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Reportage aus Bamako

Von Bernard Schmid, August 2013

Dass es so reibungslos laufen wird, hatten viele nicht vermutet. Anderthalb Jahre nach der Implosion des westafrikanischen Staates Mali, dessen Nordhälfte ab Anfang 2012 durch Jihadisten besetzt wurde, und ein halbes Jahr nach der französischen Intervention ist die Präsidentschaftswahl in Mali gelaufen. Und zwar erstaunlich gut und mit hoher Stimmbeteiligung. Am Donnerstag früh erklärte das Verfassungsgericht Malis den 68jährigen Ibrahim Boubacar Keïta – allgemein unter dem Kürzel „IBK“ bekannt – zum Sieger. Er setzte sich in der Stichwahl mit 77,61 % der abgegebenen Stimmen klar gegen seinen Herausforderer, den 63jährigen Soumaïlia Cissé (22,39 %) durch. Im ersten Wahlgang am 28. Juli waren fünfundzwanzig weitere KandidatInnen, unter ihnen eine Frau, ausgeschieden.

Rekordbeteiligung

Die mit Abstand wichtigste Zahl aber war jene, die die Wahlbeteiligung anzeigt. Zuerst wurde sie für den ersten Wahlgang mit 53,5 Prozent angegeben, später im amtlichen Endergebnis dann mit 49 Prozent. Da anscheinend alle Wahlbüros pünktlich um 18 Uhr schlossen, konnten im ersten Wahlgang mancherorts einige Stimmwillige gar nicht mehr wählen, da sie wegen des großen Andrangs zu lange warten mussten. Im zweiten Wahlgang lag sie, unter anderem aufgrund tropischer Regenfälle am vergangenen Sonntag, und viele das Rennen bereits gelaufen glaubten, leicht darunter und wird mit 45,7 Prozent angegeben. Sei es wie es sei: Es handelt sich um einen Rekordwert in dem Land.

Bei der letzten Präsidentschaftswahl Malis im Jahr 2007 gingen nur 26 Prozent der Stimmberechtigten hin. Und damals war die Praxis des Stimmenkaufs relativ verbreitet. Letzterer funktioniert etwa so, dass fertig ausgefüllte Stimmzettel vorab verteilt werden und ihre Verwendung dadurch kontrolliert wird, dass man den Mitmachwilligen ihre unbenutzten leeren Stimmzettel aus dem Wahlbüro – die sie dort die Tasche stecken mussten – draußen vor der Tür abnimmt. Damals, vor sechs Jahren, erwartete niemand in Mali sich etwas vom Ausgang der Präsidentschaftswahl: Eine durch und durch korrupte Elite, eine oligarchische Führungsschicht, teilte sich die Pfründe der Macht. Deswegen kam es auch so wenig darauf an, dass manche sich auf die Praxis des Stimmenkaufs und –verkaufs einlassen wollten.

Allem Anschein nach ist diese Phase der allgemeinen politischen Gleichgültigkeit und Resignation vorüber. Die Besetzung einer riesigen Nordhälfte des Landes durch Jihadisten und mit ihnen verbündete Tuareg-Separatisten seit Anfang 2012, die darauf folgende Staatskrise und dann die Intervention zu Anfang dieses Jahres habe viele Einwohner aufgerüttelt und den Wunsch nach einem politischen Neubeginn ausgelöst. Zahlreich waren die Malierinnen und Malier, die an diesen beiden Sonntagen vor ihre Tür gingen, um in einer der als Wahllokal dienenden öffentlichen Schulen abzustimmen.

Über Stock und Stein durch Bamako

Bamako heißt Minibusfahren. Aber vor allem Motorrollerverkehr. Wie in vielen Ländern der so genannten Dritten Welt sind VW-Busse, die als Sammeltaxis dienen, das wichtigste öffentliche Verkehrsmittel. Konkurrenz manchen ihnen die zahlreichen knallgelben Taxis, vor allem aber eine Armee von Motorrollern. Aufgrund einer chinesischen Exportoffensive sanken im Lauf des vergangenen Jahrzehnts die Preise für die Fahrzeuge. Gefahren wird mit oder ohne wehender Kopfbedeckung, mit oder ohne Kind im Tragetuch auf dem Rücken oder vorne auf dem Lenker. In 97 Prozent aller Fälle ohne Sturzhelme. Dennoch sind Unfälle allem Anschein nach selten.

