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Mai 2014 | Wer hilft wem. Afrika braucht seine eigene Entwicklung

Von Hakima Abbas, in: Le Monde Diplomatique

Als bei den Vereinten Nationen die Regierungsvertreter den nächsten internationalen Entwicklungsplan für die Zeit nach 2015 aushandelten, erschien ein Bericht von Oxfam International und machte darauf aufmerksam, dass die 85 reichsten Menschen der Welt so viel besitzen wie die Hälfte der Weltbevölkerung.1 Massive wirtschaftliche Ungleichheit ist weltweit zum Normalzustand geworden. Sie ist nicht nur an den Einkommen ablesbar, sondern auch am Konsum (von den weltweiten Konsumausgaben entfällt weniger als 1 Prozent auf die ärmste Milliarde der Weltbevölkerung, während die reichste Milliarde auf 72 Prozent kommt2 ) sowie am Zugang zu Gesundheit, Wasser, Nahrung und Energie. Diese extreme und anhaltende Ungleichheit besteht nicht nur zwischen dem globalen Norden und dem afrikanischen Kontinent, sondern in zunehmendem Maße auch innerhalb der afrikanischen Länder.

In den vergangenen fünfzig Jahren mussten wir uns immer wieder dasselbe Mantra anhören: Afrika ist reich an Ressourcen, die Volkswirtschaften des Kontinents wachsen entgegen dem weltweiten Trend, und wenn Afrika seine Bodenschätze und sonstigen natürlichen Ressourcen vernünftig nutzt, kann es seine Bevölkerung aus der Armut herausführen. Nach Angaben der Afrikanischen Union lagern in Afrika 38 Prozent der weltweiten Uranvorkommen, 42 Prozent des Goldes, 73 Prozent des Platins und 88 Prozent der Diamanten. Andere Quellen verweisen außerdem auf über 80 Prozent der bekannten Coltanvorkommen, 57 Prozent des Kobalts, 39 Prozent des Mangans, 31 Prozent der Phosphate und 9 Prozent der weltweiten Bauxitreserven.3 Dennoch liegen 32 der 48 Länder, die von den Vereinten Nationen als am wenigsten entwickelt eingestuft werden, auf dem afrikanischen Kontinent. Und die meisten von ihnen sind reich an Bodenschätzen.

Afrikas Anteil an den globalen Exporten hat im Lauf der letzten Jahrzehnte nicht etwa Fahrt aufgenommen, sondern ist dramatisch gesunken, von 7,3 Prozent im Jahr 1948 auf 2 Prozent im Jahr 2009. Der African Economic Outlook Report4 stellt fest: „Afrikas Wirtschaftswachstum wird von den 4,8 Prozent im Jahr 2013 auf voraussichtlich 5,3 Prozent im Jahr 2014 steigen.“ Der Bericht zeigt, dass dieses Wachstum jedoch mit unzureichender Armutsbekämpfung, anhaltender Arbeitslosigkeit, wachsender Einkommensungleichheit und in manchen Ländern mit einer Verschlechterung in den Bereichen Bildung und Gesundheit einhergeht. „Afrikas Landwirtschaft, seine Bodenschätze und seine Energievorkommen könnten“, so das Fazit des Berichts, „das ökonomische Wachstum des Kontinents ankurbeln und den Weg für einen Durchbruch in der Humanentwicklung ebnen.“ Aber warum tritt diese Veränderung nicht ein?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst herausfinden, was für ein Konzept hinter dem Begriff Entwicklung steht und welche Ziele damit verbunden sind. Entwicklung – das suggeriert Fortschritt, Verbesserung und die Erfüllung der menschlichen Sehnsucht nach körperlichem, seelischem, gesellschaftlichem und intellektuellem Wohlergehen.

In seinem berühmt gewordenen Buch „Afrika. Die Geschichte einer Unterentwicklung“5 definierte der marxistische Historiker und Politiker aus Guyana, Walter Rodney, im Jahr 1972 Entwicklung als die Fähigkeit des Menschen, seinen natürlichen Lebensraum zu beherrschen und damit sein Überleben und seine Zufriedenheit zu sichern. Voraussetzung für eine so verstandene Entwicklung ist Subjektivität. Das heißt, jede Einzelperson und jede gesellschaftliche Gruppe muss zunächst ein eigenes Verständnis von Wohlergehen und Zufriedenheit herstellen und es im Zuge sich wandelnder gesellschaftlicher Wirklichkeiten weiterentwickeln. Diese Subjektivität setzt wiederum eine Ideologie oder gesellschaftliche Überzeugung beim Einzelnen beziehungsweise der Gruppe voraus. Ideologie wäre damit eine wesentliche Grundlage aller menschlichen Entwicklung. Und wie die Entwicklung verändert sich auch die Ideologie je nach Zeit und Kontext.

