Spanien: El Ejido, 10 Jahre danach (Teil II)
Von Nicholas Bell (EBF/Frankreich)
Um das heutige Leben der ImmigrantInnen im Plastikmeer besser zu verstehen, haben wir Cherif, einen jungen Senegalesen, der hier am Aus- und Weiterbildungsprogramm der andalusischen Landarbeitergewerkschaft SOC teilnimmt, im Lokal «Ascen Uriarte» in Nijar getroffen. Wir sprachen auch mit einer Gruppe von Rumäninnen, die in Tabernas, 40 km in Richtung der Berge, Opfer von mehrfachem arbeitsrechtlichem Missbrauch durch ihren Chef geworden waren.
Cherif: «Ich bin 2008 angekommen, als gerade Leyman Brothers in Konkurs gingen. Die Leute hatten Angst, weil sie von der Krise betroffen waren. Im Baugewerbe gab es keine Arbeit mehr, alle Spanier und Immigranten, die in diesem Sektor beschäftigt waren, haben sich auf die Landarbeit gestürzt. Ich habe unvorstellbare Arbeitsbedingungen vorgefunden: Die Gewächshäuser sind Arbeitsstätten des Schweißes, oder auch des Bluts. Es gibt in dieser Region zwischen Nijar und El Ejido nichts anderes. Für die Immigranten ohne Papiere ist die einzige Perspektive, ihren Lebenserhalt zu sichern, in den Gewächshäusern.»
Die Frage der Unterkunft
Was man hier vorfindet ist miserabel, ich zögere noch zwischen miserabel und unmenschlich. Diejenigen, die keine Arbeit finden, können keine Wohnung mieten. Also leben sie in Chabolas, Hütten aus Plastik, oder sie ziehen in Cortijos, verlassene und verfallene Häuser auf dem Feld, deren Besitzer weggezogen sind. Es sind Wohnstätten ohne fließendes Wasser, Strom, ohne Toilette.
Jedes Mal, wenn man so etwas sieht, sagt man sich: Das ist schlimm, aber beim nächsten Mal sieht man etwas noch Schlimmeres. ?Wenn die Immigranten eine Wohnung haben, sind sie von der Explosion der Mietpreise betroffen. Für eine Wohnung würde man normalerweise zwischen 400 und 500 Euro bezahlen, aber das Minimum, das von einem Migranten erwartet wird, liegt bei 700. Sie nehmen eine Garage: Anstatt Autos darin zu parkieren, stellen die Besitzer Betten im Abstand von einigen Zentimetern hin und vermieten jedes für 100 bis 150 Euro im Monat. Sie sind Weltmeister darin, den Raum so gut es geht auszunutzen, das ist noch einträglicher als die Landwirtschaft!»?Arbeitsbedingungen und Anstellungsverhältnisse ?«Die Löhne liegen zwischen 20 und 35 Euro am Tag. Die Arbeitgeber beschäftigen einige MigrantInnen mit Papieren, aber das ist Augenwischerei. Man nimmt ein oder zwei MigrantInnen mit Papieren und mischt sie mit zehn, dreizehn anderen ohne Papiere. Der Lohnunterschied beträgt zwei Euro. Das dient dazu, öffentlichen Stellen gegenüber sagen zu können, dass man Leute mit Papieren beschäftigt.
Interessant sind aber die Papierlosen, die gefügig sind, Abgaben entrichten, die gehorchen und denen man Tag für Tag etwas abpressen kann. Die Patrons pfeifen auf die hygienischen Bedingungen oder minimalen Sicherheitsstandards. In den Pausen kommt es vor, dass Leute, die mit Pestiziden gearbeitet haben, ihr Brot mit ihren Händen essen, die noch schmutzig von den Chemikalien sind. Jeder muss sich selbst informieren. Es gibt keine Kontrolle der Arbeits- und Sicherheitszustände.