Wegen des zweieinhalbtägigen Fests zum Ausgang des Ramadan heizen auch meine Gastgeber und ich zwei Tage lang durch die Viertel von Bamako. An diesem Tag geht es ihnen darum, möglichst viele Familien- und Freundesbesuche zu absolvieren: Am Festtag zum Ausgang der Fastenzeit muss man sich treffen, sei es auch nur kurz, und um Verzeihung für alle bösen Tagen aus dem vergangenen Jahr bitten. Gruppen von Kindern beiderlei Geschlechts sind unterwegs und sagen Verse dazu auf, allerdings eher mit dem Hintergedanken an das dafür lockende Kleingeld. Und so geht es über Stock und Stein – welche man auf dem Motorroller ordentlich spürt, wenn es über die rotstaubigen Stadtteilpisten geht -, quer durch Bamako. Ab und zu wird dabei auch über Politik gesprochen.

Geringe Sympathien für Cissé

Viele Haushalte in der malischen Hauptstadt bekunden ihre Sympathien diesbezüglich ohnehin offen, indem sie Plakate ihres Favoriten in den Eingangsbereich kleben. Ähnlich halten es viele Taxifahrer, die Aufkleber auf dem Armaturenbrett oder dem Rückfenster befestigten. Relativ schwer war es allerdings, in den ärmeren Stadtteilen von Bamako wie Niamakoro auf Sympathiebekundungen für Präsidentschaftskandidat Soumalïa Cissé zu treffen: In den zehn Tagen vor der Stichwahl war ein Aufkleber für „IBK“ in etwa jedem dritten benutzten Taxi zu finden, solche seines Gegenkandidaten fehlten jedoch in unserer Stichprobe.

Unsere Motorrollerfahrten sind ergiebiger: Am Tage des Tages treffen wir am Donnerstag Abend im Stadtteil Daoudabougou jedenfalls auf einen Sympathisanten von Soumalïa Cissé. Ein pensionierter Drogenpolizist bewohnt einen typischen Innenhof mit Nutztieren, wie sie in Bamako üblich sind. Polizisten sind in dem westafrikanischen Land eher relativ arm und gelten in breiten Kreisen als „Söhne des Volkes“. Die Drogenfahndung ist ihrerseits kein unbedeutender Zweig: Mali gilt zwar kaum als Konsumentenland für Drogen, aber als wichtiges Durchgangsland für Kokain auf seiner Route von Südamerika über die westafrikanischen Küstenstaaten Guinea oder Guinea-Bissau in Richtung Mittelmeerraum.

Dass die alten oligarchischen Eliten, die bis 2012 unbestritten das Land führten, aus wirtschaftlichem Gewinninteresse heraus in diese mafiösen Handelsnetzwerke verstrickt waren, trug mit zur dann eingetretenen Staatskatastrophe ein: Da Warlords aus den Reihen der Tuareg, die phasenweise mit den Jihadisten kooperierten, ebenfalls eine wichtige Rolle im transnationalen Drogen-Transithandel spielen, hielt Altpräsident „ATT“ (Amadou Toumani Touré, 2002 bis 2012) jahrelang seine schützende Hand über sie. Gegenüber drängender werdenden Nachfragen aus Frankreich oder dem Nachbarland Algerien, was er gegen die Jihadisten zu tun gedenke, antwortete er stets, es gebe kein Problem und er habe „alles unter Kontrolle“. Dies ist einer der Gründe dafür, warum viele Malier sich von der alten Staatsmacht verraten fühlen und mit der Oligarchie politisch abrechnen möchten. Darüber ist sich „unser“ Drogenpolizist auf Rente mit den meisten seiner Landsleute weitgehend einig.

Bei ihm hängen Plakate von Soumalïa Cissé. Es ist das erste Mal, dass ich auf eine solche Meinungsbekundung treffe, in den bislang besuchten Haushalten waren – sofern die politische Neigung demonstrativ bekundet wurde – eher „IBK“-Plakate zu sehen. Der Cissé-Wähler fühlt sich vom „wirtschaftlichen Sachverstand“ seines Präsidentschaftsfavoriten anzogen: Er könne das Land zu mehr Wohlstand führen, meint er, und werde Korruption und népotisme (Vetternwirtschaft) bekämpfen. In seinen Augen plädiert Vergangenheit des 63jährigen als Wirtschaftsminister in den neunziger Jahren und als Kommissionspräsident der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA) von 2004 bis 2011 für seine Fähigkeiten.

