Frankreich: Nach neun Monaten Streik: Wichtiger (Teil)Erfolg der "papierlosen Arbeiter"
Voraussichtlich 6.000 Lohnabhängige ohne Aufenthaltstitel sollen „legalisiert“ werden
Von Bernhard Schmid (Paris)
Der seit dem 12. Oktober 2009 andauernde Streik der ,travailleurs sans papiers' (ungefähr: „Arbeitnehmer/Lohnabhängige ohne Papiere“, d.h. ohne Aufenthaltstitel) im Raum Paris dürfte kurz vor dem Ende stehen. Er endete mit einem wichtigen Erfolg oder jedenfalls Teilerfolg für die Streikbewegung, die von einem Kollektiv aus elf Gewerkschaften und NGOs – dazu zählten die beiden gewerkschaftlichen Dachverbände CGT und CFDT, weitere Gewerkschaftszusammenschlüsse (Solidaires, UNSA, den Verband der Bildungsgewerkschaften FSU), die „Liga für Menschenrechte“, das „Netzwerk Bildung ohne Grenzen“/RESF u.a. – unterstützt worden war.
Hauptgegenstand der Streikbewegung war es, die „Legalisierung“ der Aufenthaltssituation der Betroffenen zu fordern. An dem Arbeitskampf hatten insgesamt 6.250 lohnabhängige Einwanderer teilgenommen; er sollte Druck vor allem auf die Staatsmacht ausüben, vermittelt über die Arbeitgeber, die (als direkte „Ansprechpartner“ oder Gegenüber der Streikbewegung) ihrerseits Aufenthaltstitel für ihre Beschäftigten bei den Behörden einfordern sollten.
In den letzten Monaten war die Streikbeteiligung – hinter den Kulissen – jedoch erheblich abgebröckelt, und de facto waren nur noch einige hundert Personen real am Streik beteiligt. Viele andere Streikteilnehmer arbeiteten unteressen (parallel dazu) faktisch wieder, nur andernorts als dort, wo sie als Streikende gezählt wurden. Dies war im Laufe der Monat absolut unvermeidlich geworden, da die Betreffenden und ihre Familien nicht einfach verhungern oder von Almosen leben konnten. Im Übrigen war es viel schwieriger, diesen – seit Herbst andauernden – Streik erfolgreich durchzustehen, als den vorherigen Ausstand von rund 600 „Arbeitenden ohne Papiere“ im April/Mai 2008: Jener hatte damals als „spektakulär“ gegolten, zumal er „prestigereiche“ Arbeitgeber wie etwa die Küchen von Nobelrestaurants und Hotels traf, und war durch eine breite Medienberichterstattung begleitet worden. Nichts oder fast nichts dergleichen war in den letzten Monaten zu verzeichnen, und in den Medien herrschte ein weitgehender „Black-out“ zum Thema, vielleicht auch (aber nicht nur) weil ihnen der Charakter des „Spektakulären“ und „Neuen“ fehlte.