Nun sind im derzeit vorherrschenden Entwicklungsmodell ein paar unverrückbare Gegensätze angelegt. Es gibt, wie wir immer wieder gesagt bekommen, entwickelte Länder, und es gibt Entwicklungsländer. Einige Länder, die meisten im globalen Norden, haben den Gipfel der Entwicklung erreicht, und andere, im globalen Süden gelegene, hecheln ihnen in einer permanenten Aufholjagd hinterher. Wir bekommen ebenfalls gesagt, es sei das Bestreben der Entwicklungsländer, zu entwickelten Ländern zu werden, als wäre das ein neutraler Wert und ein allgemeingültiges Ziel. Damit bliebe der Raum für einen selbstbestimmten Fortschritt und Wandel sehr begrenzt. Eine umfassende und vollständige Entwicklung kann es jedoch nur geben, wenn sie die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt, um die es dabei geht. Und die sind so vielfältig wie das Leben auf unserem Planeten.

Der Begriff Entwicklung hielt zu dem Zeitpunkt Einzug ins Vokabular der internationalen Beziehungen, als sich die Vereinten Nationen (UN) nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten. Die beiden Entwicklungsdekaden 1960er und 1970er Jahre schufen die Grundstruktur für den internationalen Konsens, der die Richtung und das Schema der weiteren Entwicklung vorgeben sollte. Im Kalten Krieg, als der Ost-West-Konflikt den Diskurs bestimmte, definierten beide Seiten, entsprechend ihrer jeweiligen Ideologie, unterschiedliche Aspekte der Entwicklung als elementar oder hilfreich.

Die Präambel der am 24. Oktober 1970 von der UN-Vollversammlung verabschiedeten Resolution unterstreicht unter Punkt 6 die allgemeine Entschlossenheit, die Ungleichheit zu bekämpfen: „In der Überzeugung, dass Entwicklung der wichtigste Faktor auf dem Weg zu Frieden und Gerechtigkeit ist, versichern die Regierungen ihre gemeinsame und unerschütterliche Entschlossenheit, ein besseres und effektiveres System der internationalen Zusammenarbeit anzustreben, um die bestehenden Ungleichheiten in der Welt zu beseitigen und Wohlstand für alle zu gewährleisten.“6

Inzwischen wissen wir längst, dass die berühmten acht Millenniumsentwicklungsziele für 2015, die eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Vereinten Nationen, der Weltbank, des IWF und des Entwicklungsausschusses der OECD im Jahr 2001 formuliert hatte, nicht erreicht werden können. Die Vereinten Nationen streben schon die nächste große internationale Vereinbarung zur Entwicklungspolitik an. Dabei lässt sich ein krasser Unterschied zwischen den Erwartungen von gestern und dem Zustand von heute feststellen. Anstatt die Ungleichheiten zu verringern und Wohlstand für alle zu sichern, ist der Traum von der Entwicklung inzwischen zu einem jämmerlich eng begrenzten Projekt geworden: „Der extremen Armut und dem Hunger konnte ein Ende gesetzt werden.“7 So marschieren wir denn recht anspruchslos auf die nächste Resolution für die Entwicklungsländer zu.

Dass sich die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen in Afrika im Lauf der letzten fünfzig Jahre kaum verbessern konnte, liegt nicht zuletzt an der neoliberalen Ideologie. Sie propagiert einen marktkonformen Extraktivismus, der auf der Ausbeutung der natürlichen und menschlichen Ressourcen Afrikas beruht. Gleichzeitig wird das Thema Entwicklung für Afrika in Zielvorgaben, Mythen und Erwartungen verpackt, die diese Wirklichkeit verschleiern. So wird zum Beispiel Entwicklungshilfe gern als Geschenk dargestellt, das die Welt dem armen Afrika überreicht, um ihm dabei zu helfen, sich zu entwickeln. Bei näherer Betrachtung wird allerdings offenkundig, dass Entwicklungshilfe keineswegs ein Geschenk ist. Sie ist, im Gegenteil, ein trojanisches Pferd.

