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Italien: Aus dem Schatten treten

Hohe Beteiligung am »Tag ohne MigrantInnen« in Norditalien

Für den 1. März hatte das Koordinierungskomitee migrantischer ArbeiterInnen italienweit zum Streik aufgerufen. Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen am »Tag ohne MigrantInnen« sollten – ähnlich wie 2006 in den USA – deutlich machen, dass und wie sehr der moderne Kapitalismus auf prekarisierte, oft von MigrantInnen ohne Papiere geleistete Arbeit angewiesen ist. Skeptische Stimmen gab es genug – umso beeindruckender sind erste Berichte über die Beteiligung: Mehrere 10000 Menschen, darunter viele Frauen und Junge, waren – ob mit oder ohne Papiere – auf der Straße; in Bologna wurden vier, in Brescia 50 Betriebe bestreikt und die Produktion lahmgelegt. Wir dokumentieren die Übersetzung des Thesenpapiers, das das Koordinierungskomitee zum 1. März vorbereitet hatte:

1. In Italien wie in ganz Europa stellen MigrantInnen nicht nur in zunehmendem Maße einen bedeutenden Teil der Arbeitskräfte dar – und zwar sowohl numerisch als auch in Bezug auf die Produktion. MigrantInnen sind darüber hinaus auch, wie alle ArbeiterInnen, Teil der Kämpfe und der Streiks zur Verteidigung der ArbeitnehmerInnenrechte. Kein Arbeitskampf kann heute darauf verzichten, der zentralen Bedeutung migrantischer Arbeit Rechnung zu tragen.

2. Die Zuwanderungsgesetzgebung ist daher ein bedeutender Teil der Arbeitsgesetzgebung. Das vom Turco-Napolitano-Gesetz schon vorbereitete Bossi-Fini-Gesetz1 bindet die Aufenthaltsgenehmigung an den Arbeitsvertrag. So schafft es – neben den unzähligen Formen im Vertrag angelegter Prekarisierung – ArbeiterInnen, die erpresst werden können, weil auch ihr Bleiberecht ein prekäres ist: Wer gefeuert wird, verliert auch ihre bzw. seine Aufenthaltsgenehmigung. Auf diese Weise hat das Bossi-Fini-Gesetz die gesamte ArbeiterInnenschaft geschwächt.

3. Das sogenannte »pacchetto sicurezza« (Sicherheitsgesetz) ist, ähnlich wie das Bossi-Fini-Gesetz, eine Reaktion der Regierung, mit der sie die ArbeiterInnen zwingt, für die Krise zu zahlen. Der institutionelle Rassismus, dessen Ausdruck dieses Gesetz ist, und die Illegalität, die es schafft, setzt MigrantInnen noch offensiver als zuvor jeglicher Form der Erpressung aus.

4. Die Krise trifft alle, sie unterscheidet nicht nach Hautfarbe. Sowohl MigrantInnen als auch heimische ArbeitnehmerInnen zahlen den Preis. MigrantInnen sind jedoch nicht nur von jeder Form von Sozialversicherung ausgeschlossen, sie können auch ausgewiesen werden. Zugleich spaltet der institutionelle Rassismus die ArbeiterInnen, indem er die einen davon überzeugt, dass er sie schützt, weil er die anderen sowohl von der Arbeit als auch des Landes verweist (währenddessen exportieren die Damen und Herren ihr Kapital, um anderswo migrantische Arbeit auszubeuten).

5. Die Centri di identificazione ed espulsione (wörtlich: Identifikations- und Abschiebezentren; ehemals Abschiebegefängnisse – CPTs) fungieren als »Sicherheitsventil« für den Arbeitsmarkt. Wenn die Nachfrage sinkt, wird die darüber hinausgehende migrantische ArbeiterInnenschaft illegalisiert (denn gefeuert zu werden bedeutet, illegal zu werden) und ausgewiesen. Die zunehmende Dauer der Inhaftierung lässt sich mit der Krise erklären: MigrantInnen werden mittlerweile bis zu sechs Monate innerhalb des Landes »ausgewiesen«, bevor sie außerhalb der Landesgrenze abgeschoben werden.

