auch mit Putsch erst einmal nichts ändern. Trotzdem könnte er eine Art Befreiung sein. Der gestürzte Präsident ATT wäre zwar auch ohne die Machtübernahme durch die Soldaten so nur noch fünf Wochen an der Macht geblieben. Denn für den 29. April waren Präsidentschaftswahlen geplant. Nach zehn Jahren im Amt kündigte er vor einigen Monaten an, auf eine erneute Kandidatur zu verzichten.
Doch nun könnte endlich Bewegung in die Tuareg-Rebellion im Norden kommen, die als Auslöser für den Putsch gilt. Seit Mitte Januar die Rebellenarmee der Tuareg, die MNLA (Nationale Befreiungsbewegung Azawad), weite Teile des Nordens eingenommen. Mittlerweile sollen knapp 200.000 Menschen auf der Flucht sein. Angst bereitet auch der steigende Einfluss von AQMI, Al Qaida im Islamischen Maghreb.
Für die malische Armee ist es ein aussichtsloser Kampf gewesen, den die schlecht ausgerüsteten Soldaten letztendlich nicht mehr weiter kämpfen wollten. Unterstützung bekommen sie nun auch auf politischer Ebene. So befürwortet die Partei SADI (Afrikanische Solidarität für Demokratie und Unabhängigkeit) auf ihrer Homepage den Putsch.
Plötzlich mahnt die Kellnerin in der Auberge-Bar zur Eile. „Bitte, schnell austrinken“, ruft sie. Irgendein Gerücht von Soldaten in Sevare ist im Umlauf. Mehr weiß sie nicht, scheucht aber vorsichtshalber alle Kunden auf. Plötzlich ist der Putsch da.
22.03.2012 | Das Ende einer Musterdemokratie
Wegen des Konfliktes im Norden steht das politische System in Mali nach zwei Jahrzehnten wieder zur Disposition. Mehrere hundert-tausend Menschen sind auf der Flucht. Von Dominic Johnson
BERLIN taz | Mali galt jahrzehntelang als die Musterdemokratie Afrikas – und Amadou Toumani Touré (ATT) als afrikanischer Musterdemokrat. 1991 hatte er mitten in einem blutigen Volksaufstand die damalige Militärdiktatur gestürzt und einen friedlichen Übergang zur Demokratie organisiert.
Dabei wurde nicht Touré selbst Staatschef, sondern er übertrug die Macht an eine gewählte Zivilregierung – eine große Ausnahme in der Geschichte afrikanischer Demokratisierungen und ein Vorbild für andere Länder des Kontinents. Erst 2002, als ATT eigentlich schon als Elder Statesman galt, trat er selbst zu Wahlen an. Prompt wurde er gewählt und 2007 im Amt bestätigt.
Seine zweite fünfjährige Amtszeit soll demnächst enden, Ende April sollen in Mali Präsidentschaftswahlen stattfinden, bei denen ATT laut Verfassung kein weiteres Mal antreten durfte – was er, anders als beispielsweise sein Amtskollege Abdoulaye Wade im benachbarten Senegal, auch gar nicht versuchte.
In den letzten Monaten aber brachten bewaffnete Rebellen der aus Angehörigen des Nomadenvolks der Tuareg bestehenden Nationalbewegung zur Befreiung von Azawad (MNLA) sowie islamistische Kämpfer der al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) und ihrer Ableger fast die ganze Nordhälfte Malis unter Kontrolle. Dabei benutzen sie aus Libyen stammende Waffen des gestürzten Gaddafi-Regimes.
Die Armee Malis musste eine Garnison nach der anderen aufgeben. In der Nordhälfte des Landes, die die Tuareg „Azawad“ nennen, leben zwar nur 2 Prozent der Bevölkerung – aber der Prestigeverlust für den Staat ist enorm und das Unverständnis vieler Menschen im Süden Malis groß. Mehrere hunderttausend Menschen sind inner- und außerhalb des Landes auf der Flucht. Beide Kriegsparteien werfen sich gegenseitig Massaker am Gegner vor.