Eine deutliche Mehrheit der getroffenen Menschen in Bamako sieht dies anders. In ihren Augen belegen die bislang von Soumalïa Cissé ausgeübten Funktionen, und seine persönliche Bilanz dabei, im Gegenteil eher seine Zugehörigkeit zur alten Oligarchie. In ihren Augen betrieb er nicht nur eine Politik vorwiegend für die Reichen, sondern war durch seine Nähe zu Ex-Präsident „ATT“ – der ihn auf seinen letzten Posten hob – auch in die Genese der Staatskrise von 2012 verwickelt. Im Südwesten von Mali weist Cissé unterdessen, aufgrund politischer Allianzen, einige regionale Hochburgen etwa in den Regionen von Kayes und Ségou auf.

Bruch mit der Vergangenheit?

In vielen Augen, gerade in den ärmeren und mittleren sozialen Klassen, ist es eher „IBK“, den man aufgrund seiner Vergangenheit wahlweise als vertrauenswürdig oder zumindest als das famose „kleinere Übel“ – mit dem auch in Mali politische Entscheidungen begründet werden – betrachtet. Der 68jährige Keïta war von 1994 bis 2000 Premierminister des Landes, damals unter dem Vorgänger von „ATT“ als Präsident, also unter Alpha Oumar Konaré – dem ersten demokratisch gewählten Staatsoberhaupt nach dem Sturz der von 1968 bis 1991 herrschenden Militärdiktatur unter Moussa Traoré durch eine Jugendrevolte.

Der Name dieses ersten Präsidenten der malischen „Dritten Republik“ wird jedoch auch mit einer Privatisierungswelle unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds, zahlreichen vernichteten Arbeitsplätzen und dem Beginn der Korruption in Verbindung gebracht. „IBK“ verstand es demgegenüber, einen vergleichsweise „sauberen“ Eindruck im Umgang mit den öffentlichen Finanzen und einer geringen persönlichen Korrumpierbarkeit zu hinterlassen. 2002 trat er als Gegenkandidat zum damals gewählten Staatschef „ATT“, aber auch – damals schon – gegen Soumalïa Cissé zur Präsidentschaftswahl an und landete hinter den beiden auf dem dritten Platz. In der Folgezeit amtierte er als Parlamentspräsident und war als solcher in die ersten fünf Jahre der „Ära ATT“ verstrickt, konnte aber auf seinem Posten von der sichtbaren Korruption in den Ministerämtern relativ unberührt bleiben. Seit 1999 war „IBK“ ferner Vizepräsident der so genannten Sozialistischen Internationalen, welcher seine Partei „Sammlung des malischen Volkes“ (RPM) angehört. Insbesondere in Afrikas, wo etwa auch die früheren Staatsparteien unter Ben Ali in Tunesien und Mubaraks in Ägypten der SI angegliedert waren, hat dies jedoch kaum eine inhaltliche Bedeutung.

„Vierte Republik“

Im diesjährigen Wahlkampf trat der – von dem französischen Werbeunternehmen Havas beratene – Kandidat „IBK“ mit dem Versprechen an, eine „Vierte Republik“ in Mali zu begründen, deren Konturen oft eher unscharf blieben. Die erste Republik war jene des sozialistisch und antikolonial inspirierten, auf „Blockfreiheit“ pochenden Präsidenten Modibo Keïta von 1960 bis 1968, als zweite wird die nachfolgende Militärdiktatur mit französischer Unterstützung bezeichnet, und die dritte begann nach dem Aufstand von Ende März 1991. Letztere hat heute in den Augen vieler Malierinnen und Malier total abgewirtschaftet. Aufgrund von Korruption, mafiösen Tendenzen und des Gefühls, durch die alte Elite gegen Warlords – mit letzteren wird in breiten Kreise die separatistische und in den Trans-Sahara-Handel mit Drogen verstrickte Tuaregbewegung MNLA assoziiert – und Jihadisten im Stich gelassen worden zu sein, wird ein Neuanfang allgemein erwünscht. Aus diesem Grund traf die Rhetorik des Kandidaten „IBK“ auf ein relativ breites Echo.