Im Jahr 1970 einigten sich die „entwickelten Länder“ darauf, jährlich 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts als offizielle internationale Entwicklungshilfe zu leisten, ein Versprechen, das die reichen Länder nur sehr selten eingehalten haben. Doch auch die geleistete Entwicklungshilfe selbst hat ihre Schattenseiten, denn sie ist meist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Oft müssen die Empfängerländer überteuerte Waren und Dienstleistungen von den Geberländern verwenden. Und in Anbetracht des Wirtschaftsprotektionismus, mit dem die Länder des globalen Nordens den Marktzugang für afrikanische Waren versperren, sind die Hilfsgelder ohnehin nur Peanuts. Zu-dem nutzen die wohlhabenden Länder die Entwicklungshilfe als Instrument, um auf dem afrikanischen Markt Fuß zu fassen. Bezeichnenderweise wird Entwicklungshilfe meist als Kredit zu ho-hen Zinssätzen gewährt, was die langfristigen Schulden der armen Länder in die Höhe treibt.

Entwicklungshilfe ist ein trojanisches Pferd

Die Entwicklungshilfe hat also dazu geführt, dass Afrika sich nicht aus der Abhängigkeit vom globalen Norden befreien kann, während der Mythos von den „helfenden“ Industrieländern die Diskurse über das Machtverhältnis zwischen diesen Nationen und Blöcken prägt. Einst hat die koloniale Rhetorik behauptet, Afrikaner seien nicht in der Lage, ihre Regierung selbst in die Hand zu nehmen. Heute sorgt der Entwicklungshilfediskurs – zusammen mit den politischen Gegebenheiten und Vorlieben – dafür, dass der Eigennutz der Geberländer verschleiert und die unzureichende Selbstbestimmung der Afrikaner hervorgehoben wird. Der Entwicklungshilfediskurs verstärkt die ungleiche Machtverteilung zwischen Geberländern und Empfängerländern – und die Maske der Wohltätigkeit täuscht auf ausgesprochen unverschämte Weise darüber hinweg.

Immer wieder wird behauptet, der Grund dafür, dass die Entwicklungshilfe die Armut in Afrika nicht beseitigt, sei die dort so verbreitete Korruption. Dabei ist der finanzielle Schaden, den die Korruption auf nationaler wie lokaler Ebene anrichtet, harmlos im Vergleich zu den korrupten, aber vollkommen legalen Methoden, mit denen Wohlstand aus Afrika abgezogen und die Entwicklungshilfe als Hebel genutzt wird, um die Empfängerländer wirtschaftlich zu schwächen.8

Für uns alle, die wir in Afrika leben, ist Korruption ein schwerwiegendes Problem, sie erzeugt große Unsicherheit und Ungerechtigkeit. Aber dieses Problem muss in Zusammenhang mit dem korrupten globalen Finanz- und Wirtschaftssystem angegangen werden, das Millionen in die Armut treibt. So führt die „Internationalisierung“ des Steuersystems dazu, dass Kenia aufgrund der Steuerprivilegien und Steuerbefreiungen für internationale Konzerne Jahr für Jahr 1,1 Milliarden US-Dollar Steuereinnahmen entgehen. Das ist mehr Geld, als dem Land für das Gesundheitswesen und die Wasserversorgung zur Verfügung steht. Doch statt die Unternehmen zur Kasse zu bitten, hat die Regierung die Steuern auf lebensnotwendige Güter erhöht und so die wirtschaftlich Marginalisierten noch mehr belastet.

Es wird allgemein angenommen, Entwicklung sei gleichbedeutend mit Wirtschaftswachstum. Afrikas BIP könne, so heißt es, auch in Zukunft ähnlich hohe Wachstumsraten wie in den vergangenen fünf Jahren erzielen, wenn der Kontinent sich neue Märkte erschließt und stabile Investitionsbedingungen bietet. Dieses Entwicklungsmodell bedeutet, dass die Multis ermuntert werden, Bodenschätze in großen Mengen abzubauen und zu exportieren, sie aber nicht oder nur in geringem Maße in Afrika zu verarbeiten. Dabei soll das wachsenden soziale Verantwortungsgefühl der Unternehmen dafür sorgen, dass ein winziger Teil der Gewinne für lokale Entwicklungsprojekte (für eine Schule hier, ein Krankenhaus da) abfallen. Im besten Fall bekäme die Regierung einen prozentualen Anteil von den Einnahmen und vielleicht wird auch ein bisschen Technologietransfer in Erwägung gezogen: der Trickle-down-Effekt als ein Rinnsal, das Millionen aus der Armut befreien soll.