22.03.2012 | Soldaten übernehmen selbst
Soldaten in Mali haben genug von der Unfähigkeit des Staates, die Tuareg und Islamisten zu befrieden. Jetzt haben sie offenbar geputscht. Von Dominic Johnson
BERLIN taz | In Mali, wo Tuareg-Rebellen und bewaffnete Islamisten die Armee immer stärker in Bedrängnis bringen und Kämpfe viele Menschen in die Flucht treiben, haben unzufriedene Soldaten offenbar geputscht.
Nach heftigen Schusswechseln in der Hauptstadt Bamako am Mittwochabend und der Besetzung des Präsidentenpalasts trat am Donnerstagmorgen ein Leutnant namens Amadou Konaré umgeben von weiteren Uniformierten im Staatsfernsehen auf und verkündete, die Regierung von Präsident Amadou Toumani Touré sei gestürzt.
Ein „Nationalkomitee zur Aufrechterhaltung der Demokratie und zur Wiederherstellung des Staates“ (CNRDRE), geführt von Armeeleutnant Amadou Konaré, habe seine „Verantwortung wahrgenommen“ und die Macht übernommen, hieß es. Die Junta verhängte wenig später in einer zweiten Erklärung eine Ausgangssperre.
Das Schicksal des Präsidenten Touré war am frühen Morgen unklar. Außenminister Soumeylou Boubeye Maiga und andere Regierungsmitglieder waren in Haft, erklärten die Putschisten. Berichten zufolge befand sich der Präsident nicht im Palast, als dieser trotz heftiger Gegenwehr seitens der Präsidialgarde in der Nacht an die Meuterer fiel.
Die neue Junta erklärte, sie sei in Aktion getreten, weil die alte Regierung das Land nicht gegen bewaffnete Rebellen und Terroristen geschützt habe. Man wolle aber nicht selbst an der Macht bleiben, sondern eine Regierung der nationalen Einheit bilden. Die Verkündung des Putsches war eigentlich schon für den späten Mittwoch abend geplant, aber die Technik im Staatsfernsehen funktionierte zunächst nicht und die ganze Nacht blieb in Bamako völlig unklar, was eigentlich los war.
Bevor sie den Präsidentenpalast besetzten, liefen die Meuterer in Bamako schießend durch die Straßen und erklärten, sie wollten Waffen und Munition, um gegen die Rebellen kämpfen zu können. Man habe die Nase voll von der Unfähigkeit des Staates, hieß es.
Dass Malis Armee, der der Präsident entstammt, nicht in der Lage ist, das Staatsgebiet gegen ein paar Hundert Bewaffnete in der Tuareg-Rebellenarmee MNLA (Nationalbefreiung zur Befreiung von Azawad) und den Islamisten der al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) zu verteidigen, weckt bei ATTs Gegnern immer wieder den Verdacht, der Präsident selbst stütze die Revolte. Schon in vergangenen Jahren wurde Malis Präsident immer wieder von Algerien und Mauretanien beschuldigt, die Präsenz von AQMI-Kämpfern auf malischem Gebiet zu dulden.
„Die MNLA ist auf Anweisung des Präsidenten einmarschiert“, behauptet zum Beispiel in ihrer heutigen Ausgabe die malische Tageszeitung Le Matin. In einem Kommentar, der sich wie eine Vorlage zum Putsch liest, wirft das Blatt dem Präsidenten vor, sich mit der Rekrutierung von Arbeitslosen als Soldaten zu begnügen, die dann nicht vernünftig ausgebildet würden.
Es gebe nicht einmal genug Leute im Militär, die Autos fahren könnten, von Piloten ganz zu schweigen; von der Front aus könne man meist den Generalstab nicht telefonisch erreichen, und der Kampf gegen die Rebellen sei weitgehend die Sache einer Handvoll auf sich gestellter Offiziere. Aufgrund dieser Lage würden zunehmend lokale Selbstverteidigungsmilizen die Initiative ergreifen.
Tatsächlich haben Ausschreitungen gegen Tuareg im Süden Malis, Demonstrationen zorniger Angehöriger von Soldaten und die Flucht von knapp 200.000 Menschen inner- und außerhalb des Landes haben in den vergangenen Wochen immer wieder den Eindruck erzeugt, Mali stünde kurz vor dem Zusammenbruch.
