1. September 2020 | Sturz der Regierung in Mali. Kommentar von Chéibane Coulibaly
Dieser Text war ursprünglich eine Mail, die jedoch von Chéibane Coulibaly zur Veröffentlichung freigegeben wurde. Chéibane Coulibaly ist einer der führenden Intellektuellen Malis. Als Wissenschaftler publiziert er seit den 1970er Jahren zu entwicklungspolitischen Themen, gleichzeitig ist er immer wieder als Regierungsberater sowie Mitglied internationaler (Untersuchungs-)Kommissionen berufen worden. Afrique-Europe-Interact ist Chéibane Coulibaly freundschaftlich verbunden, die Übersetzung seiner Mail ist eine verbesserte deeple-Übersetzung.
Ich denke, den Maliern kommt das Verdienst zu, eine tiefgreifende Debatte über die Konzeption und Umsetzung eines postkolonialen Staates angestoßen zu haben, der wirklich im Dienste der Bevölkerung steht. Die im Raum stehenden politischen Fragen sind enorm, denn es geht darum, jenem Staat ein Ende zu bereiten, der im Dienste privater (auch ausländischer) Interessen bzw. im Dienste von Ideologien (wie unter der Ersten Republik 1960 bis 1968) steht.
In dieser Hinsicht ist dieser Kampf auch für die Staatschefs der Westafrikanischem Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) von großem Interesse, von denen nicht zufällig diejenigen am radikalsten gegen Mali vorgehen, die am stärksten solche privaten Interessen in Westafrika verfolgen. Obwohl die Westafrikanische Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA) keine offiziellen Sanktionen gegen Mali verhängt hat, ist es dem ivorischen Präsidenten Alassane Ouattara gelungen, über die Westafrikanische Zentralbank (BCEAO) finanzielle Sanktionen gegen Mali verhängen zu lassen. Denn es ist offenkundig, dass Bamako heute die Hauptstadt des Kampfes der Bevölkerungen des französischsprachigen Westafrika ist.
Ich weiß, dass die Versuchung für einige Mitglieder des oppositionellen M5-Bündnis (vor allem für die Politiker, die dort sind) und sogar für einige Teile der Militärjunta (CNSP) groß sein kann, den alten Staat wieder aufzubauen. Aber wir können optimistisch bleiben, solange “die kleinen Leute” wachsam bleiben. Zum ersten Mal wurden in Mali echte Massenproteste durchgeführt, und zwar langfristig und von einer großen Mehrheit der Kleinverdiener, der Fachleute im Kleingewerbe, der Bauernführer, der Arbeiter und der arbeitslosen Hochschulabsolventen (die gezwungen wurden, das Land zu verlassen) etc. Zum ersten Mal fühlten sich die Führer der Bewegung (von denen einige behaupteten, der “revolutionären Linken” anzugehören) verpflichtet, der Basis fast täglich Bericht zu erstatten.
Zum ersten Mal berichteten die Medien täglich über eine Protestbewegung, oft mit Live-Berichten von den Orten der Demonstrationen in den Landessprachen. Zu loben sind unter anderem der Radio- und TV-Sender „Renouveau“. Diese Arbeit trug zum Entstehen einer kritischen Masse von informierten und politisch aufstrebenden Bürgern bei. Die Debatten haben sich auf die Armenviertel, auf die ärmsten Familien, auf die Orte, an denen sich die Jugendlichen versammeln (“grins”), ausgebreitet – und auch Frauen innerhalb und außerhalb der Schulen sind beteiligt. Soziale Netzwerke sind aktiver denn je, auch bei der Zurückweisung von Falschmeldungen.
Aus diesem Grund wurden in der Bevölkerung verankerte Sensiblisierungskomitees geschaffen („brigades populaires de vigilance“), die die verschiedenen politischen Akteure in die Pflicht nehmen, einen klaren Diskurs zur Krise zu entwickeln und mit anderen Akteuren das Gespräch zu suchen. Solange diese Komitees stark bleiben, wird der Druck auf die verschiedenen Akteure aufrechterhalten, ihre persönlichen Ambitionen einzuschränken.
Was den Übergang betrifft, so scheint es das Ausland eilig zu haben, dass er schnell vorbei ist, um zu den Wahlen usw. zu kommen. Mali verfügt bereits über Erfahrungen mit dem Übergang, dem Übergang von 1991, der zunächst auf 12 Monate begrenzt war, der dann um 2 Monate verlängert wurde, und am Ende der 14 Monate ging es sogar um eine weitere Verlängerung um 4 Monate. Doch am Ende wurden Institutionen geschaffen, die sehr schnell zu der katastrophalen Situation führten, die wir heute erleben. Wenn die Arbeit des Übergangs verpfuscht wird, wird die Errichtung eines neuen Staates ein Fehlschlag sein. Gleichzeitig muss die Transition an ihrer Rolle, der eines Übergangs, festhalten.
Der vom CNSP (Militärjunta) und den verschiedenen Mitgliedern des Oppositionsbündnisses M5 verfolgte Ansatz ist eher pragmatisch: Die Organisation einer nationalen Konferenz, die es dem malischen Volk ermöglicht, sich über die Modalitäten des Übergangs und den Zeitplan für die Umsetzung dieses Programms zu einigen und auf dieser Grundlage die Dauer des Übergangs festzulegen. Gestern erhielt das CNSP von den verschiedenen “aktiven Kräften der Nation” Vorschläge für das Format des Übergangs. Diese zahlreichen Vorschläge werden in die Debatten der Nationalversammlung einfließen.
Seit seiner Machtübernahme hat das CNSP noch nichts gegen die Interessen des malischen Volkes unternommen. Die internationale Gemeinschaft muss erkennen, dass die getroffenen Sanktionen die Lage der Armen und Mittellosen des Landes noch schwieriger machen. Diese Sanktionen müssen aufgehoben werden, es sei denn, sie sollen das in Mali laufende neue Experiment zum Scheitern bringen. Der Druck des Volkes auf unsere neuen Führungskräfte ist stark genug, um sie auf dem richtigen Weg zu halten. Wenn man solchen internationalen Druck ausübt, besteht die Gefahr, dass die Maschine kaputt geht.
Die Malier erinnern uns ständig daran, dass Deutschland das erste Land war, das das unabhängige Mali anerkannt hat. Seither betrachten die Malier Deutschland als ein befreundetes Land, das ihnen auch mit der EU sehr helfen kann.
Heute hat das Embargo gegen Mali in sehr kurzer Zeit zu wachsender Knappheit geführt, und dazu, dass die Zahl der Menschen, die täglich keine Mahlzeit zu sich nehmen, rasch besorgniserregende Ausmaße erreichen wird. Ich weiß nicht, ob Menschen aus reichen Ländern erkennen können, wie schnell sich das Elend in unseren wirtschaftlich schwachen Ländern ausbreiten kann.
DIE PRIORITÄT MUSS DIE AUFHEBUNG DES EMBARGOS SEIN. ZUDEM MUSS UNSERER BEVÖLKERUNG MEHR VERTRAUEN ENTGEGENGEBRACHT WERDEN.