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Juni 2014 | «Ihre Erfolge haben die internationalen Frauenbewegungen entradikalisiert»

Nur weil internationale Institutionen wie Weltbank und EU das «weibliche Humankapital» verstärkt nutzen wollen, sei die Gleichstellung der Geschlechter näher gerückt, sagt die Feministin Christa Wichterich. Mehr Handlungsmacht hätten die Frauen aber deswegen nicht. Noch nicht. Interview mit Christa Wichterich, erschienen in der WOZ/Wochzeitung (Nr. 26/2014 vom 26.06.2014)

WOZ: Christa Wichterich, im Globalen Süden, das heisst in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern, ob in Indien, Südafrika oder China, widersetzen sich Frauen der ihnen zugedachten Rolle. Was macht eine erfolgreiche Frauenbewegung aus?
Christa Wichterich: Die westlichen Medien haben in jüngster Vergangenheit widerständige Frauen im Globalen Süden verstärkt wahrgenommen, zum Beispiel während der arabischen Revolutionen, wo Frauen stark an den Protesten beteiligt waren, oder auch nach den jüngsten Vergewaltigungen in Indien. Frauenbewegungen – und zwar oft vitalere als bei uns – gibt es aber im Süden seit langem. Sie haben sich sichtbar und hörbar gemacht, Widerstand geleistet, Gegenmacht aufgebaut – das ist schon ein Erfolg.

Der aber zum Teil vorübergehend war. Wann erreichten die Frauenbewegungen einen Höhepunkt?
Das war im Westen in den siebziger, achtziger Jahren, im Globalen Süden meist etwas später. In den neunziger Jahren gab es eine Reihe von Uno-Konferenzen zu sozialen Themen, die für die Frauenbewegungen eine sehr wichtige Rolle spielten: 1992 die Umweltkonferenz in Rio de Janeiro, dann eine Menschenrechtskonferenz, eine Bevölkerungskonferenz und schliesslich die vierte Weltfrauenkonferenz in Beijing 1995. In dieser Phase entwickelten sich eine Transnationalisierung der Frauenbewegungen und eine internationale Debatte im Rahmen des Menschen- und Frauenrechtskonzepts. Davor stritten sich Frauen aus dem Westen, Süden und Osten über Prioritätensetzung, unterschiedliche Perspektiven und die Dominanz der westlichen Feministinnen. Aber in den neunziger Jahren bildeten Frauenbewegte aus allen Kontinenten ein strategisches Bündnis, eine Verschwisterung mit dem Ziel, die Frauenrechtsagenda global durchzusetzen. Das löste eine Welle an Aktivismus und Sichtbarkeit auf internationaler Ebene aus. Damals gab es auch – was ich besonders spannend fand – deutliche Stimmen, die sagten: «Wir wollen kein grösseres Stück vom vergifteten Kuchen.»

Diese Treffen bewirkten also mehr als das sonst eher nutzlose internationale Konferenzwesen?
Damals gab es nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung eine Aufbruchstimmung und viel Hoffnung auf ein weltbürgerliches demokratisches System von Global Governance. Dazu gehört die starke Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Vielen Frauenorganisationen, vor allem aus dem Süden und dem Osten, ermöglichte dies, in die internationale Politik einzusteigen. Themen, die sie national nicht durchsetzen konnten, wollten sie über den Umweg der internationalen Politik, nämlich mithilfe von internationalen Normen und Aktionsprogrammen, auf die nationale Ebene bringen und so ihre Regierungen unter Druck setzen.

Das war mithin ein gemeinsamer Erfolg der Frauen im Süden wie der im Norden?
Vorangetrieben wurde dies damals von einer Elite von Frauen, der Global Women’s Lobby. Das waren Powerfrauen sowohl aus dem Norden wie auch aus dem Süden. Mit dem Slogan «Uns verbindet mehr, als uns trennt» traten sie nach aussen als «wir Frauen» auf, um für das Gemeinsame zu kämpfen. So wurde für eine gewisse Zeit eine Identität politisch und strategisch konstruiert, obwohl alle wussten, dass sich unter diesem Dach viele Differenzen verbargen. Das war die richtige Strategie zum richtigen Zeitpunkt und führte zum Erfolg bei der Uno. Der war für den Süden in vielen Punkten bedeutender als für uns im Norden.

In welchen Punkten?
Etwa beim Thema «Gewalt gegen Frauen», von der Gewalt in der Familie bis zu Genitalverstümmelungen, die in Uno-Dokumenten als Menschenrechtsverletzung geächtet werden. Da gab es tatsächlich Fortschritte dadurch, dass internationale Normen in nationale Gesetze übersetzt wurden. In Jordanien beispielsweise konnten die sogenannten Ehrenmorde als Verbrechen strafrechtlich verfolgt werden. In Deutschland ist Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997, also im Nachgang zur Beijinger Frauenkonferenz, strafbar.