Dieses Extraktivismus-Modell ist für Afrika nichts Neues. Das wirtschaftliche System, das Afrika geerbt hat, bestand ja über Jahrhunderte fast ausschließlich darin, dass es die Rohmaterialien liefert, die Europa und die USA brauchten. Und das zugehörige politische und gesellschaftliche System ist einzig und allein dazu errichtet worden, den ökonomischen Imperativen des Expansionismus und des industriellen Wachstums der Europäer zu dienen.

Die Kolonialherrschaft ließ Afrikas wirtschaftliche Entwicklung verkümmern, weil die europäischen Kolonialmächte das egoistische Ziel verfolgten, die Investitionen in Afrikas Entwicklung zu minimieren, um die eigenen Profite zu maximieren. Mit der im Keim erstickten wirtschaftlichen Entwicklung blieb auch unser kulturelles, gesellschaftliches, intellektuelles und politisches Leben auf der Strecke. Für die Völker Afrikas haben Kolonialismus und Sklaverei politische Unterjochung, gesellschaftliche Verwüstung und ökonomischen Rückschritt gebracht – der bereits genannte Historiker und Politiker Walter Rodney spricht von einer „Geschichte der Unterentwicklung“.

Das Verhalten der internationalen Konzerne, die Afrikas Bodenschätze und Agrarflächen im Rahmen der ausgehandelten Verträge ausbeuten, ist der Kontrolle der jeweiligen Regierungen weitgehend entzogen. Dass der Extraktivismus die Ungleichheit vergrößert und die meisten Menschen in Armut hält, ist längst erwiesen, trotzdem stellt er einen wesentlichen Bestandteil der Entwicklungszusammenarbeit dar. Das Kapital übt seine Macht über „die Märkte“ aus, seine Interessen stehen über denen der Menschen und gefährden sogar die Unabhängigkeit internationaler Organisationen wie der UN.

Für die überwältigende Mehrheit der Menschen in Afrika (und der Welt) gilt, dass sie, je fester die Konzerne ihre Macht verankern, desto unwichtiger und überflüssiger werden. Einige wenige Leute, insbesondere in rohstoffreichen Ländern, haben von dieser Situation tatsächlich enorm profitiert, und die werden auch weiterhin profitieren. Insgesamt aber können sich in diesen Ländern nur solche Industriezweige entwickeln, die den kapitalexportierenden Ländern nützlich sind, weil sie zu niedrigen Kosten weitere Profite generieren. Es ist ein verzerrtes Wachstum, das extrem geringe Trickle-down-Effekte bewirkt, weshalb wir nicht sicher sind, ob der Hahn überhaupt aufgedreht ist, aus dem dieses Rinnsal tröpfelt.

Afrikas Böden sollen die Welt ernähren

Mit dem Landgrabbing hat die Vereinnahmung der Ressourcen Afrikas, die Ursache für das Fortbestehen der Unterentwicklung auf dem Kontinent, eine neue Stufe erreicht, die mit einem beängstigenden Ausverkauf der Natur einhergeht. „Was landwirtschaftlich nutzbare Flächen angeht, gibt es nur noch in Afrika Neuland zu erobern“, sagt James Nyoro, Afrika-Geschäftsführer der Rockefeller Foundation. „Wenn die Weltbevölkerung auf die prognostizierten neun Milliarden anwächst, wird der Rest der Welt darauf angewiesen sein, dass Afrika ihn ernährt.“9 Um diesen Rest zu ernähren, werden die Agrarflächen Afrikas mit alarmierender Geschwindigkeit versteigert.

