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Guantanamo Libyen. Der neue Gendarm der italienischen Grenzen

Von Gabriele de Grande (2009)

TRIPOLIS – Das Eisentor ist doppelt verriegelt. Aus der kleinen Luke blicken die Gesichter zweier junger afrikanischer Männer und eines Ägypters. Der herbe Geruch, der aus der Zelle schlägt, brennt in meinen Nasenhöhlen. Ich bitte die drei, zur Seite zu gehen. Der Blick öffnet sich auf zwei Räume von drei mal vier Metern. Ich begegne den Blicken von etwa dreißig Personen. Übereinander gepfercht. Am Boden sehe ich ein paar Matten und einzelne schäbige Schaumgummimatratzen. Auf die Mauern hat jemand Guantanamo geschrieben. Aber wir sind nicht in der amerikanischen Basis. Wir sind in Zlitan, in Libyen. Und die Häftlinge sind keine mutmaßlichen Terroristen, sondern Migranten, die südlich von Lampedusa verhaftet wurden und die man in teils von Italien und der Europäischen Union finanzierten, baufälligen Haftanstalten verkommen lässt. Die Häftlinge drängen sich gegen die Zellentür. Sie erhalten seit Monaten keine Besuche. Einige erheben die Stimme: “Helft uns!” Ein Junge streckt die Hand über die erste Reihe hinaus und reicht mir ein Stückchen Karton. Eine Telefonnummer steht darauf, mit Kugelschreiber geschrieben. Die Vorwahl ist die von Gambia. Ich stecke es ein bevor die Polizei etwas davon merkt. Der Junge heißt Outhman. Er bittet mich, seiner Mutter zu sagen dass er noch lebe. Er ist seit fünf Monaten im Gefängnis. Fabrice hingegen verlässt diese Zelle seit neun Monaten nicht. Beide wurden während der Razzien in den Einwanderervierteln von Tripolis verhaftet.

Seit Jahren führt die libysche Polizei solche Aktionen durch. Seitdem Italien 2003 mit Gheddafi einen Kooperationspakt zur Bekämpfung der Einwanderung unterzeichnet hat, und Schnellboote, Geländewagen und Totensäcke über das Meer geschickt hat, zusammen mit den nötigen Geldern, um die Abschiebungsflüge und drei Haftlager zu bezahlen. Von da an werden jährlich zehntausende Einwanderer und Flüchtlinge von der libyschen Polizei verhaftet und in den zirka 20 verwahrlosten, über das Land verteilten Zentren eingesperrt, wo sie auf die Abschiebung warten. Zusammen mit einem deutschen Kollegen sind wir die ersten Journalisten mit der Erlaubnis, diese Zentren zu besuchen.

“Den Menschen geht es schlecht! Das Essen ist miserabel, das Wasser ist schmutzig. Es sind kranke Frauen und Schwangere dabei”. Gift ist 29 Jahre alt. Sie stammt aus Nigerien. Sie trägt noch dasselbe Kleid wie damals, als sie vor drei Monaten verhaftet wurde, mittlerweile ein schmutziger und abgenutzter Fetzen. Sie machte einen Spaziergang mit ihrem Mann. Beide hatten keine Dokumente dabei und wurden verhaftet. Seit damals sieht sie ihn nicht, er wurde inzwischen abgeschoben. Sie sagt, sie habe ihre beiden Kinder in Tripolis zurückgelassen. Von ihnen hat sie keine Notiz mehr. Sie lebte seit drei Jahren in Libyen. Arbeitete als Friseurin und hatte nicht die geringste Absicht, den Kanal von Sizilien zu überqueren. Wie viele der Immigranten, die von den neuen Gendarmen der italienischen Grenze festgehalten werden
An Europa gedacht hatte hingegen Y… und wie er daran gedacht hatte. Als Deserteur des eritreischen Heeres hatte er sich vor zwei Monaten nach Lampedusa eingeschifft, um politisches Asyl zu beantragen. Aber er wurde im Meer aufgehalten. Von den Libyern. Seit dem Tag ist er in Zlitan eingesperrt. Auch er ohne jegliche Beglaubigung des Häftlingsstatus. Bevor sie ihn in das Büro des Direktors eintreten machen, flüstert ihm ein Polizist etwas ins Ohr. Er nickt mit dem Kopf. Als wir ihn nach dem Zustand des Zentrums fragen, antwortet er „Everything is good“. Alles bestens. Er ist zu Tode geängstigt. Er weiß, dass jede falsche Antwort ihm Schläge kosten kann Der Direktor des Lagers, Ahmed Salim, lächelt wohlgefällig über die Antworten und versichert uns, dass man ihn nicht deportieren wird. Innerhalb weniger Wochen wird er in das Haftlager von Misratah versetzt, 210 km östlich von Tripolis, wo die Häftlinge eritreischer Nationalität konzentriert sind.