Gibt es weitere Beispiele?
Entscheidend war, dass Frauen jetzt als Rechtssubjekte, nicht als Bittstellerinnen wahrgenommen wurden. Sie betteln also nicht um mehr Bildung, gesundheitliche Versorgung, sexuelle und reproduktive Rechte, politische Partizipation und Gleichstellung, sondern sie haben ein Recht darauf. Das Recht, Rechte zu haben, um es mit Hannah Arendt zu formulieren – das haben die Frauen in diesen Jahren gelernt.

Auf der Ebene der Menschen- und Frauenrechte kam es also zu Schritten nach vorn. Haben diese Erfolge die Frauenbewegungen beflügelt?
Der Erfolg war leider auch mit ein Grund dafür, dass Bewegungen ermüdeten und entradikalisiert wurden. Denn nun übernahmen häufig staatliche Instanzen die Aufgabe, für mehr Gleichstellung und die Umsetzung der Uno-Normen zu sorgen. In Deutschland wurden beispielsweise flächendeckend Gleichstellungsbeauftragte eingesetzt. Natürlich ist es ein Erfolg, wenn der Staat sich darum kümmert. Aber damit verschob sich der Fokus auf die Politik, was wir «Staatsfeminismus» nannten, während die Bewegungen bröckelten. Gleichzeitig veränderten sich Bewegungen: Sie wurden zu NGOs, konzentrierten sich auf Einzelinteressen und Einzelidentitäten, spezialisierten und professionalisierten sich. Viele liessen sich in die Regierungspolitik einbinden, was wiederum die Bewegungen schwächte.

Ist das nur bei Frauenbewegungen zu beobachten oder bei allen nichtstaatlichen Organisationen?
Spezialisierung, Professionalisierung, Fragmentierung und Einbindung in Mainstreampolitik oder auch Vereinnahmung – das trifft im Prinzip auf alle zu.

Drifteten die Interessen auseinander oder die Themen?
Es gab in Frauenbewegungen wie in allen anderen Bewegungen immer schon Interessenunterschiede. Denken Sie nur an die bürgerliche und die proletarische Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und jetzt fühlten sich Migrantinnen und Schwarze nicht durch weisse Frauen repräsentiert. Behinderte artikulierten spezielle Interessen und Identitäten, Lesben betonten ihre andere Orientierung. Aus dem Globalen Süden gab es selbst in der Hochzeit der strategischen Verschwisterung kritische Stimmen, etwa die der postkolonialen Philosophin Gayatri Spivak, die sagte: «Ich bin keine Schwester.» Sie verweigerte sich dem «Wir-Frauen-Konsens» und der Strategie der Einheitsfront von Frauen, wenn es um Rechte geht. Als die ersten Fortschritte erreicht waren, brachen die unterschiedlichen Interessen wieder stärker durch.

Der Zerfall war also die Folge des Erfolgs?
Ja, so kann man es auch sehen.

Wenn ich eine starke Bewegung habe, die ihr Ziel erreicht und anschliessend in zehn selbstbewusste kleinere Bewegungen zerfällt, dann ist das doch gut. Politische Kraft liegt doch auch in der koordinierten Vielfalt.
Das stimmt. Aber die Abgrenzungen dominieren oft und torpedieren die Bemühungen um eine Koordination der Vielfalt. Es fehlt an Verknüpfungen, an strategischen Allianzen, an der Bündelung von Gegenmacht. Die Zivilgesellschaft ist eben auch ein Feld der Konkurrenz, Konkurrenz um Positionen, Gelder, Wahrnehmung und Macht. Die Zivilgesellschaft ist kein herrschaftsfreies Feld des kommunikativen Handelns, wie Jürgen Habermas das idealiter beschrieben hat. Die Zivilgesellschaft muss Stärke durch Vernetzung und Kooperation bilden, wenn sie handlungsfähig und handlungsmächtig sein will. Ausserdem wird die Zivilgesellschaft – auch als eine Folge der Demokratisierung – immer komplexer und heterogener. Das bedeutet, dass auch konservative, fundamentalistische und sogar repressive Kräfte sich ausdifferenzieren und erstarkt sind. Im Bereich der Frauenrechte hat sich zum Beispiel mit der unheiligen Allianz zwischen dem Vatikan, Evangelikalen in den USA und islamistischen Staaten ein heftiger Widerstand neokonservativer und fundamentalistischer Kräfte gegen sexuelle und reproduktive Rechte entwickelt.