Das International Food Policy Research Institute geht davon aus, dass nach dem extremen Preisanstieg für Lebensmittel im Jahr 2008 in Afrika zwischen 15 und 20 Millionen Hektar Agrarflächen verkauft worden sind, beziehungsweise über deren Verkauf verhandelt wurde. Obwohl auf all diese Flächen Besitzansprüche bestehen (von denjenigen, die sie bearbeiten und nutzen), werden diese oft nicht anerkannt, weil Gemeinden, Kleinbauern und Pächter in einem Modell, das Märkte und Unternehmen bevorzugt, ihre Ansprüche nicht formell geltend machen können. Jede nichtkommerzielle Nutzung des Bodens, auch zu medizinischen oder spirituellen Zwecken oder auch nur als Weideland, wird einfach ignoriert, um Platz zu machen für Riesenprojekte, mit denen sich große Gewinne erzielen lassen.

Der Druck auf die natürlichen Ressourcen hat darüber hinaus ein Wettrennen zur Patentierung der Natur ausgelöst – mit dem Griff nach Grund und Boden, nach Seen und Flüssen werden Flora und Fauna in Waren umgewandelt. Bereits jetzt wird mit größeren PR-Kampagnen versucht, Regierungen und Kleinbauern davon zu überzeugen, dass sich das Problem der Nahrungsmittelunsicherheit mithilfe von genetisch veränderten Organismen (GVO) lösen lasse. Von der Marktabhängigkeit und der Monokultur, die sich die ohnehin an den Rand gedrängten Kleinbauern damit einhandeln würden, ist dabei allerdings nicht die Rede.

Das wichtigste Landwirtschaftsprogramm Afrikas ist das Comprehensive Africa Agriculture Development Programme (CAADP) unter Federführung der Neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung (Nepad). Mit diesem Programm ist die Hoffnung verbunden, dass Afrikas Entwicklung durch die Landwirtschaft vorangebracht werden könne. Wenn die Bauern an der Marktwirtschaft teilhaben und Zugang zu den Märkten erhalten, werde es Afrika vielleicht gelingen, „aus seinen Stärken und Wettbewerbsvorteilen Kapital zu schlagen und zum Nettoexporteur landwirtschaftlicher Produkte zu werden“.10

Nach den derzeit gültigen Modellen wirtschaftlicher Entwicklung kann es weder Wachstum noch Profit geben, wenn Leute nur das konsumieren, was sie selbst produziert haben. Dass diese „Nullproduktion“ in Wahrheit Millionen Samen reproduziert, spielt keine Rolle. Folglich gelten die sogenannten Subsistenzbauern, in der Mehrheit Frauen, für die Wirtschaft als unproduktiv und verzichtbar. Sie tragen schließlich nicht zum Wirtschaftswachstum bei. So betrachtet sind Bauern, die aus jeder Ernte Saatgut für die nächste Aussaat aufbewahren, Teil des Problems. Der Markt hingegen privatisiert und patentiert das Saatgut und verkauft es dann an die Bauern, um sie „in den Markt einzugliedern“ – und im Endeffekt in die Verschuldung zu treiben. Gegen dieses Modell, das die großen „Entwicklungspartner“ wie die Gates Foundation und die Alliance for a Green Revolution in Africa (Agra) mit aller Kraft vorantreiben, setzen sich die afrikanischen Bauern zur Wehr. Mit gutem Grund, denn die Maßnahmen, die Agra und die G-8-Länder ergreifen, sind in erster Linie darauf gerichtet, internationalen Agrarriesen wie Yara, Monsanto und Cargill neue Märkte zu eröffnen.

„Westliche Politiker reden gern davon, dass sie den Hunger beenden wollen“, erklärt Francis Ngang, Geschäftsführer des Afrikanischen Instituts für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (Inades). „Dabei werden hinter dem Rücken der Afrikaner Saatgut- und Handelsgesetze nach dem Willen der Agrobusiness-Giganten ‚harmonisiert‘. Die jahrtausendelangen Anstrengungen der Bauern Afrikas sollen privatisiert und ausgebeutet werden, während traditionelle und lebendige Praktiken wie das Aufbewahren und Teilen von Saatgut kriminalisiert werden.“11

Erzbischof Tutu hat einmal gesagt: „Als die Missionare nach Afrika kamen, hatten sie die Bibel und wir das Land. Sie sagten: ‚Lasst uns beten.‘ Wir schlossen die Augen. Als wir sie wieder öffneten, hatten wir die Bibel und sie das Land.“12 Ein ähnliches Phänomen hat sich nun bei der nächsten Welle der Landnahme wiederholt: die Ausbreitung religiöser und anderer Fundamentalismen, die importiert und von den Afrikanern bereitwillig und entschlossen übernommen wurden. Wir haben voller Begeisterung Frauenfeindlichkeit und patriarchale Strukturen durch Gesetze festgeschrieben und durch Gewalt fortgesetzt, die jeden treffen kann. Und dabei haben wir die Augen vor dem ungeheuren Diebstahl an unserer Ressourcen verschlossen, der die Besitzverhältnisse und die Beziehung der afrikanischen Völker zum afrikanischen Land wahrscheinlich ebenso grundlegend verändern wird wie die Geißel des Kolonialismus.