Letzte Woche fiel die Garnisonsstadt Tessalit an die Rebellen. In der Stadt Gao demonstrierten daraufhin wütende Jugendliche gegen die „Teilung des Landes“. Am Montag gab die MNLA bekannt, 28 gewählte Amtsträger und hochrangige Soldaten hätten sich der Rebellion angeschlossen, weil sie „die Massaker der Armee an der friedlichen Bevölkerung von Azawad“ nicht mehr mit ansehen könnten. Sie veröffentlichte die Namensliste auf ihrer Webseite und sagte, viele weitere Namen würden folgen. Das erzeugte im Militär wohl den Eindruck, die Rebellion habe den Staat so weit infiltriert, dass man zum Handeln gezwungen sei.
14.02.2012 | Mit Hubschraubern gegen Rebellen
Die Regierung hat die Kontrolle über große Teile des von Wüste bedeckten Nordens Malis an eine Tuareg-Rebellenarmee verloren. Zehntausende sind auf der Flucht. Von Dominic Johnson
BERLIN taz | Mali rutscht immer tiefer in den Bürgerkrieg hinein. Im Abwehrkampf gegen die neue Rebellenarmee des Tuareg-Nomadenvolkes MNLA (Nationale Befreiungsbewegung Azawad) hat sich die Regierungsarmee offenbar aus dem gesamten wüstenhaften Norden des Landes zurückgezogen, bis auf die Stadt Kidal. Von dort aus sowie der Stadt Gao fliegt sie mit Kampfhubschraubern Luftangriffe auf MNLA-Stellungen an den Grenzen zu Algerien und Niger. Mehrere Dutzend Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein, berichten malische Medien.
Mitte Januar war die MNLA erstmals in Erscheinung getreten – als bewaffnete Gruppierung von Tuareg-Söldnern, die 2011 im libyschen Bürgerkrieg aufseiten des gestürzten Machthabers Muammar al-Gaddafi gekämpft hatten und dann mit ihren schweren Waffen in die Heimat zurückgekehrt waren.
In ihren Siedlungsgebieten im Norden Malis fanden sie die aus Algerien eingedrungene Islamistengrupper AQMI (Al-Qaida des Islamischen Maghreb) vor und sagten zunächst ihr den Kampf an.
Dies verwandelte sich dann in eine Kampfansage an den malischen Staat. Dieser überlasse die Bevölkerungen der Wüstengebiete sich selbst und der allgemeinen Unsicherheit der Sahara. Mehrere Orte an den Grenzen zu Niger und Mauretanien fielen kampflos an die Rebellen.
In der Garnisonstadt Aguelhoc in den Adrar-Bergen im Osten des Landes wurden bei der Einnahme durch die MNLA Ende Januar mehrere Dutzend Soldaten massakriert – angeblich unter Beteiligung islamistischer Kämpfer, obwohl die Tuareg-Rebellen jedes Bündnis mit den radikalen Islamisten dementieren.
Diese Übergriffe führten zu Protestdemonstrationen von Angehörigen der Regierungssoldaten und Pogromen gegen Tuareg sogar in der Hauptstadt Bamako. Das hat wiederum die MNLA in Tuareg-Augen legitimiert.
Vergangene Woche nahm die Tuareg-Rebellenarmee die Städte Tessalit und Tinzawaten ein, die an der einzigen Hauptstraße zwischen Mali und Algerien liegen, und schnitten damit den grenzüberschreitenden Verkehr ab. Die malische Armee eroberte zwar zugleich verlorene Gebiete an der Grenze zu Mauretanien zurück, aber der Eindruck blieb, dass Malis Regierung im Begriff sei, die Kontrolle zu verlieren.
Die Fronten scheinen verhärtet. Die MNLA spricht von einem “Genozid” an den Tuareg und wirft der Regierung vor, friedliche Nomaden samt ihren Kamelherden mit von “ukrainischen Söldnern” gesteuerten Kampfhubschraubern zu massakrieren.