Warum konnte das nicht im guten Sinn zwischen den verschiedenen Bewegungen austariert werden? War das ein Versagen von Führungsfiguren?
Die zunehmende Heterogenität und das Auseinanderdriften zivilgesellschaftlicher Bewegungen haben nichts mit dem Versagen von Führungsgestalten zu tun. Die Triebkräfte waren unterschiedliche Interessen, Identitäten und politische Positionen – das ist ja kein Spezifikum von Frauenbewegungen.

Kehren wir noch einmal zu den Ländern des Globalen Südens zurück und zu Ihrer These der Vereinnahmung. Bedeutet das, dass Frauenbewegungen dort stark sind, wo der Staat bei der Umsetzung der internationalen Normen versagt – beispielsweise in Indien?
Indien ist ein Paradebeispiel für einen Staat, in dem die formale rechtliche Lage geradezu wunderbar ist. Meine Freundinnen dort sagen mir immer: «Wir kriegen für alles gute Gesetze – aber darauf folgt nichts.» Die brutalen Massenvergewaltigungen, die seit über einem Jahr Schlagzeilen machen, gibt es in Indien schon sehr lange, und es gibt Gesetze dagegen. Aber erst in letzter Zeit ist es der Frauenbewegung dort gelungen, dies zu einem breiten öffentlichen Thema zu machen. In dem Fall hatten Frauenbewegungen als Reaktion auf das jahrelange Versagen des Staats sehr wohl die Kraft, etwas in Bewegung zu bringen und voranzutreiben.

Dies wird offenbar dann zu einem Erfolg in einer breiteren Öffentlichkeit, wenn die Frauenbewegungen Themen verbinden, wie dies in Indien der Fall ist. Sie klagen Gewalt gegen Frauen an und zugleich die Korruption im Staat. Der Zusammenhang ist klar. Die Komplizenschaft von Politik und Patriarchat in diesem korrupten Staatswesen ist der wesentliche Grund dafür, warum nie nennenswert gegen die Gewalt an Frauen vorgegangen wurde. Die Staatsmacht in Form der Polizei und der Militärs gehört selbst sogar zu den Hauptvergewaltigern.

Nochmals zur sozialen Frage: Immerhin wurde in Südasien versucht, Frauen wirtschaftlich zu stärken.
Für mich ist eigentlich alles, worüber wir sprechen, eine soziale Frage. Aber Sie meinen sicher vor allem das Ökonomische. Also: In den vergangenen Jahrzehnten kam es zu einer Feminisierung der Beschäftigung, immer mehr Frauen sind erwerbstätig. Aber der Prozess – ich nenne ihn paradoxe Integration – ist höchst ambivalent. Der Arbeitsmarkt ist stark geschlechtsspezifisch segmentiert, und überall gibt es ein Lohngefälle zwischen Männern und Frauen. Denken Sie an die Textilindustrie in Bangladesch oder auch in Südindien. Da arbeiten viele junge Frauen oft unter verheerenden, teilweise sklavereiähnlichen Bedingungen. Sie tun das häufig mit dem Ziel, ihre eigene Mitgift zu verdienen. Das stabilisiert ein fürchterliches patriarchales System, in dem die Ungleichheit der Geschlechter ökonomisiert wird. Um nichts anderes handelt es sich ja bei der Mitgift: Die Brautfamilie zahlt Unsummen, damit die Bräutigamsfamilie die Tochter «aufnimmt».

Aus feministischer Perspektive gilt Erwerbstätigkeit per se als ein wichtiger emanzipatorischer Schritt und ein Zugewinn an Handlungsmacht. Das stimmt auch für die jungen Inderinnen, sowohl für die Dalit-Frauen in der südindischen Textilindustrie wie auch für gut ausgebildete Frauen aus Mittelschichten, die in den Callcentern arbeiten. Sie sind einerseits mithin in die globalisierte, teils höchst moderne Erwerbswelt integriert und brechen verschiedene Geschlechterstereotype auf, indem sie zum Beispiel – bisher ein Tabu in Indien – nachts arbeiten. Andererseits tun sie dies vor allem, um ihre Mitgift zu finanzieren, also das patriarchale System zu erhalten.

Die positive Entwicklung bei der Integration durch Erwerbsarbeit stabilisiert gleichzeitig ein patriarchales System. Was ist das nun: Fortschritt oder Rückschritt?
Das ist ein nicht auflösbarer Widerspruch, ein fürchterliches Dilemma: Die Exklusion von Frauen war ein Problem, die Inklusion bringt aber auch viele Probleme und ändert keineswegs automatisch die Geringschätzung. Die Marktintegration bestätigt soziale Ungleichheiten, setzt Diskriminierung und Marginalisierung fort. Wenn etwa bisher unbezahlte Haus-, Sorge- und Pflegearbeit zur Erwerbsarbeit wird und man sie in den Markt integriert, wird sie extrem gering bewertet und miserabel bezahlt. Sie bestätigt damit auch die geschlechtsspezifische, hierarchische Arbeitsteilung.