„Die Menschen bringen die Entwicklung eines Landes voran und nicht das Geld. Das Geld und seine Verkörperung in Gestalt des Reichtums sind das Ergebnis und nicht die Grundlage der Entwicklung“, hat Julius Nyerere, der Staatsgründer Tansanias, einmal gesagt. Vielleicht sollten wir nach den Worten dieses „Vaters des afrikanischen Sozialismus“ Entwicklung neu definieren. Wir können umsteuern, können, statt auf Konsum und Gewinnmaximierung zu schielen, unsere Werte neu gewichten, auf Nachhaltigkeit, Erneuerbarkeit und Vielfalt setzen. Die Entwicklung muss die Menschen in den Blick nehmen, nicht den Markt.

Maendeleo heißt Fortschritt auf Kisuaheli

Afrika braucht dringend eine Blaupause für seine Zukunftsfähigkeit. Dabei darf das Thema Entwicklung nicht allein dem globalen Süden überlassen bleiben. Entwicklung betrifft die Frage, wie wir leben wollen, wir alle, wo auch immer wir uns in diesem historischen Augenblick befinden; die Frage, wie wir gemeinsam und solidarisch mit den Ressourcen, über die wir verfügen, umgehen wollen. Weil die Lösungen, die die bestehende Wirtschaftsordnung anzubieten hat, nach wie vor von den Märkten vorgegeben sind, reicht es nicht, die Wirtschaft „grüner“ zu machen. Wir müssen es schaffen, Entwicklung zu „entkolonisieren“.14

In manchen Ländern gibt es bereits Bemühungen um einen Paradigmenwechsel in der Entwicklungspolitik: Im Rahmen von Maendeleo15 (Kisuaheli für Fortschritt) wurde in Tansania ein Entwicklungskonzept erarbeitet, das die Menschen in den Mittelpunkt stellt und auf Eigenverantwortung und kollektive Entwicklung setzt. In der Verfassung Ecuadors steht das aus der indigenen Tradition der Anden- und Amazonasregion stammende Konzept des Buen Vivir, das Harmonie und Gleichgewicht mit der Natur und den Mitmenschen anstrebt, als Gegenentwurf zum kapitalistischen Gesellschaftsmodell.16

Eine weltumspannende entkolonisierte Entwicklung würde nicht mehr auf alibihaften Beratungen beruhen, sondern auf einem von den Menschen herbeigeführten Wandel. Dazu müssen wir unsere Fantasie befreien und es wagen, eine Zukunft zu erfinden, die auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung aufbaut. Die Kleinbauern der Welt, die zusammen 70 Prozent der Nahrungsmittel der Welt (Unep, 2011) produzieren, müssen sich einigen, was landwirtschaftlicher Fortschritt eigentlich sein soll und wie sich Unabhängigkeit in der Nahrungsmittelversorgung erreichen lässt. Das Wissen und die Praxis der Bauern und Gemeinden müssen zur Grundlage für die landwirtschaftliche Forschung, Bildung und technologische Entwicklung werden. Da die Frauen oft die Hüterinnen dieses Wissens sind, müssen sie die führende Rolle bei der Verbreitung und Erweiterung der für Kleinbauern nützlichen Wissensgrundlage spielen.

Da die Städte, die einstigen Produktionszentren, inzwischen zu Konsumzentren geworden sind, müssen neue Arrangements getroffen werden, um Zugang und Zufriedenheit für alle zu ermöglichen, anstatt Lösungen zu suchen, die letztlich auf eine Klima-Apartheid hinauslaufen.17 Die Krankheit Fundamentalismus darf nicht länger als Kampf der sogenannten Kulturen und Traditionen gegen die Moderne aufgefasst werden. Wenn all das gelingt, erübrigt sich Entwicklungshilfe. Stattdessen würden wir im Verständnis unserer gemeinsamen Menschlichkeit und der Notwendigkeit der Solidarität die ganze Welt weiterentwickeln.