In der Provinz gibt es drei weitere Haftzentren für Ausländer, in Khums, Garabulli und Bin Ulid. Aber es sind kleinere Strukturen, und die Häftlinge werden anschließend in das Lager von Zlitan überführt, das bis zu 325 Personen einschließen kann, in Erwartung ihrer Abschiebung. Aber wie viele sind die Haftlager in ganz Libyen? Auf der Grundlage der in diesen Jahren gesammelten Zeugenberichte haben wir 28 davon gezählt, die hauptsächlich an der Küste konzentriert sind. Es gibt drei Arten davon. Einige sind richtiggehende Auffanglager, wie jene von Sebha, Zlitan, Zawiyah, Kufrah und Misratah, wo die Migranten und Flüchtlinge, die während der Razzien oder entlang der Grenzen verhaftet wurden, zusammengelegt werden. Dann gibt es kleinere Strukturen, wie jene von Qatrun, Brak, Shati, Ghat, Khums… in denen die Ausländer für eine kurze Zeit in Haft bleiben, bevor sie in die Auffanglager geschickt werden. Und dann gibt es die Gefängnisse: Jadida, Fellah, Twaisha, Ain Zarah… Öffentliche Gefängnisse, in denen ganze Sektionen der Inhaftierung von undokumentierten Ausländern vorbehalten sind. Auch in den Gefängnissen sind die Haftbedingungen entsetzlich. Krätze, Parasiten und Infektionen sind das Mindeste, das man sich hier einfangen kann. Viele Frauen sind von vaginalen Infektionen betroffen. Todesfälle sind keine Seltenheit, vor allem aufgrund fehlender sanitärer Betreuung oder allzu verspäteter Einlieferungen ins Krankenhaus. Der Namen, der in den Erzählungen der Migranten am häufigsten vorkommt, ist der des Gefängnisses von Fellah, in Tripolis, das jedoch neulich demoliert wurde, um einer großen Baustelle Platz zu machen, im Einklang mit dem Restyling der gesamten Stadt. Seine Funktion wurde von Twaisha eingenommen, eine weitere Haftanstalt in der Nähe des Flughafens.

Koubros hat es vor wenigen Wochen geschafft, aus Twaisha zu entkommen. Er ist ein eritreischer Flüchtling von 27 Jahren. Er lebte in Sudan, aber nachdem ein eritreischer Freund von Khartoum aus abgeschoben wurde, fühlte er sich nicht mehr sicher und dachte an Europa. Aus Twaisha kam er auf Krücken heraus. Er konnte die Summe nicht bezahlen, die ein betrunkener Polizist von ihm verlangte. Also haben sie ihn aus der Zelle gebracht und mit Schlagstöcken auf ihn eingeschlagen. Er kam dank einer Geldsammlung eritreischer Häftlinge frei. Um einen der Gefängniswächter zu bestechen reichten 300 Dollar. Wir treffen uns vor der Kirche des Hl. Franziskus, in Tripolis. Wie an jedem Freitag warten etwa fünfzig afrikanische Migranten auf die Öffnung des Sozialschalters der Caritas. Tadrous ist einer von ihnen. Er wurde am vergangenen sechsten Oktober aus dem Gefängnis von Surman entlassen. Er ist einer der wenigen, der vor ein Gericht kam. Seine Geschichte interessiert mich. Es war im Juni 2008. Sie waren von Zuwarah aus in See gestochen, zu 90. Aber nach wenigen Stunden beschlossen sie, wegen stürmischer See umzudrehen. Und so kehrten sie zurück. Sobald sie das Land betraten, wurden sie verhaftet und in das Gefängnis von Surman gebracht. Der Richter verurteilte sie zu 5 Monaten Haft wegen illegaler Auswanderung. Am Ende der Frist wurde er freigelassen. Ich frage ihn, ob ihm ein Pflichtverteidiger zugewiesen wurde. Er lächelt und schüttelt den Kopf. Die Antwort ist negativ.