Hat denn der Versuch funktioniert, insbesondere Frauen durch Mikrokredite zu stärken?
Die Mikrokredite wurden lange als Wundermittel gehandelt, um Frauen aus der Armut zu befreien. Unterstellt wurde dabei, dass die Frauen den Kredit produktiv investieren, um Geld zu verdienen, um beispielsweise Hühner zu züchten oder einen Kiosk zu eröffnen. Das haben aber die wenigsten getan. Meistens brauchen sie den Kredit für medizinische Notfälle, um alte Schulden zu begleichen, die Kinder in die Schule zu schicken, um eine wichtige Anschaffung zu machen oder auch um eine Hochzeit auszurichten. Trotzdem haben die Frauen die Kredite zurückgezahlt, und das wurde überall als grosser Erfolg gefeiert.

In Ihren Texten haben Sie das Mikrokreditsystem jedoch auch als neoliberales Herrschaftsinstrument kritisiert.
Die Kreditvergabe ging zum Beispiel in Indien nach der Liberalisierung der Finanzmärkte in die Hände kommerzieller Finanzinstitute über. Diese überschwemmten die Dörfer mit Kreditangeboten, oft mit Zinsen von über dreissig Prozent. Die Frauen – listig – nutzten dieses Überangebot, indem sie einen zweiten und dritten Kredit aufnahmen, um den ersten und zweiten zurückzuzahlen. So kam es zu der hohen Rückzahlungsquote und gleichzeitig zu einer Verschuldungsspirale. Dadurch haben jetzt die Einzelnen, nämlich die Frauen, die Verantwortung, die Armut zu managen. Das ist eine typische neoliberale Verschiebung von Verantwortung an die Einzelnen, ohne an den Bedingungen der Armut etwas zu ändern. Aber es gibt auch Modelle von Sparen und Kreditvergabe, die die Frauen wirklich ermächtigen können.

Und welche strategischen Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Die Frauen müssen diese Widersprüche erkennen, wie sie in der Textilindustrie ausgebeutet oder von Mikrofinanzinstituten über den Tisch gezogen werden. Aber die Frauen brauchen auch Alternativen, denn sie wollen ja kurzfristige Lösungen ihrer Probleme. In Indien existiert die Gewerkschaft selbst beschäftigter Frauen Sewa, die eine eigene Non-Profit-Bank hat (siehe WOZ Nr. 36/09, d. Red.). Die Frauen selbst entscheiden, was mit den Krediten geschieht. Sewa weiss genau, dass es viele Frauen gibt, die Kredite für medizinische Kosten oder andere Notfälle benötigen – und diese Frauen können nicht sofort mit der Rückzahlung beginnen, während die Mikrofinanzinstitute auf einer raschen Rückzahlung bestehen. Gleichzeitig hat Sewa Kooperativen aufgebaut und ein eigenes soziales Sicherungsnetz vom Mutterschutz bis zur Unfallversicherung entwickelt.

Gibt es Wechselwirkungen? Sind Frauenbewegungen im Westen dann stark, wenn die Bewegungen im Süden aktiv sind – und umgekehrt? Oder haben beide nichts miteinander zu tun?
Natürlich gibt es Wechselwirkungen. Interessant ist dabei, dass sich im Süden und Osten viele junge Frauen engagieren, während die westliche Frauenszene ja ein Generationenproblem hat. Es ist ein ständiger Lernprozess, in dem wir andere Frauen- und feministische Positionen erst mal akzeptieren müssen. Zum Beispiel wenn islamische Feministinnen in der Türkei oder Tunesien sagen: «Für uns bedeutet Freiheit, dass wir nach Jahren der Unterdrückung nun mit dem Kopftuch an die Uni gehen dürfen.» Die Auseinandersetzungen zwischen liberal-westlich orientierten Feministinnen und Musliminnen während des sogenannten Arabischen Frühlings haben ja auch gezeigt, wie sich innerhalb dieser Länder Positionen immer weiter ausdifferenzieren und voneinander entfernen. Ich scheue mich zunehmend, mich da einzumischen.

Woher kommt Ihre Scheu?
Sie kommt aus dem Wissen, dass der Westen immer seine Werte und Interessen in den Süden transportiert, mit der Entwicklungshilfe, mit der Handelspolitik, in allen möglichen Kooperationen. Das galt in der kolonialen Vergangenheit und gilt heute auch.