In Malis Hauptstadt Bamako wiederum wird heftig politisch gestritten. Parteigänger des Präsidenten Amadou Toumani Touré (ATT), der nach zwei gewählten Amtszeiten nicht erneut bei den für April geplanten Wahlen antreten wird, sprechen von einer gezielten Destabilisierung. Oppositionelle hingegen werfen dem Präsidenten vor, jetzt die Früchte seiner Vernachlässigung der Sicherheitskräfte zu ernten.
Beide Sichtweisen haben gemein, dass sie die Tuareg nicht als Akteure mit eigenen Interessen wahrnehmen, sondern nur als Spielball anderer Interessen. Die meisten in Mali lebenden Tuareg, die sich nicht der Rebellion angeschlossen haben, sind derweil nach Mauretanien oder Burkina Faso geflohen.
Malis Regierung streckt nun die Fühler in Richtung Friedensgespräche aus. Am Montag sprach der Präsident in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou mit seinem Amtskollegen Blaise Compaoré.
In Ouagadougou soll die MNLA-Führung leben sowie nach offiziellen Angaben 72 geflohene Regierungssoldaten aus Mali, darunter ein Gendarmeriekommandeur, der sich jetzt regelmäßig als ein Sprecher der Tuareg-Rebellen zu Wort meldet.
Burkina Faso, bereits von 2005 bis 2011 Schirmherr eines Friedensprozesses beim südlichen Nachbarn Elfenbeinküste, könnte nun eine ähnliche Rolle beim nördlichen Nachbarn Mali spielen.
02.02.2012 | Mit Knüppeln gegen die Tuareg
Nach Niederlagen der Armee gegen Rebellen in der Wüste kommt es zu schweren Ausschreitungen. Augenzeugen berichten von regelrechten Pogromen. Von Dominic Johnson
BERLIN taz | “Wir sind die letzten Tuareg und Araber in Bamako”, schreibt am Donnerstag ein Bewohner der malischen Hauptstadt. “Es sind ungefähr dreißig. Ich weiß nicht, ob wir hier rauskommen.” Ein Akademiker berichtet: “Alles, was wir gemeinsam wieder aufgebaut haben, ist dabei, in Stücke zu zerfallen. Ich bin in Niamey (Hauptstadt des Nachbarlandes Niger) mit der Familie. Die Angehörigen sind schon über die Grenze nach Mauretanien gegangen.”
Regelrechte Pogrome, so Berichte von Augenzeugen, die der taz vorliegen, sind in Mali gegen die Angehörigen der Tuareg-Minderheit im Gange. In der Garnisonsstadt Kati 15 Kilometer außerhalb der Hauptstadt Bamako wurden am Mittwoch Häuser angezündet, in denen Tuareg leben, darunter eine Apotheke.
Unter den Opfern der Übergriffe sei auch Malis ehemalige Handwerksministerin Zakietou Walet Halatine und der Schriftsteller Ibrahim Ag Youssouf. Ihr Haus sei angezündet worden, berichtet die Tuareg-Webseite “Toumast”. Gestern wurde die Ausweitung der Unruhen auf Bamako erwartet. Jugendliche hätten sich mit Knüppeln und Macheten versammelt, berichteten die Augenzeugen. Zahlreiche Tuareg sind bereits auf der Flucht.
Urheber der Ausschreitungen sind Angehörige von Regierungstruppen, die in den letzten Wochen von der neuen Tuareg-Rebellenarmee MNLA (Nationale Befreiungsfront Azawad) angegriffen worden waren. Die MNLA, die auch von ehemaligen Gaddafi-Söldnern und radikalen Islamisten unterstützt werden soll, hat in den vergangenen Wochen mehrere Städte nahe Malis Grenzen zu Niger und Mauretanien überrannt und zahlreiche Soldaten getötet.
Wütende Ehefrauen von Soldaten gingen jetzt auf die Straße. Einerseits warfen sie der Regierung vor, die Truppe im Stich zu lassen, und andererseits den Angehörigen nordmalischer Minderheiten, mit den Rebellen unter einer Decke zu stecken. Ursprünglich wollten sie von Kati bis Bamako marschieren und vor dem Präsidentenpalast demonstrieren. Dann hielt die Armee sie auf, und die Protestierenden verübten Gewalt.
