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Koloniales Erbe: Stichworte zum Tuaregkonflikt in Mali

Von Afrique-Europe-Interact. Erstmalig veröffentlicht im Dezember 2012 in taz-Beilage Nr. 2 von Afrique-Europe-Interact

Seit militante Islamisten im Juni diesen Jahres die Macht im gesamten Norden Malis erobert haben, sitzt der Schock tief. Denn Salafismus und Fundamentalismus haben bislang im traditionell toleranten, stark von sufistischer Mystik geprägten Islam des westafrikanischen Landes so gut wie keine soziale Basis. Entsprechend groß ist unter der überwiegend muslimischen Bevölkerung der Wunsch, das mit skrupelloser Brutalität durchgesetzte Scharia-Joch baldmöglichst wieder abzuschütteln. Gleichwohl sollte hierzulande der seit der Unabhängigkeit 1960 ungelöste Konflikt zwischen Tuareg-Bevölkerung im Norden und Zentralregierung in Bamako nicht aus dem Blick geraten. Denn unstrittig ist, dass die Islamisten – unter ihnen die Al Qaida des Maghreb – ohne den Aufstand der zunächst mit ihnen verbündeten Tuareg-Rebellen nie ein Gebiet von der Größe Frankreichs unter ihre Kontrolle gebracht hätte.

Einziges Manko: Geht es in Europa um die Tuareg, die sich selber als kel Tamaschek bezeichnen („Menschen, die Tamaschek sprechen“), sind exotisierende, ursprünglich von westlichen Forschungsreisenden und EthnologInnen in die Welt gesetzte Romantisierungen schnell bei der Hand. Unter Verweis auf ihre indigoblaue Kleidung ist immer wieder von den „blauen Rittern der Wüste“ die Rede, von stolzen, mitunter auch angstfreien Menschen, die seit der Kolonialzeit ihre nomadische Freiheit hartnäckig verteidigen würden. Die Wirklichkeit ist indessen komplexer, vor allem widersprüchlicher, weshalb das von den laizistischen MNLA-Rebellen Anfang 2012 verkündete Projekt eines unabhängigen Tuaregstaates „Azawad“ im Norden Malis auf weitgehende Ablehnung innerhalb der malischen Bevölkerung stößt – und das aus mindestens vier Gründen: Erstens machen die Tuareg allenfalls 32 Prozent der im kärglichen Norden lebenden Bevölkerung aus, in den beiden größten Städten Gao und Timbuktu sogar nur 15 Prozent – es wäre also gemogelt, von einer nationalen Selbstbestimmung der Tuareg zu sprechen. Hinzu komme, dass im Falle Malis historische und koloniale Grenzen zusammenfallen und bereits seit dem Malinke-Reich im 13. Jahrhundert ein multiethnisches bzw. -linguales Zusammenleben in dieser Region kulturell tief verankert ist. Zweitens sind in Mali als einem im Human Development Index der UN auf dem 175. Platz rangierenden Land die allermeisten Menschen von extremer Armut betroffen. Von Diskriminierung zu sprechen, sei insofern irreführend, zumal es nach dem letzten großen Friedenschluss im Jahr 1996 eine Vielzahl handfester Verbesserungen zugunsten des Nordens gegeben hat, auch wenn ein erheblicher Teil der bereitgestellten Gelder durch Korruption innerhalb der maßgeblich von Tuareg getragenen Verwaltung im Norden verloren gegangen ist. Drittens sind die Tuareg minichten die einzigen nomadisierenden ViehalterInnen gewesen, die nach der Unbhängigkeit Einschränkungen zugunsten sesshafter Kleinbauern und -bäuerinnen erfahren haben, genannt wird in diesem Zusammenhang immer wieder die zahlenmäßig ähnlich große Gruppe der Fulbe, auch bekannt als Fula (englisch) oder Peul (französisch). Viertens sind es insbesondere die beiden großen Dürreperioden 1968 bis 1973 und 1983 bis 1985 gewesen, durch die 80 Prozent der Herden zerstört und somit zahlreiche Tuareg in die Migration nach Algerien, Libyen oder in die Elfenbeinküste gezwungen wurden. Wobei letzteres zu dem paradoxen Effekt geführt hat, so die KriterInnen, dass viele Tuareg nach ihrer Rückkehr Ende der 1980er Jahre Mali immer wieder mit ihren ökonomisch ungleich besser gestellten Gastländern verglichen und aus der offenkundigen Differenz eine Diskriminierung der Tuareg abgeleitet haben.