Auch für die Frauenbewegungen?
Natürlich. Aus einer postkolonialen Sicht werfen uns Wissenschaftlerinnen aus dem Süden Bevormundung und Imperialismus vor, weil wir immer behaupten zu wissen, was richtig ist und wo es langgeht. In den letzten Jahren hat diese Kritik massiv zugenommen, auch von Migrantinnen. Diese Abwehr von politischer Bevormundung und die Aufforderung, den Eurozentrismus kritisch zu reflektieren, sind völlig berechtigt. Die grosse Frage ist: Wie lässt sich noch Gemeinsames identifizieren, und welche neuen Formen von Solidarität können wir auf dieser Grundlage erfinden?

Welche Rolle spielen die Frauenbewegungen in Westeuropa angesichts der jetzigen Krise, die Frauen besonders trifft?
Besonders in Spanien waren feministische Gruppen stark an den Protesten gegen Job- und Sozialabbau beteiligt. Den Krisenländern wird ja ein wahnsinniger Sozialabbau aufgezwungen, in Griechenland ist das Gesundheitswesen förmlich kollabiert, die Basisversorgung in hohem Masse prekär geworden. Dort gibt es viele Einzelinitiativen, die von Frauen getragen werden: kleine Produktionsgenossenschaften, Verbraucherkooperativen, Tauschbörsen. Frauen sind die treibenden Kräfte, sie sind die Praktischen. Vieles entstand aus der schieren Not, wie die Kartoffelmärkte, die die extrem hohen Preise in den Supermärkten umgehen.

Ist das nur eine Antwort auf die blanke Not? Oder steckt darin auch der Kern für ein künftiges Wirtschaften, für eine «Rückgewinnung souveräner Produktion», wie Sie das einmal nannten?
Diese Ansätze können durchaus Modellcharakter haben. Hier werden Alternativen zur konzerngesteuerten kapitalistischen Ökonomie erprobt. Aber man kann noch nicht sagen, ob das zu einem dauerhaften anderen Wirtschaften führt.

Sind auch die Tafelbewegung in Deutschland oder die britischen Suppenküchen solche Überlebenshilfen für den Moment?
Das sind ja eigentlich ehrenamtliche Tätigkeiten – wieder meist von Frauen – zur humanitären Hilfe. Die Tafelbewegung hat ja nicht den Anspruch, strukturell etwas an Armutsbedingungen zu ändern, sondern schafft nur einen kleinen Ausgleich, lindert die Not, also Hilfe zum Überleben.

Werden jetzt die Fortschritte zerschlagen, die die Frauenbewegungen in den achtziger und neunziger Jahren erreicht haben?
Ja, einiges wird zerschlagen, aber Bewusstseinsänderungen sind nicht einfach zurückzudrehen. In Deutschland ist dieses Zerschlagen weniger zu spüren, obwohl beispielsweise die Finanzierung für Frauenhäuser abgebaut ist, Frauen bei Hartz IV wieder von der Familie als «Bedarfsgemeinschaft» abhängig gemacht oder mit der Herdprämie, dem Betreuungsgeld, wieder ans Haus gebunden werden. In Griechenland und Spanien hingegen gibt es massive Rückschritte. Dort haben die Frauen in den Jahren vor der Krise in der Erwerbsarbeit einen grossen Sprung nach vorn getan, auch in der Gesetzgebung und hinsichtlich der Prozesse, wie sich die Gesellschaft sozial reproduziert. Doch dann wurden die Frauen zuhauf auf die Strasse gesetzt. Sie konnten ihren Bildungsvorsprung nicht in sichere Einkommen umsetzen. So sind junge Frauen unter den unglaublich vielen jugendlichen Arbeitslosen überdurchschnittlich vertreten. Ausserdem soll in Spanien Abtreibung jetzt wieder verboten werden.

Dagegen haben in Deutschland zunächst mehr Männer ihre Jobs verloren oder mussten kurzarbeiten. Die Frauen hingegen, die vor allem im krisensichereren Dienstleistungsbereich arbeiten, waren weniger stark betroffen. Allerdings verstärkte die Krise die allgemeinen Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt, nämlich zu mehr informeller, ungeschützter und prekärer Arbeit. Das heisst: Frauen bekamen zwar Arbeit, aber vor allem Minijobs, flexible Jobs, Teilzeitarbeit. Dieser Prozess betrifft durch Leiharbeit nun auch Männer. Durch die Krise ist die Rolle des männlichen Familienernährers in Westeuropa weiter erodiert. Mehr Frauen tragen einen wachsenden Teil der Verantwortung für die Familienernährung, oft indem sie mehrere Jobs kombinieren.