Dennoch konnten im Raum Paris bis zum Schluss noch Streikposten vor 25 Betrieben und Arbeitsstätten aufrecht erhalten werden. Um der Falle einer zunehmenden Isolierung und eines deprimierenden Abbröckelns zu entrinnen, hatte die Sans papiers-Bewegung in den letzten Wochen einige Aufsehen erregende Initiativen ergriffen. Parallel zum Fußmarsch einer Gruppe von Sans papiers (der nicht aus dem gewerkschaftlichen Spektrum, sondern aus einem durch Sans papiers besetzten Gebäude im Pariser Norden organisiert worden war) von Paris nach Nizza, vom 1. bis zum 31. Mai, lancierte die Sans papiers-Streikbewegung Ende Mai eine Besetzung des Vorplatzes der Pariser Oper am Bastille-Platz. Dort ließen sie sich ab dem 27. Mai auf den berühmten Stufen der Bastille-Oper nieder und harrten, unterstützt u.a. durch die CGT, wochenlang dort aus. Am frühen Morgen des 1. Juni wurden mehrere hundert Menschen durch die Polizei geräumt – und 48 von ihnen für einige Stunden in polizeilichen Gewahrsam genommen, doch unter erheblichem Druck der Solidaritätsbewegung kamen alle nach einigen Stunden wieder frei. Aber schon am darauffolgenden Abend waren die Besetzer auf dem Vorplatz der Oper wieder zurück. [1] Dort blieben sie noch bis am Abend des Freitag, den 18. Juni, an dem sie „zufrieden mit den erzielten Fortschritten“ das Ende ihrer Besetzung bekannt gaben. [2]
Am selben Tag (18. Juni 10) gab das Ministerium „für Einwanderung, Integration und nationale Identität“ unter Eric Besson anlässlich eines (seit längerem anberaumten) Treffens mit den Gewerkschaften einen Text bekannt. Dieser soll in naher Zukunft die ,Circulaire', d.h. das ministerielle Rundschreiben an die Präfekturen (Polizei- und Ausländerbehörden in den Départements), vom 24. November 2009 – das damals die erste vorläufige Antwort des Ministeriums auf die Streikbewegung bildete, „ergänzen“. Noch sind manche konkreten Modalitäten seiner Umsetzung unbekannt, doch die Grundsätze der neuen Richtlinien sind seit jenem Freitag bekannt. Am Dienstag, den 22. Juni sprachen die elf Unterstützerorganisationen deswegen in einer gemeinsamen Erklärung von einem „beträchtlichen Fortschritt“. Auch wenn sie einige Reserven anmeldeten.
Der offiziell genannten Grund für die „Ergänzung“ der ministeriellen Anordnung vom November 2009 ist, dass diese zu einer „uneinheitlichen Anwendung/Auslegung“ durch die jeweiligen Präfekturen geführt habe. Tatsächlich waren die örtlichen Praktiken mitunter von Willkür oder behördlichen Blockadehaltungen geprägt. Das „Rundschreiben“ vom November 09 sah insbesondere vor, dass jene Lohnabhängigen „ohne Papiere“ ein Anrecht auf einen Aufenthaltstitel erhalten sollten, die folgende Kriterien erfüllten:
- mindestens fünf Jahre nachgewiesenen Aufenthalts auf französischem Boden,
- und mindestens ein Jahr nachgewiesener Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber.
Dieses Herangehen sollte dem ökonomischen Interesse französischer Arbeitgeber, die (für spezielle Tätigkeiten, besonders aufgrund der „angebotenen“ schlechten Arbeitsbedingungen) keine anderen als „ausländische“ Arbeitskräfte finden, Genüge tun. Zugleich sollte das Kriterium des nachgewiesenen, vergangenen Aufenthalts in Frankreich seit mindestens fünf Jahren jegliche „Sogwirkung“ für neue Zuwanderung – so die Vorstellung im Ministerium – unterbinden.
Doch blieben davon jene Lohnabhängigen, die nicht durch Lohnzettel eine lückenlose Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber seit mindestens einem Jahr nachweisen konnten, ausgeschlossen. Ebenso blieb die Situation jener Einwanderer, die entweder als Leiharbeiter(innen) oder aus anderen Gründen – etwa im Sektor der „personenbezogenen Dienstleistungen“, bei der Betreuung von Kindern mehrerer Familien oder als Putzfrau/Putzmann in mehreren Haushalten – bei verschiedenen Arbeitgebern (gleichzeitig oder nacheinander) beschäftigt waren, nahezu unlösbar.