Neoliberaler Kandidat

Das Votum gegen Cissé war dabei in erster Linie eines gegen die „alten Mächte“, die in vielen Augen auch durch Soumalïa Cissé mit verkörpert werden. Selbst wenn dieser Kandidat sich gar zu gern selbst als Kandidat des „Bruchs mit dem Alten“ darstellte – aber im Namen einer „Modernität“, die in erster Linie das Synonym für Privatisierungen und die Reduzierungen öffentlicher Ausgaben schien, wofür er im Gegenzug „die Schaffung von Arbeitsplätzen“ versprach.

Das Spiel zwischen den beiden Wahlgängen, als die in der ersten Runde gescheiterten Kandidaten nacheinander ihre Stimmempfehlung für die zweite bekannt gaben, bestätigte dies für viele Malier. Zwar unterstützte eine deutliche Mehrheit der ausgeschiedenen Bewerber, über 20, die Kandidatur von „IBK“. Doch ausgerechnet einer der verhasstesten Kandidaten, Modibo Sidibé, als früherer Premierminister in ziemlich breiten Kreisen als „herausragender Dieb“ verschrien, rief als einer von wenigen zur Wahl Cissés auf. Die stärkste Partei des Landes, die „Demokratische Aktion für Mali“ (ADEMA) – entstanden kurz vor der Demokratisierung von 1991, und danach an vielen Regierungen beteiligt – ihrerseits spaltete sich auf. Ihr Präsidentschaftskandidat Dramane Dembélé, er erhielt gut neun Prozent, sowie viele regionale Verbände und die Parteijugend unterstützten „IBK“. Dagegen rief Parteichef Ibrahime („Iba“) N’Diaye zur Wahl Soumaïlia Cissés auf.

Positionen auf der Linken

Widersprüchliche Erwartungen und auseinanderstrebende Kräfte bezogen sich in den letzten Wochen auf „IBK“. Auf der einen Seite unterstützten ihn auch unterschiedliche Strömungen der malischen Linken – das Scheitern der „Generalstände der Linken“ in Ségou im April dieses Jahres verhinderte ihre organisatorische Einigung – als kleineres Übel. Aus den Reihen der Initiativen, die sich nach dem Putsch junger Offiziere gegen die Armeehierarchie und die Regierung vom 22. März 2012 bildeten, entstand in den Wochen vor der Wahl das Rassemblement pour la justice sociale (RJS, „Sammlung für die soziale Gerechtigkeit“). Der infolge der Demonstrationen von Soldatenfrauen spontan ausgebrochene Putsch der Armeebasis und einiger junger Offiziere stürzte „ATT“, und viele erhofften sich von ihm die Chance auf einen Bruch. Das RJS unterstürzte Keïta schon vor dem ersten Wahlgang, hatte jedoch während der Wahlkampagne erhebliche Schwierigkeiten, sich ein eigenes Gehör zu verschaffen: Es gab ein Kooperationsabkommen mit Keïtas eigener Partei, der „Sammlung des malischen Volkes“ (RPM), deren Funktionäre vor Ort jedoch den lästigen Partnern oft kein Mitspracherecht einräumten. Zu dem Netzwerk RJS zählen etwa auch Aktivisten der auch in Europa bekannten Association malienne des expulsés (AME), eine Vereinigung, die aus Europa, aber auch aus Libyen oder Angola abgeschobene malische Migranten sozial und psychisch betreut sowie politisch organisiert.

Die ex-maoistische Partei SADI („Afrikanische Solidarität für Demokratie und Unabhängigkeit“) hatte ihren eigenen Kandidaten Oumar Mariko, der 2,6 Prozent erhielt, unterstützte jedoch vor der zweiten Runde Keïta als „kleineres Übel“. Sie fordert von ihm vor allem, mit den Bedingungen einer Demokratisierung Ernst zu machen und sich auf keine Verhandlungen über einen Autonomie- oder sonstigen Sonderstatus mit dem MNLA („Nationale Befreiungsbewegung für Azawad“) im Norden einzulassen.