Wie wirkt sich das aus?
Wir sprechen von einer Krise der Männlichkeit. Der männliche Ernährer ist in eine Krise geraten. Die Frage ist, wie das kompensiert wird, welcher Ausgleich, welche neuen Identitäten dafür gefunden werden, dass der Mann den sicheren Vollzeitarbeitsplatz der fordistischen Produktion verloren hat. Das erzeugt andere Formen von Männlichkeit, aber auch von Weiblichkeit, weil mehr Frauen erwerbstätig sind.

Können Sie das näher erläutern?
Die Krise zeigt sich auch deutlich in einer Krise der sozialen Reproduktion. Einerseits schreiten der Sozialabbau und die Demontage öffentlicher Leistungen voran – denken Sie an rasche Entlassungen von Pflegebedürftigen nach Operationen aus dem Krankenhaus. Zum anderen können erwerbstätige Frauen weniger Reproduktionsarbeit leisten. Zur Zeit des männlichen Familienernährers waren die unbezahlten Sorgearbeiten – von der Hausarbeit über die Kinderbetreuung bis zur Altenpflege – eine Sache der Frauen; der Mann brachte ja das Geld heim. Das ist nun anders. Es ist ganz klar, dass andere Lösungen gefunden werden müssen, wenn man allein die Alterung unserer Gesellschaften und den wachsenden Betreuungsbedarf in Betracht zieht.

Das fordistische Familienmodell ist also erledigt. Ein Fortschritt?
Ja, das ist ein Fortschritt, da die bisherigen Strukturen, die die Frauen einseitig auf die Hausfrauenrolle festlegen, unwiderruflich aufgebrochen sind. Durch die Erwerbstätigkeit von Frauen ist vieles in Bewegung geraten. Es ist allerdings nicht zu der immer von Frauenbewegungen geforderten Teilung der Hausarbeit zwischen Männern und Frauen gekommen. Das Gros der Sorgearbeit erledigen immer noch die Frauen. Und ausserdem übernehmen schlecht bezahlte Migrantinnen Altenpflege und Hausarbeit. Das bedeutet eine neue Arbeitsteilung und Hierarchie zwischen Frauen aus verschiedenen sozialen Klassen und Ländern.

Und es gibt durch die Krise keine Rückschritte für Frauen auf dem Arbeitsmarkt?
Alle grossen Institutionen von der Weltbank bis zur EU bestehen darauf, «weibliches Humankapital» in den Markt einzubringen, um Wachstum und Produktivität anzukurbeln. Von daher gibt es innerhalb dieses wachstumsorientierten Regimes einen enormen ökonomischen Impuls für Gleichstellung. Das erleben wir derzeit bei der Diskussion über Quoten in den Führungsetagen. Rechte und Integration von Frauen werden gefördert, um auf den Weltmärkten konkurrenz- und innovationsfähig zu bleiben. Diskriminierung von Frauen, Migrantinnen, Behinderten und so weiter werden mit dem Stichwort «Diversität» da angegangen, wo sie für das Wachstum dysfunktional sind. Aber männliche Biotope etwa in Banken und der Finanzwelt bestehen weiterhin.

Macht diese Marktintegration Frauen handlungsmächtiger und eigenständiger?
Eigenständiger auf jeden Fall, obwohl die Erwerbstätigkeit der meisten Frauen nicht existenzsichernd ist. Handlungsmacht ist für mich aber auch immer etwas Kollektives. Dagegen sind die geschilderten Prozesse von einer starken Individualisierung begleitet. Bei uns gibt es die Alphamädchen, die F-Klasse, also Karrierefeminismus, der wie zuvor die Männer ebenfalls dem wirtschaftlichen Wachstumstopos dienen will. «Wir Frauen bringen das Schiff Deutschland wieder auf Vordermann», hiess es da in der Krise. Also neue Frauen mit alten Wachstumsmodellen und blanker individueller Handlungsmacht. Das ist neoliberales Empowerment.

Das Individuelle ist also auch bei den Frauen das Prägende, der kollektive Gedanke kaum vorhanden?
Individualisierung und Entpolitisierung gehen Hand in Hand. Wir erleben, wie Strukturen aus dem Blickfeld geraten. Die Frauenbewegungen früher haben stark die Strukturen von Ungleichheit thematisiert: zwischen Männern und Frauen, zwischen den sozialen Klassen, zwischen Nord und Süd. Heute wird weniger über Macht- und Herrschaftsverhältnisse geredet und mehr über die Rechte der Einzelnen. Die Politik ist bereit, Chancengleichheit für die Einzelnen voranzutreiben. Was die Einzelnen dann daraus machen, siehe das Beispiel Mikrokredite, ist ihre Sache. Das nenne ich eine neoliberale Chancengleichheit.