Überall auf der Welt gibt es Nischen mit Bürgerbewegungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, eine umfassende, Teilhabe ermöglichende Demokratie zu entwerfen und gesellschaftliches Wohlergehen ebenso wie Entwicklungskonzepte einzubeziehen. Wir werden immer wieder hin und her gerissen sein zwischen Konsolidierung und Überdenken des Erreichten, zwischen Handeln und neuer Veränderung. Das wird nicht in einem Augenblick geschehen, sondern durch in zahllose Experimente. Und dafür brauchen wir nicht zuletzt die Bereitschaft, Fehler zu machen und es immer wieder erneut zu versuchen.

Fußnoten:

1 Oxfam International: „Die wohlhabenden Eliten haben die politische Macht an sich gerissen, um die wirtschaftlichen Spielregeln zu manipulieren, die Demokratie auszuhöhlen und eine Welt zu schaffen, in der die 85 reichsten Menschen so viel besitzen wie die Hälfte der Weltbevölkerung.“ www.oxfam.org/en/policy/working-for-the-few-economic-inequality, 20. Januar 2014. 2 „A New Global Partnership: Eradicate Poverty and Transform Economies Through Sustainable Development“, UN-Bericht über die Agenda der Millenniumsentwicklungsziele nach 2015: report.post2015hlp.org. 3 Siehe „Tax Us If You Can. Why Africa Should Stand up for Tax Justice“, Tax Justice Network-Africa (2005), S. 18. 4 Herausgegeben von der African Development Bank, der OECD, dem United Nations Development Programme und der UN Economic Commission for Africa. 5 Berlin (Wagenbach) 1975; Originaltitel: „How Europe Underdeveloped Africa“, London (Bogle-L’Ouverture Publications) 1972. 6 www.un-documents.net/a25r2626.htm. 7 Siehe www.post2015hlp.org. 8 Siehe Jason Hickel, „Flipping the corruption myth“: www.aljazeera.com/indepth/opinion/2014/01/flipping-corruption-myth-201412094213280135.html. 9 Zitiert nach: Katy Migiro, „Can an African ‚Green Revolution‘ help feed the world?“, Kenia, Mai 2012: www.reuters.com/article/2012/05/02/us-hunger-africa-greenrevolution-idUSBRE8410GY20120502. 10 www.nepad-caadp.net/text-version/about-caadp.php. 11 allafrica.com/stories/201306140547.html. 12 Zitiert nach Steven Gish, „Desmond Tutu: A Biography“, Westport, Connecticut (Greenwood Publishing Group) 2004. 13 Julius Nyerere: „The Arusha Declaration and TANU’s Policy on Socialism and Self-Reliance“, 1967. 14 Der Agrarwissenschaftler Michel Pimbert ist der Meinung, Afrika könne Nahrungsmittelsouveränität nur erreichen, wenn es „die soziale Imagination entkolonisiert und vom neoliberalen Dogma befreit. Die gegenwärtige Wachstumspolitik im Bereich Nahrungsmittel und Landwirtschaft kommt einem wirtschaftlichen Genozid gleich, weil sie die Lebensgrundlagen von Millionen Kleinbauern auf der ganzen Welt zerstört.“ In: „Transforming Knowledge and Ways of Knowing for Food Sovereignty“, IIED, 2006. 15 www.maenedeleoafricaconference.com. 16 awid.org/Library/The-Feminist-Perspectives-Towards-Transforming-Economic-Power-Topic-3-Buen-Vivir. 17 Vgl. den Artikel von Martin Lukacs, „New, privatized African city heralds climate apartheid“, Guardian, 21. Januar 2014: www.theguardian.com/environment/true-north/2014/jan/21/new-privatized-african-city-heralds-climate-apartheid. Aus dem Englischen von Thomas Brückner Hakima Abbas ist Politikwissenschaftlerin und unterstützt aktiv die Bewegungen für den Wandel in Afrika und im Nahen Osten. Dieser Aufsatz beruht auf dem Vortrag „Decolonizing Development: An African Feminist Perspective“, gehalten im OSI-Club der Freien Universität Berlin im Januar 2014.

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