6. Diese Gesetze bekämpfen Illegalität nicht, sie schaffen sie. Die, die ihre Arbeit verlieren, verlieren auch ihre Aufenthaltsgenehmigung. Selbst MigrantInnen, die das Aufenthaltsrecht haben, befinden sich in einem Zustand zwischen Legalität und Illegalität, weil es so lange dauert, bis ihre Papiere verlängert werden. Auf diese Weise nimmt das Ausmaß informeller, jeglicher vertraglicher oder rechtlicher Garantien beraubter Arbeit zu. Informelle migrantische Arbeit stellt das Modell für die zunehmende Informalisierung der Arbeit insgesamt dar, denn jeden Tag wird mehr Arbeit einzig und allein durch das Machtverhältnis zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen geregelt. Aus diesem Grund werden die meisten Ausweisungen nicht vollzogen, Ausweisungen sind viel eher ein Instrument, um MigrantInnen zu erpressen.

7. Die Arbeit migrantischer Frauen in den Haushalten und in der Pflege ist der Moment, an dem dieser Prozess am offensichtlichsten wird. Hier zeigt sich, dass das gesellschaftliche System der Produktion und Reproduktion migrantische Arbeit braucht; dass die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die verlangt, dass Frauen die Haushalts- und Pflegearbeit erledigen, eine institutionalisierte und bezahlte ist; dass es nicht reicht, die bestehenden Tarifverträge und -regelungen zu verteidigen: Es ist dringend geboten Formen des Kampfes zu finden, die dem Prozess der Informalisierung der Arbeit gewachsen sind.

8. Aufgrund der erschwerten Voraussetzungen für eine Familienzusammenzuführung oder zur Erlangung der StaatsbürgerInnenschaft sind MigrantInnen, die berechtigt sind zu bleiben, zunehmend isoliert und zu einem temporären Aufenthalt gezwungen. Die, die bleiben, wissen, dass ihre Zukunft vorgezeichnet ist: Ihre Kinder müssen rassistische Zugangsbeschränkungen zu Schulen hinnehmen, und diese Beschränkungen hindern sie daran, einen Ausweg aus den Arbeitsverhältnissen zu finden. Alte ArbeiterInnen werden nie ihre Rente beziehen. Angesichts der Krise verfolgt die Regierung die Strategie, die Sozialkosten so gering als möglich zu halten. Und diese Strategie erklärt, warum MigrantInnen, die beschließen, das Zuzugsland zu verlassen, die Sozialbeiträge, die sie all die Jahre gezahlt haben, nicht zurück bekommen. An den MigrantInnen wird ein allgemeiner Angriff auf das Wohlfahrtssystem vorweggenommen, der alle ArbeiterInnen betrifft.

9. Angesichts all dieser Tatsachen ist es notwendig, nicht nur gegen Entlassungen oder zur Verteidigung einzelner Verträge zu kämpfen. Zukünftige Arbeitskämpfe müssen vielmehr die Forderung nach der Abschaffung des Bossi-Fini-Gesetzes und nach Legalisierung aller MigrantInnen beinhalten. Die Kämpfe der MigrantInnen müssen Eingang in den Arbeitsplatz finden, müssen Teil des gemeinsamen Kampfes aller ArbeiterInnen werden.

10. Die Krise ebnet den Weg für eine allgemeine Neuorganisierung der Arbeitsverhältnisse. Die ArbeiterInnen zahlen den Preis für die Krise nicht nur mit Entlassungen und dem Überflüssig-Gemacht-Werden, sondern auch mit einem weiteren Angriff auf ihre Fähigkeit zur Organisierung und ihre Macht. Heute wird ein Großteil dieses Spiels auf dem Rücken der MigrantInnen ausgetragen. Dem müssen wir deutlich begegnen: mit einem Streik migrantischer Arbeit, der als Streik aller, italienischer und migrantischer, ArbeiterInnen wahrgenommen wird – gegen Rassismus und das Bossi-Fini-Gesetz.

Übersetzung: Dagmar Fink

Quelle: express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/10