Aber wächst nicht der Anteil der Frauen in den Gewerkschaften? Es gibt doch zunehmend kollektive Konflikte, die von Frauen geprägt werden. Denken Sie an Streiks im Pflegebereich in Deutschland.
Es gibt in der Tat eine Feminisierung der Arbeitskämpfe in Deutschland und den benachbarten Ländern, vor allem im Gesundheits- und Sozialwesen. Ich fand es enorm, dass 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzmarkt- und Bankenkrise, die Beschäftigten der Kindertagesstätten gestreikt haben. Sie sagten: Es geht uns nicht um zwei Euro mehr. Es geht uns grundsätzlich um den Wert und die Wertschätzung unserer Arbeit. Dieses Moment zieht sich durch alle Proteste und Streiks der Sorgearbeiterinnen.

Dann lösen die Frauen die Männer nicht nur in der Ernährerrolle ab, sondern auch als Streikführerinnen?
Das stimmt.

Eine ganz andere Frage: Wenn es in einem Staat eine Kanzlerin und eine Verteidigungsministerin gibt – was sagt das über diesen Staat aus? Hat in ihm die Frauenbewegung gesiegt?
Angela Merkel sind die Themen der Frauenbewegung immer völlig fremd gewesen, auch als sie Frauen-und-so-weiter-Ministerin war. Sie erweckte immer den Eindruck, als habe das alles mit ihr nichts zu tun. Vermutlich konnte sie auch nur mit einer grossen Distanz zum Feminismus Kanzlerin werden. Trotzdem hat es eine symbolische Bedeutung, dass eine Frau sich so durchkämpft und behauptet in diesen Männlichkeitsstrukturen, diese aber auch für sich zu nutzen weiss. Sie ist ein Gegentypus zum Alphamann à la Gerhard Schröder. Und sie ist keine Thatcher-Frau. Merkel gewinnt, weil sie uneitel, schlicht und unideologisch wirkt, obwohl sie natürlich voll auf der Klaviatur der Macht spielt. Ihr derzeitiger Erfolg beruht darauf, dass sie sich in der Krise als Stabilitäts- und Wohlstandsgarantin profilieren konnte.

Kann von der Kanzlerin und ihrer Verteidigungsministerin, die in bisherigen Männerdomänen agieren, eine kulturelle Eigendynamik im Sinne der Frauenbewegungen ausgehen?
Merkels Durchsetzungsfähigkeit erntet weltweit grosse Bewunderung, gerade weil sie sich anders als Männer durchsetzt. Das ist ein Faszinosum und ein Gegenbild zu den sich offensiv strategisch gebenden männlichen Politikern. Ursula von der Leyen ist eine sehr strategische Machtpolitikerin, die nach dem Kanzleramt strebt. Dabei vertritt sie explizit Gleichstellungsziele, mit dem Elterngeld und jetzt mit der familienfreundlichen Bundeswehr. Eine Frau an der Spitze des Verteidigungsministeriums ist ein krasser Bruch mit Geschlechterrollen in der Politik.

Wie definieren Sie heute als politisch engagierte Wissenschaftlerin Fortschritt und Emanzipation?
Das Konzept Fortschritt sehe ich skeptisch, weil es eine Linearität unterstellt, die es nicht gibt. In allen Bewegungen, nicht nur der Frauenbewegung, erleben wir ein Auf und Ab, man mäandert, dreht Runden, es geht vor und zurück. Das zu wissen, ist sehr wichtig, um nicht zu oft Illusionen zu produzieren. Aber es muss natürlich weitergehen mit den globalen sozialen Rechten, die niemanden ausschliessen, die für alle gelten. Dazu gehört für mich auch, sich nicht mit den Verhältnissen in der Wohlstandsgesellschaft zu arrangieren und sich darin einzurichten, sondern Herrschaft und Macht immer wieder neu zu kritisieren und Alternativen zum Trend der Integration und der Anpassung an das Bestehende zu formulieren. Derzeit sind Alternativen für mich der Fortschritt. Auch Feministinnen sollten sich wieder öfter zum Programm machen: «Wir wollen nicht in den verseuchten Mainstream einbezogen werden.» Das herrschende System muss immer neu grundsätzlich infrage gestellt werden. Gleichzeitig ist die Utopie von der einen, der grossen Alternative dahin. Es lohnt sich jedoch, die Alternativen im Kleinen, im Alltag zu suchen. Und das ist die Spezialität von Frauen.