Keine Seltsamkeit, meint der Anwalt Abdussalam Edgaimish. Das libysche Gesetz sieht keinen kostenlosen Rechtsbeistand bei Verstößen vor, deren Strafdauer unter drei Jahren liegt. Edgaimish ist der Leiter der Anwaltskammer von Tripolis. Er empfängt uns in seinem Büro in der Straße des Ersten Septembers. Alle Festnahme- und Inhaftierungspraktiken, so erklärt er uns, werden wie verwaltungsmäßige Prozeduren durchgeführt, ohne die Beglaubigung eines Richters. Ohne jegliche rechtliche Grundlage, somit, sondern nur auf der Woge der Ausnahmesituation. Auch in Libyen könnte eine Person nicht ohne Haftbefehl seiner Freiheit beraubt werden. Aber das ist die Theorie. Die Praxis hingegen ist die der Razzien von Haus zu Haus in den Randvierteln von Tripolis.

“Die Migranten sind Opfer einer Verschwörung zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers. Europa sieht bloß ein Sicherheitsproblem, aber niemand will von ihren Rechten sprechen”. Auch Jumaa Atigha ist ein Anwalt aus Tripolis. An der Wand seines Studios hängt das Diplom eines Hochschulabschlusses in Strafrecht der Universität La Sapienza, in Rom, verliehen 1983. Seit 1999 war er Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation der Stiftung, die vom ältesten Sohn Gheddafis, Saif al Islam, geführt wird. Im vergangenen Jahr ist er vom Amt zurückgetreten. Seit 2003 hat er eine Kampagne geleitet, die zur Befreiung von 1.000 politischen Häftlingen geführt hat. Er beschreibt uns ein Land in raschem Umbruch, aber noch weit von einer idealen Situation im Bereich der persönlichen und politischen Freiheiten entfernt. In Libyen gibt es kein Asylgesetz, bestätigt er uns, aber im Gegenzug ist eine Kommission damit beschäftigt, ein neues Einwanderungsgesetz auszuarbeiten.

Atigha kennt die Haftbedingungen in Libyen durch persönliche Erfahrung. Von 1991 bis 1998 hat man ihn eingesperrt, ohne Prozess, als politischen Häftling. Er sagt uns, dass Folter eine geläufige Vorgehensweise der libyschen Polizei ist. “Seit 2003 haben wir eine Kampagne gegen Folter in den libyschen Haftanstalten vorangetrieben. Wir haben Konferenzen organisiert, die Gefängnisse besucht, Kurse für Polizeibeamten veranstaltet. Der Mangel an Bewusstsein führt dazu, dass die Polizei Folter anwendet und glaubt, damit der Gerechtigkeit zu dienen”. Mustafa O. Attir ist derselben Meinung. Er unterrichtet Soziologie an der Universität El Fatah in Tripolis. “Es geht hier nicht um Rassismus. Die Libyer sind freundlich zu Fremden. Das Problem liegt bei der Polizei”. Attir weiß wovon er spricht. Er betrat die libyschen Gefängnisse als Forscher 1972, 1984 und 1986. Die Polizeiagenten haben keine Ausbildung – so sagt er – und sie sind nach dem Konzept der Bestrafung erzogen.

Seine Worte lassen mich an die ghanaischen Friseure in der Medina denken, an die tschadischen Schneider, die ägyptischen Kellner, die marokkanischen Putzfrauen und die afrikanischen Straßenfeger, die, bewaffnet mit Bambusbesen, jede Nacht die Straßen der Hauptstadt säubern. Während sich di Eritreer in den Vororten von Gurji und Krimia verstecken, leben und arbeiten hier tausende afrikanische Einwanderer, in Ausbeutungsverhältnissen, aber in relativer Ruhe. Sicher ist für Sudanesen und Tschader alles einfacher. Sie sprechen arabisch und sind muslimisch. Ihre Präsenz in Libyen ist von jahrzehntelanger Dauer und deshalb geduldet. Dasselbe gilt für Marokkaner und Ägypter. Im Gegensatz dazu sind Eritreer und Äthiopier ausschließlich wegen der Überfahrt nach Europa hier. Oft sprechen sie kein Arabisch. Oft sind es Christen. Und ihre Großeltern kämpften gegen die Libyer an der Seite der italienischen Kolonialtruppen. Und dann weiß man, dass sie sehr oft Geld bei sich haben, für die Überfahrt. Darum werden sie zu leichten Zielscheiben für Kleinverbrecher und korrupte Polizisten. Für die Nigerianer, und allgemein für die anglophonen Sub-Saharer ist die Lage wieder anders. Ob sie auf dem Weg nach Europa sind oder nicht, ihr Schicksal in Libyen prallt systematisch gegen das Vorurteil, das sich im Kielwasser irgendeines kriminellen Vorfalls gegen Nigerianer gebildet hat. Man beschuldigt sie, Drogen, Alkohol und Prostitution einzuführen, Urheber von Raubüberfällen und Morden zu sein, und das HIV-Virus zu verbreiten.

