Für Afrika reicht`s. Die Wahlen in Mali haben den Wunsch nach Demokratie verhöhnt
Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann. taz, 18.12.2013
Was würden wir empfinden, wenn das bei uns wäre? Wenn bei uns eine Wahl folgendermaßen aussähe: Keine Partei hat ein Programm oder überhaupt erkennbare politische Absichten. Durch wochenlange Hinterzimmer-Verhandlungen entstehen unter diesen Parteien völlig willkürlich wirkende Allianzen, die in jedem Wahlkreis anders aussehen und einzig dem Prinzip der Postengier folgen. Wer am meisten Geld auf den Tisch legt, bekommt einen Listenplatz. Stellen wir uns also vor, das wäre bei uns, in einem europäischen Land, und dann käme ein Herr namens Louis Michel, Leiter einer offiziellen EU-Beobachtermission, und würde uns ermahnen, diesen Politschrott zu wählen sei eine „moralische Pflicht“.Lachhaft, nicht vorstellbar? Gewiss. So etwas gibt es nur in Afrika. Denn dort haben die Menschen, wie jeder weiß, nicht unsere Ansprüche.
Mali also. „Im speziellen Kontext von Mali ist wählen nicht nur ein Recht, es ist eine moralische Pflicht“, so Herr Michel, belgischer Ex-Außenminister, in Langfassung. Erinnern wir uns einen Moment an diesen speziellen Kontext: Eine politische Klasse, die längst das Vertrauen der Bevölkerung verloren hatte, unterhielt eine Fassaden-Demokratie, die im Westen „Modell“ genannt wurde. Selbige politische Klasse ruinierte das Land und überließ seinen Nordteil so lange mafiösen Strukturen, bis erst Tuareg-Separatisten und dann Djihadisten dort im Handstreich die Macht übernahmen. Es folgte eine französisch-geführte Militär-Intervention und ein vom Westen aufgezwungener schneller Wahlprozess.
Und nun, als handele sich um eine böse Kuckucks-Uhr, sind die Bankrotteure von gestern wieder da – unter der Obhut französischer Vormundschaft, einer nur auf ihre eigene Sicherheit erpichten EU und zehntausend UN-Soldaten. Die Parlamentswahl, beendet am vergangenen Sonntag, war nach offizieller Lesart „der letzte Baustein bei der Wiedererrichtung der verfassungsmäßigen Ordnung“.
In Wahrheit war es ein Desaster – eine Verhöhnung des Wunsches nach Demokratie mit den Mitteln einer Wahl. Ich hatte das traurige Privileg, einiges davon aus der Nähe zu erleben. Viele Malier waren angewidert von der Art und Weise, wie die Wahllisten zustande kamen. Die Konkurrenz um Posten und Pfründe schien schlimmer denn je; Mitglieder ein und derselben Partei standen sogar auf Listen, die gegeneinander antraten.
Der Wahlkampf sah dann so aus: Einem vorausfahrenden Pick-Up, der ein Portrait des Kandidaten zeigte, folgte ein Schwarm von Mopedfahrern, die durch Hupen und Schreien eine enthusiastische Anhängerschaft simulierten. Die jungen Mopedfahrer bekamen dafür eine Tankfüllung – Sprit ist teuer – oder Geld für ein paar Runden bittersüßen grünen Tee. In diesen Tee-Runden organisiert sich ein Großteil der arbeitslosen jungen Generation. Deshalb sind die Tee-Runden auch ein bevorzugter Ort, um Wähler zu mobilisieren – mit ein paar Scheinchen.
Der Kauf von Wählerstimmen war in zwei Jahrzehnten Fassaden-Demokratie eine eingeübte Praxis. Ich hatte mich immer gefragt, warum Menschen für das Äquivalent eines Tageslohns – 1000 westafrikanische Franc, etwa 1,50 Euro – tatsächlich ihren Gönner wählen. Sie könnten das Geld doch einfach verjubeln oder jemand anderen wählen. Aber es gibt in Mali eine Treue zum patron; das Wahlvolk war ehrlich, es betrog nicht den betrügerischen Kandidaten. Außerdem zählt auch hier der malische Gemeinschaftssinn: So geht zum Beispiel am Wahlmorgen der Abgesandte eines Familienverbandes direkt zum Haus des Kandidaten, um Geld für zwei Dutzend Stimmen abzuholen.
Wirklich sicher ist es natürlich nicht, allein auf die Wirksamkeit patriarchaler Sitten zu vertrauen. Außerdem werden die Wähler anspruchsvoller, erwarten nun gar einen Wochenlohn. So gab es diesmal neue Methoden. Es waren sogenannte „vormarkierte“ Wahlzettel in Umlauf; der Wähler nahm einen solchen Zettel, im Gewand versteckt, mit in die Kabine, steckte ihn dort in den vorgesehenen Umschlag und ließ dafür den Blanko-Wahlzettel im Gewand verschwinden. Zeigte er dem Gönner den Blanko-Zettel als Beweis der gelungenen Tat, brachte das 5000 Franc ein (7 Euro 60). Eine solche Prämie bekam auch, wer seinen Finger mit dem Mobiltelefon fotografierte, und zwar in jenem Moment, als der in „fälschungssichere“ Tinte getunkte Finger neben dem Foto des zahlenden Kandidaten platziert wurde.
Auf den Straßen der Hauptstadt wurde über solche Methoden offen gesprochen. Tausende von Wahlbeobachtern waren im Einsatz, nationale wie internationale, doch sie schienen vor allem darauf zu achten, ob die Wahllokale pünktlich öffneten und schlossen.Im Juli, als der Präsident gewählt wurde, hatte noch politischer Aufbruch in der Luft gelegen. Frühmorgens schon Schlangen vor den Wahllokalen; viele Malier wählten zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie glaubten den Slogans, die politische Veränderung und saubere Politik versprachen. Seitdem war wenig geschehen, um das vorgeschossene Vertrauen zu rechtfertigen. Nun war die Stimme wieder eine Handelsware, und sie wurde mit großer Nüchternheit eingesetzt. Einen Kandidaten zu wählen, der einem vielleicht besser gefiel, der aber nicht zahlte, war Stimm-Verschwendung.
Gar nicht zur Wahl zu gehen, konnte unter diesen Vorzeichen eine ethische Position sein, der Verzicht auf Vorteilsnahme. In einigen Tee-Runden wurde dafür geworben, aus Protest ungültig zu wählen; dies blieb eine kleine Avantgarde. Niedrige Wahlbeteiligung vorausahnend erfand nicht nur der oberste EU-Beobachter die Pflicht zu wählen. Ein Schwall von Aufrufen ergoss sich über das Land: Wählen ist Bürgerpflicht! Wer einstimmte, kam als NGO noch schnell an das Budget einer westlichen Botschaft. Und wie immer fanden sich Malier, die sich in ein Aufklärungs-Seminar setzten, weil sie dafür ein Tagegeld bekamen. Am Wahltag machte das Staatsfernsehen dann Interviews vor den Wahllokalen, und Befragte antworteten wie Sprechpuppen, sie hätten gerade ihre Bürgerpflicht erfüllt.
Es war zum Fürchten – und sehr traurig. Ein Demokratie-Theater, wie früher.