Es braucht also nicht mehr den grossen Entwurf?
Auch da kommen wir aus den Widersprüchen nicht heraus. Es dient einerseits dem System, wenn in Krisen die Frauen als diejenigen, die den Alltag bewältigen, Eigenverantwortung übernehmen, den Staat entlasten und Probleme auf eigene Initiative und Kosten lösen. Trotzdem sind das Wege, Neues und vor allem Gemeinschaftliches auszuprobieren, eine andere Form des Wirtschaftens zu denken und in den Überflussgesellschaften des Westens herauszufinden, was notwendig, was überflüssig, was genug ist. Dieses Wissen darüber, was genug ist, und sich darauf zu konzentrieren, was wir für ein gutes Leben brauchen, ohne ständig auf Kosten anderer und der Natur zu wirtschaften – das ist für mich ein emanzipatorischer Akt.

Und gibt es Zentren, die an Ideen arbeiten, die Sie als emanzipatorische Veränderung ansehen?
Es gibt viele Ansätze, bei denen praktisch nach Alternativen gesucht wird. Da ist beispielsweise die Bewegung der urbanen Landwirtschaft oder der Widerstand gegen die Privatisierung der Wasserversorgung, den Ausbau von Flughäfen, das Bahnprojekt Stuttgart 21, wo Bürgerinnen und Bürger sagen: Es reicht mit den ökonomischen Zwängen, dem Standortwettbewerb, der Anpassung an die Globalisierung. Wir brauchen keinen Tunnelbahnhof, wir wollen den öffentlichen Park erhalten. Dabei haben sie sich Protestformen aus dem Süden abgeschaut. Für mich war es ergreifend zu sehen, dass da Leute die Bäume umarmt haben – ein Gestus aus der indischen Chipko-Bewegung, einer Umwelt- und Frauenbewegung. Orte der Emanzipation sind für mich also überall dort, wo Menschen gemeinschaftlich etwas schützen oder schaffen und sagen: Die Ökonomisierung von allem, von der Natur wie den sozialen Beziehungen, muss eine Grenze haben. Wir sind nicht mehr bereit, dem alles unterzuordnen. An all diesen Orten wird Gegenmacht aufgebaut. Diese Abwehrkämpfe sind enorm wichtig, wo völlig intransparente, und das heisst undemokratische Räume entstanden sind: Stichwort Finanzmarkt, Stichwort NSA, Stichwort das geplante transatlantische Freihandelsabkommen TTIP. Denn hier werden un- beziehungsweise entdemokratisierte Rahmenbedingungen geschaffen, die die Möglichkeiten, Alternativen zu entwickeln, beschränken. Jede Gegenwehr, ob individuell wie durch Edward Snowden oder kollektiv, finde ich unterstützenswert. Es geht um viele kleine Schritte, viele kleine Übergänge und Transformationen, um die Ökonomie – nein: die ganze Gesellschaft – vom spekulativen und gefrässigen Kopf wieder auf die versorgenden Füsse zu stellen. Der nächste Schritt ist, diese vielen Einzelinitiativen stärker miteinander zu verknüpfen.

Info zu Christia Wichterich:

Publizistin und Attac-Beraterin: Promotion über deutsche TV-Familienserien, Universitätsdozentin im Iran und in Indien, in den neunziger Jahren Afrikakorrespondentin für Tageszeitungen und Hörfunk in Kenia, ab der dritten Weltfrauenkonferenz 1985 in Nairobi Berichterstatterin an vielen internationalen Konferenzen: So vielfältig wie ihre Interessen (Globalisierung und Gender, Frauenarbeit und internationale Frauenpolitik, Ökologie und Entwicklungszusammenarbeit) sind auch Christa Wichterichs Tätigkeiten. Derzeit lehrt die freiberufliche Publizistin (unter anderem für die WOZ) und Buchautorin als Gastprofessorin für Geschlechterpolitik an der Universität Kassel.

Ihr breites Spektrum erlaubt es Wichterich, Themen aus wechselnder Perspektive anzugehen; ihre geografischen Schwerpunkte liegen dabei in Süd- und Südostasien, China und Afrika. Sie schrieb für die Zeitschrift «Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis», ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland, arbeitet ehrenamtlich im Europäischen Frauennetzwerk Wide+ und ist Vertrauensdozentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Zu ihren Publikationen gehören «Die globalisierte Frau. Berichte aus der Zukunft der Ungleichheit» (Rowohlt Verlag, 1998), «Globalisierung bringt Bewegung» (Mitherausgeberin, Westfälisches Dampfboot, 2009) und der Essay «Die Zukunft, die wir wollen. Eine feministische Perspektive» (Heinrich-Böll-Stiftung, 2012, Gratisdownload von der Website www.boell.de