Auf diese offenen Fragen soll der neue Text nun eine Antwort liefern und den aufgezeigten Problemen, begrenzte, Abhilfe verschaffen. So wird die Situation jener Lohnabhängigen, die mehrere Arbeitgeber haben (z.Bsp. in mehreren Haushalten putzen, ihre Kinder betreuen…), Berücksichtigung finden: Es ist künftig allein erforderlich, durch das Zusammenzählen mehrerer Beschäftigungsverhältnisse insgesamt auf den gesetzlichen Mindestlohn SMIC – derzeit rund 1.050 Euro pro Monat – zu kommen. (Um zu verhindern, dass durch die „Legalisierung“ von Personen, die geringfügiger verdienen, Ansprüche auf Sozialhilfe entstehen können.)
Auch bspw. die Leiharbeit wird berücksichtigt. Erforderlich ist es künftig, um „legalisiert“ werden zu können, mindestens 12 Monate im Laufe der letzten 18 Kalendermonate einer nachgewiesenen Lohnarbeit nachgegangen zu sein (davon 6 Monate im Laufe der letzten 12 Kalendermonate). Und für Leiharbeiter/innen wird die Bemessungsfrist auf zwei Jahre angehoben – sie müssen mindestens 12 Monate während der letzten 24 Kalendermonate nachgewiesen beschäftigt gewesen sein.
Berücksichtigt werden ausschließlich die personenbezogenen Dossiers, die zwischen dem 1. Juli 2010 und dem 31. März 2011 bei den Präfekturen eingereicht werden. Am besten möglichst mit gewerkschaftlicher Unterstützung und/oder Bereitwilligkeit des Arbeitgebers, eine solche „Legalisierungs“bemühung „seiner“ abhängig Beschäftigten zu unterstützen. Alle Vierteljahre soll, vom Ministerium gemeinsam mit den beteiligten Gewerkschaften, eine Bilanz der Ausführung dieser Bestimmungen gezogen werden.
Immigrationsminister Eric Besson hat öffentlich angegeben, er rechne mit circa 6.000 Legalisierungs-Anträgen, denen stattgegeben werden (eine Zahl der voraussichtlichen Ablehnungen nannte er nicht). Gewerkschaftliche Quellen vermuten, dass wohl mindestens 70 % – möglicherweise sind es aber auch erheblich mehr – der bislang Streikenden diese Anforderungen erfüllen können. Umstritten ist unterdessen noch, ob in das künftige Ergänzungs-Rundschreiben aus dem Ministerium auch (wie anscheinend geplant) das Kriterium der fünf Jahre nachgewiesenen Aufenthalts in Frankreich zusätzlich aufgenommen wird. Die elf Unterstützerorganisationen verwahrten sich auf der Pressekonferenz gegen eine solche zusätzliche Erschwernis.
Es gibt aber auf jeden Fall eine Kehrseite der Medaille: Während das Ministerium auf dieser Seite teilweise nachgibt und einigen Ballast abwirft, bereitet es bereits die nächste Runde einer erheblichen Verschärfung der Ausländergesetze vor. Dazu liegt ein Entwurf aus dem Hause Besson vom 30. März vor, der voraussichtlich ab circa 20. September in die parlamentarischen Beratungen kommt. Er enthält u.a. die Umsetzung von drei EU-Richtlinien (darunter die berüchtigte Abschiebe-Richtlinie von 2008) in französisches Recht, geht aber an einigen Punkten erheblich darüber hinaus. Gegenstand des Entwurfs sind u.a. die Verlängerung der Abschiebehaftdauer, die Verschiebung der Einschaltung eines Haftprüfungsrichters für Abschiebekandidaten – bisher nach maximal 48 Stunden, künftig demnach nach fünf Tagen, während derer ein Abschiebeversuch unternommen werden kann – und die Einführung eines fünfjährigen Einreise- und Aufenthaltsverbots in der gesamten EU für einmal Abgeschobene.
1) Vgl. auch http://abonnes.lemonde.fr/societe/article/2010/06/04
2) Vgl. auch http://abonnes.lemonde.fr/societe/article/2010/06/19
Quelle: Express 8/2010