Wenn die Inspektoren kommen, und sie kommen sehr selten, geht es nur darum, die Papiere der Arbeiter zu kontrollieren.?Beim Umgang mit Pestiziden in den Gewächshäusern hat der Arbeiter eine kleine Atemschutzmaske auf der Nase, und die Hände und der Rest des Körpers sind ungeschützt. Die Maske verhindert nicht den Geruch der Pestizide. Ich habe Leute kennengelernt, die direkt bei der Arbeit mit den Pestiziden ohnmächtig geworden sind, und andere, die ständig darunter leiden. Der Patron stellt sicher, dass der Arbeiter im Krankenhaus nicht sagt, was ihm passiert ist: ‚Sag nicht, dass Du dabei umgekippt bist, sondern dass Du einfach so gefallen bist‘. Ohne Vertrag, ohne Bindung, ohne Verpflichtung entlässt der Patron im Falle eines Arbeitsunfalls den Arbeiter, der sich dann woanders Arbeit suchen muss. Wer im Gewächshaus ohnmächtig wird, hat sozusagen seinen Arbeitsplatz verloren.»?Bei den rumänischen Arbeiterinnen?Die Gruppe der 18 Rumäninnen, die wir in Tabernas getroffen haben, bestätigen uns die extreme Verachtung, mit der sie ihr Chef behandelt. Sie haben drei Monate gearbeitet, von Oktober bis Anfang Januar, ohne ihren Lohn zu erhalten. Als sie protestierten, wurden sie gefeuert.?Sie durften sich nicht waschen oder ihre Pausenmahlzeit einnehmen, es gab kein fließendes Wasser. Nach der Arbeit mit Pestiziden mussten sie sich mit dem Wasser waschen, das sie selbst mitgebracht hatten. Dabei handelt es sich um einen Arbeitgeber, der 40 Gewächshäuser in El Ejido und 15 in Tabernas besitzt. ?Laura und Abdelkader von der SOC haben mit den zwei spanischen Vorarbeitern gesprochen, die, so die rumänische Gruppe, die Arbeiterinnen ständig übel beleidigten. Laura, die juristische Expertin der Gewerkschaft, hat anschließend den Patron in El Ejido angerufen und zudem veranlasst, dass die Arbeiterinnen eine Anzeige erstatten, um ihre Löhne zu erhalten und ihrem Recht Geltung zu verschaffen. Leider hat die Gruppe der Rumäninnen zu spät mit der SOC geredet, um rechtzeitig gegen ihre Kündigung vorzugehen und die Frist von 20 Tagen überschritten.?Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie viele der ausländischen ArbeiterInnen, in Gruppen oder einzeln, Opfer dieser Arbeitsrechtsverletzungen werden, ohne von der Existenz der Gewerkschaft zu wissen.
Eine Gewerkschaft
Cherif: «Es ist wichtig, eine Gewerkschaft zu haben, einen Ort, wo man frei reden kann. Aber es ist hier extrem schwierig, gute Ergebnisse zu erzielen. Man kann das Meer nicht mit den Händen aufhalten. Jeden Tag kommen die Leute her, um die Gewerkschaft um Hilfe zu bitten. Sie sagen, dass sie den ganzen Monat gearbeitet haben und ihr Chef sie nicht bezahlen will. Andere verlieren gerade ihre Wohnung, weil sie die Miete nicht aufbringen können. Manchmal kennt der Arbeiter nicht einmal den Namen seines Arbeitgebers, gerade mal, dass er Juan oder Paco heißt. Die Mehrzahl derer, die aus den subsaharischen Ländern kommen, sind Analphabeten. Sie können die Adresse ihres Chefs nicht angeben. Die Gewerkschaft versucht dennoch ihr Bestes, um den Arbeitern zu ihrem Recht zu verhelfen.»?Hafid: «Die SOC ist die einzige Gewerkschaft, die mit MigrantInnen arbeitet. Sie sind die einzigen, die Weiterbildung und gewerkschaftliche Aktivitäten anbieten. Es gibt keine massenhafte Beteiligung, aber es ist der einzige Ort, wo MigrantInnen sich treffen, debattieren und sich über ihre Rechte informieren können.?Die Situation der MigrantInnen hier ist sehr schlimm. Ich unterstütze die Arbeit der SOC in dieser Gegend und hoffe, dass wir in naher Zukunft aktiv am gesellschaftlichen Leben hier vor Ort teilnehmen und die Situation der Arbeiter in der Region verbessern können.»
Ein neuer Gewaltausbruch
Aber die Perspektiven sind eher düster. Bei einem Treffen in der Universität von Almeria wies Paco Checa, Professor für Anthropologie und Direktor des Instituts für Migrationsforschung, darauf hin, dass ein neuer Gewaltausbruch in der Region durchaus möglich sei, am ehesten in der Nähe von Nijar.?Cherif: «Nach meiner Auffassung sind alle Zutaten dafür vorhanden, dass es in Nijar explodiert. Nehmen wir die rasante Ausbreitung der Chabolas, der Plastikhütten; damit verbunden die Anzahl der Immigranten ohne Papiere und ohne Arbeit, ein rechtsgerichteter Bürgermeister, der das Verhalten der Unternehmer billigt, die die Immigranten arbeiten lassen, ohne sie zu bezahlen. Mit all dem ist eine Explosion von zwei Seiten aus möglich. Die Chabolas sind nicht mehr so weit von den Ortschaften entfernt. Was die schönen Häuser und die schönen Autos von ihnen trennt, sind 50 oder 100 Meter. Die Grenze ist schnell überschritten – von der einen Seite oder von der anderen.»?Es ist schwer, unter diesen Umständen optimistisch zu sein.?Cherif: «Ich denke gerne, dass es nach dem Regen schönes Wetter geben wird – aber leider muss man sich etwas anderes vorstellen. Das was in El Ejido geschehen ist, zum Beispiel. Die Voraussetzungen für Gewalt sind gegeben, es muss davor gewarnt und muss verhindert werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die gesamte lokale Bevölkerung rassistisch ist und der Ausgrenzung und der Apartheid das Wort redet. Ich glaube, dass es hier auch gute Leute gibt, mit denen man reden kann. Das wird nicht einfach sein, aber es liegt noch im Bereich des möglichen.»
Quelle: Archipelausgabe 181 (04/2010)