Professor Attir hat im 2007 drei Seminare zum Thema der Immigration in arabische Länder veranstaltet. In Libyen ist er einer der höchsten Experten. Und er dementiert prompt die Ziffern, die in Europa kursieren. “Zwei Millionen Einwanderer in Lybien, die bereit wären, nach Italien aufzubrechen? Das ist nicht wahr”. In Wirklichkeit gibt es keine Statistiken jeglicher Art. Sondern nur Schätzungen. Die aber – laut Attir – nicht glaubwürdig sind. Es genügt sich umzuschauen. Die lybische Bevölkerung besteht aus fünfeinhalb Millionen Personen. Die Zuwanderer können vernunfthalber nicht mehr als eine Million ausmachen, arabische und ägyptische Einwanderer, Tunesier, Algerier und Marokkaner inbegriffen. Der Großteil von ihnen hat niemals an Europa gedacht. Und Libyen braucht sie, weil es ein unterbevölkertes Land ist und weil die Libyer nicht mehr schwere körperliche oder schlecht bezahlte Arbeiten machen wollen. Attir ist sich des Druckes bewusst, den Europa auf Libyen ausübt, damit es seine Grenzen schließt. Aber er weiß dass “es keine Möglichkeit gibt, das zu tun”.

Libyen verfügt über zirka1.800 km vorwiegend unbewohnter Küste. Oberst Khaled Musa, Chef der Anti-Immigrationspatrouillen in Zuwarah, weiß nicht was anfangen mit den Schnellbooten, die Italien versprochen hat. Sie könnten dazu dienen, den Meeresstreifen zwischen der tunesischen Grenze, Ras Jdayr und Sabratah, besser zu patrouillieren, gibt er zu. Aber es sind nur 100 km. 6% der libyschen Küste. Und die Aufbrüche haben sich bereits an die Küste östlich von Tripolis verlagert, zwischen Khums und Zlitan, mehr als 200 km von Zuwarah entfernt. Die Anti-Immigrationsabteilung von Zuwarah entstand im 2005. Die Anzahl der festgenommenen Migranten ist von 5.963 im 2005 auf nur 1.132 im 2007 gesunken. Für den Leiter der Fahndungsabteilung, Sala el Ahrali, beweisen die Daten den Erfolg der repressiven Maßnahmen. Viele Organisatoren der Überfahrten wurden verhaftet, dies sei der Grund für die Verringerung der Ausreisen. Und die Küste ist stärker überwacht. Alle zehn Kilometer steht ein Zelt, mitten am Strand. Es dient als Stützpunkt für die Geländewagen der Polizei, die die Küstenstraße seit zwei Jahren patrouillieren, unterstützt von vier Schnellbooten der Marine. Der Küstenstreifen, der zurzeit patrouilliert wird, ist zirka fünfzig Kilometer lang. Er beginnt in Farwah, etwa zehn Kilometer von der tunesischen Grenze entfernt, und endet 15 km östlich von Zuwarah, bei Mellitah, in der Nähe der imposanten Anlage zur Gasverarbeitung im Besitz der Eni und der libyschen Gesellschaft National Oil Company.

Und gerade von Mellitah geht der Greenstream aus, die längste Untersee-Gasleitung des Mittelmeers. Sie verbindet Libyen mit Gela, in Sizilien. Ironie des Schicksals, sie verläuft entlang derselben Route, die die Migranten nach Lampedusa bringt. Wie um zu bedeuten, dass, während Europa an der Meeresoberfläche seine Militärkräfte aufbietet, um die Durchfahrt der Personen aufzuhalten, jährlich acht Milliarden Kubikmeter Gas lautlos durch die 520 km der Leitung fließen, die auf dem Untergrund desselben Meeres liegt, inmitten der Gebeine von tausenden Männern und Frauen, die bei der Überquerung des Kanals von Sizilien umgekommen sind. Ein Bild, das auf perfekte Weise die Beziehungen der letzten fünf Jahre zwischen Rom und Tripolis synthetisiert, die im Namen des Slogans “mehr Erdöl und weniger Einwanderer ” geführt wurden.

FÜR VERTIEFUNGEN

Grenze Sahara. Die Inhaftierungslager in der libyschen Wüste, Fortress Europe
Reportage aus Libyen: wir waren in Misratah, Fortress Europe
Landkarte der Inhaftierungslager in Libyen, Fortress Europe
Report Escape from Tripoli, Fortress Europe, 2007
Report Stemming the Flow, Human Rights Watch, 2006

Translated by Karin Leiter

Quelle: http://fortresseurope.blogspot.com