Vieles spricht also dafür, die tieferen Ursachen für den neuerlichen Tuareg-Aufstand nicht in gegenwärtigen Diskriminierungen zu suchen, sondern in der für beide Seiten oftmals leidvollen Konfliktgeschichte selbst, vor allem in ihren frühen Anfängen. Konkreter: Als 1960 auf dem Territorium des ehemaligen französischen Kolonialreichs unter anderem Mali, Niger und das heutige Burkina Faso die Unabhängigkeit erlangten (gemäß der im Anschluss an die Kongo-Konferenz 1895 in Berlin schrittweise erfolgten Grenzziehungen im kolonial beherrschten Afrika), sahen sich die Tuareg mit einer nationalstaatlichen Zerstückelung ihres bisherigen Siedlungs- und Wandergebiets konfrontiert. Es war insofern nur folgerichtig, dass viele von ihnen jede Form der Kooperation mit dem jungen malischen Staat verweigerten, zumal dieser rasch Gesetze erließ, die nicht nur die nomadische Viehwirtschaft durch Steuern, Ausfuhrzölle und weitere Maßnahmen erschwerten, sondern auch die kastenförmig-feudalen Strukturen der damaligen Tuareg-Gesellschaft ausdrücklich in Frage stellten. Aber auch umgekehrt existierten erhebliche Vorbehalte. Erwähnt sei insbesondere, dass die Sklaverei in den französischen Kolonien zwar 1905 offiziell verboten wurde, schwarze SklavInnen bei den Tuareg aber noch im Jahre 1960 vollkommen üblich waren. Insgesamt hat dies in der Phase der Staatsgründung zu einer Spirale wechselseitiger Bezichtigungen geführt, so der Historiker Baz Lecocq. Danach hätte die neue Regierung in Bamako die Tuareg „als weiße, anarchistische, feudale, faule, Sklaverei-befürwortende NomadInnen mit Zivilisierungsbedarf“ betrachtet, während die malischen PolitikerInnen in den Augen der Tuareg-Elite lediglich „schwarze, inkompetente, unzuverlässige, machtgierige und getarnte Sklaven“ gewesen seien. Es konnte daher kaum überraschen, dass es 1962 erstmalig zum Aufstand gekommen ist, der allerdings auf äußerst brutale Weise niedergeschlagen wurde. Ein Muster, das sich fortan regelmäßig wiederholen und zwischen 1992 und 1994 förmlich eskalieren sollte, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass im damaligen Konfliktgeschehen der noch heute gültige Sachverhalt eine zentrale Rolle gespielt hat, dass ehemalige SklavInnen bzw. ihre Nachkommen – die so genanten Iklans (Tameschek) oder Bellah (Songhai) – die unterste Kaste innerhalb der Tuareg-Gesellschaft bilden.

Und doch: So leidvoll die Auseinandersetzungen insbesondere für die jeweiligen Zivilbevölkerungen gewesen sind, sie enthalten auch positive Beispiele, insbesondere die Jahre 1994/1995, als zivilgesellschaftliche Akteure von beiden Seiten unter Umgehung der malischen Armee sowie der Rebellenführung der Tuareg relativ rasch Friedensgespräche einfädelten, die sodann im März 1996 in die große Waffenverbrennung von Timbuktu – der „flamme de la paix“ – einmündeten. Erfahrungen wie diese sind es daher, welche die zaghafte Hoffnung der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact begründen, dass die aktuelle Doppel-Krise nicht nur mit den Tuareg, sondern auch mit Teilen der Islamisten einvernehmlich, das heißt im Dialog gelöst werden könnte. Denn Fakt ist, dass viele Menschen angesichts der ohnehin äußerst prekären Lage große Sorge vor einer unkontrollierten Eskalation des Konflikts haben. Entsprechend stark ist der Wunsch, dialogorientierte Lösungen zumindest nicht unversucht zu lassen, auch wenn die Erfolgschancen als gering erachtet werden, selbst mit Ansar Dine („Verteidiger des Glaubens“), die als größte der drei islamistischen Gruppen im Norden derzeit an Verhandlungen beteiligt ist.