Die MNLA sagt ihrerseits, die Regierung tue nichts zum Schutz der Tuareg. Die jüngsten Pogrome seien “von der politischen Klasse in Bamako orchestriert, um die Öffentlichkeit von der Unfähigkeit der Machthaber abzulenken”, erklärte die Rebellenbewegung am Mittwoch.
Staatspräsident Amadou Tounamin Touré hat zu einem Ende der Gewalt aufgerufen. “Verwechselt nicht friedliche Bürger mit Menschen, die sich ins Abseits gestellt haben”, sagte er in einer Ansprache am Mittwochabend. Die Rebellen wollten Malis nationale Einheit zerstören. Niemand solle dem Vorschub leisten.
27.01.2012 | Gaddafis Waffen überall
In Mali rebellieren die Tuareg, in Nigeria bomben Islamisten. Die Schockwellen des Libyenkonflikts haben sich auf halb Westafrika ausgeweitet. von Dominic Johnson
BERLIN taz | Als die malischen Regierungstruppen am Mittwoch früh in den kleinen Ort Aguelhok vordrangen, machten sie eine makabre Entdeckung: In der verlassenen Militärkaserne befand sich ein Massengrab, darin lagen die Leichen von 41 Soldaten.
Die Tuaregkämpfer der Rebellenbewegung MNLA (Nationale Befreiungsbewegung von Azawad) hatten sich in der Nacht aus dem Ort zurückgezogen, den sie einen Tag lang besetzt gehalten hatten, und eine blutige Botschaft hinterlassen. Dann besetzten sie Anderamboukane, ein Dorf nahe der Grenze zu Niger. Die Armeegarnison dort ergriff kampflos die Flucht. So wie am selben Tag in Léré, am anderen Ende von Mali an der Grenze zu Mauretanien. Die Rückzüge seien “taktisch”, behauptete ein Militärsprecher.
Die MNLA ist die jüngste der immer zahlreicheren bewaffneten Gruppen, die Westafrikas Sahelzone von Mauretanien über Mali bis Niger und den Norden Nigerias unsicher machen. Sie kämpft nach eigenen Angaben für einen eigenen Staat “Azawad” des Wüstenvolks der Tuareg.
In Erscheinung trat sie zuerst am 17. Januar mit einem Angriff auf die Stadt Menaka – dort, wo 1990 erstmals Tuareg rebellierten. Damals wurden sie von Libyens Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi unterstützt. Heute sind Malis Tuaregrebellen größtenteils Heimkehrer aus dem libyschen Bürgerkrieg, in dem sie für Gaddafi kämpften.
Die Schockwellen des Libyenkonflikts haben sich auf halb Westafrika ausgeweitet. Viele Waffen aus Gaddafis Rüstungsarsenalen, davon sind die Regierungen der Region überzeugt, gelangten zu den islamistischen Gruppen Boko Haram im Norden Nigerias und Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) im Norden Malis und angrenzenden Teilen Mauretaniens, Algeriens und Nigers.
Dass Boko Haram in Nigeria zu Weihnachten 2011 seine bisher blutigste Anschlagsserie begann, mit weit über 200 Todesopfern, hängt möglicherweise mit dem Erwerb moderner Waffen aus Libyen zusammen, berichtete eine UN-Kommission am Donnerstag dem UN-Sicherheitsrat in New York.
“Boko Haram hat Verbindungen zu AQMI geknüpft, und manche Mitglieder erhielten im Sommer 2011 Ausbildung in AQMI-Lagern in Mali”, steht im Bericht der UN-Kommission, der dem Rat vorgelegt wurde. Waffenbestände aus Gaddafis Arsenalen “sind vermutlich in der Wüste versteckt und können an AQMI, Boko Haram oder andere kriminelle Vereinigungen verkauft werden”.
Erschwerend komme hinzu, dass die Länder der Sahelregion über 420.000 Rückkehrer aus Libyen aufnehmen müssten, zumeist junge Männer ohne Arbeit und Perspektive, und es keinerlei finanzielle Unterstützung für sie gebe. Kein Wunder, dass neuerdings gemeldet wird, Boko Haram rekrutiere in Niger und Tschad. Und AQMI arbeitet auch mit den aus Libyen nach Mali zurückgekehrten Tuaregkämpfern zusammen, berichten Augenzeugen in Orten, wo die MNLA angegriffen hat.
Im Sahel gebe es “4.000 Exkämpfer im freien Feld, die sich AQMI andienen könnten”, warnte der einstige Tuaregrebellenchef Kaocen Maiga aus Niger diese Woche auf einer Sicherheitskonferenz in Mauretanien. Auf einer anderen Konferenz in Marokko hieß es, Grenzpolizisten in Ländern wie Mali oder Niger verdienten umgerechnet 400 Euro im Jahr und seien daher leicht zu kaufen, damit sie ein Auge zudrücken.
27.11.2011 | Wüstenterroristen töten Touristen
In Timbuktu wurde ein Deutscher erschossen und weitere Touristen mitten in der Stadt entführt. Seitdem herrscht Rätselraten über al-Qaida sowie bewaffnete Tuareg-Kämpfer
TIMBUKTU afp/dpa/taz | Nach der Ermordung eines Deutschen bei einer Entführung in Timbuktu sind alle ausländischen Touristen aus der historischen Stadt in Mali ausgeflogen worden. Die rund 20 noch verbliebenen Urlauber wurden bis Samstagabend in einem von Malis Regierung gecharterten Flugzeug nach Mopti sowie in die Hauptstadt Bamako gebracht.
Am Freitag waren ein deutscher Tourist getötet und drei weitere Weiße – ein Schwede, ein Niederländer und ein Britisch-Südafrikaner – verschleppt worden. Bewaffnete Angreifer hatten in einem Restaurant am zentralen Platz von Timbuktu die vier Ausländer entführen wollen. Dabei habe der Deutsche Widerstand geleistet und sei getötet worden, sagte ein Mitarbeiter der Regionalverwaltung.
Die Niederlande gaben am Samstag eine Reisewarnung für den gesamten Norden Malis aus. Frankreich weitete seine bestehende Reisewarnung auf den ganzen Norden einschließlich der rund 200 Kilometer südlich von Timbuktu gelegenen Ortschaft Hombori aus. In der Nacht zum Donnerstag waren in Hombori zwei französische Geologen von Bewaffneten aus ihrem Hotel entführt worden. Die Entführung trug die Handschrift der al-Qaida im islamischen Maghreb (AQMI), die im Norden Malis zahlreiche Operationsbasen hat.
Mit den Entführungen von Donnerstag und Freitag befinden sich derzeit neun Ausländer in der Sahelzone in der Gewalt von Entführern. Fünf französische Militärhubschrauber landeten am Samstag in der Stadt Gao und setzten eine unbekannte Anzahl französischer Soldaten ab, um Malis Armee bei der Jagd auf die Entführer zu helfen.
Hinter den jüngsten Entführungen könnte eine neue Terrorgruppe stehen, berichtete am Sonntag die französische Zeitung Le Journal du Dimanche. Die neue Terrorgruppe werde demnach von dem ehemaligen malischen Diplomaten und Unterhändler des Präsidenten, Iyad Ag Ghali, geführt, hieß es. Ag Ghali führte in den 1990er Jahren Tuareg-Rebellen in Mali, arbeitete dann aber im Rahmen eines Friedensprozesses mit der Regierung zusammen und war bereits 2003 als Vermittler bei einer Touristenentführung tätig.
Bei der Gründung seiner bewaffneten Gruppe habe Ag Ghali von der Rückkehr von Tuareg-Kämpfern aus Libyen profitiert. Laut Journal du Dimanche stehe die Gruppe AQMI nahe, vorherige Berichte hatten die bewaffneten Tuareg im Norden Malis aber eher als Gegner der bewaffneten Islamisten gesehen. D.J.