Offene Fragen

Aus dem Norden wurden zwar die Jihadisten weitgehend vertrieben, die sich heute überwiegend in Südlibyen oder im Grenzgebirge zwischen Tunesien und Algerien befinden dürften. Doch die in diverse mafiöse Geschäfte verstrickten Warlords des MNLA, die einige Monate mit ihnen verbündet gewesen waren, sind noch da – auch mit teilweiser Unterstützung aus der französischen Politik. Der MNLA hat zwar offiziell auf die Unabhängigkeitsforderung für den Norden verzichtet, verlangt jedoch eine Autonomie, die auch in Paris auf offene Ohren stieße – weist die frühere Kolonialmacht doch eine alte Politik der Unterstützung für manche Ethnien des Nordens zwecks „Teilen und Herrschen“ auf, die oft mit einer verklärend-ethnisierten Wahrnehmung der Tuareg als „edlen Wüstenkriegern“ einherging.

In Kidal im Nordosten Malis hat der MNLA nicht die Waffen abgegeben, sondern sie kraft einer unter französischem Druck am 18. Juni 2013 geschlossenen Vereinbarung „vorläufig“ behalten – die französische Armee steht zwischen beiden als Puffertruppe. Binnen sechzig Tagen nach seiner Wahl soll der neue Präsident nun über weitere Regelungen verhandeln, da die „provisorische“ nur die Abhaltung der Wahl auch im Nordosten möglich machen sollte. Die allermeisten Menschen in Süd- und Zentralmali wollen von einem Sonderstatus für den Norden und einer autonomen Zone nichts wissen, sondern allenfalls eher über eine allgemeine Dezentralisierungsregelung diskutieren. Die „heißeste“ Frage ist aktuell sicherlich jene nach Autonomieforderungen für den Norden. „IBK“ deutete demgegenüber an, unnachgiebig zu bleiben, was ihm in Bamako einige Sympathien einträgt.

In dieser Frage steckt sicherlich noch viel Konfliktstoff. Ebenso wie, zumindest potenziell, in jener nach dem Status der internationalen Truppen. Die „UN-Mission für die Stabilisierung Malis“ (Minusma) ist mit über 11.000 Soldaten im Land präsent, die am Flughafen von Bamako und seltener im Stadtbild sichtbar sind. Parallel zu ihnen sollen auch mindestens 1.000 französische Soldaten als „Parallelstreitkraft zur Terrorbekämpfung“ längerfristig bleiben. Derzeit ist aus der Frage der internationalen Truppen die Luft heraus, wie der Student Amadou (Vornamen sind redaktionell geändert) erklärt: „Ursprünglich sollte ein Gutteil auch in Südmali stationiert sind, und wir fürchteten, sie dienten dann eher als Garantie gegen einen Präsidentensturz – eingedenk der schlechten Erfahrungen mit ATT. Das wollten die Staatschefs der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft. Nunmehr wurde eine Regel gefunden, wonach 80 Prozent der UN-Truppe im Norden und nur 20 Prozent im Süden bleiben sollen. Im Augenblick können wir damit leben.“

Auch die Jungoffiziere, die im März 2012 gegen das damalige Establishment putschten, unterstützten die Kandidatur Keïtas mehr oder minder deutlich. Am 25. Juli, drei Tage vor dem ersten Wahlgang, konnte „IBK“ demonstrativ in ihrer Hochburg, dem Militärcamp von Kati fünfzehn Kilometer nordwestlich von Bamako, auftreten. Dies bedeutete faktisch eine Unterstützungserklärung.

Religiöse Kräfte

Auf der anderen Seite des gesellschaftlichen Spektrums erhielt „IBK“ auch eine Rückendeckung von einem Zusammenschluss religiös-politischer Vereinigungen in Gestalt des „Hohen Islamrats“ HCI sowie der Föderation Sabati („Widerstand“ in Bambara), die rund 100 Mitgliedsverbände umfasst. Die Religion ist in der malischen Gesellschaft tief verankert – auch manche Kommunisten unterbrechen die Diskussion mitunter für fünf Minuten, um kurz ihren Gebetsteppich auszurollen -, aber ihre Praxis ist ungleich toleranter, als man sie überwiegend in den arabischsprachigen Ländern antrifft. Eine deutliche Mehrheit hält das Ramadanfasten ein, aber es gibt immer wieder auch Nichtfaster: zu alt, zu jung, krank, oder nicht überzeugt. Letztere, mit oder ohne triftige Ausrede, verstecken sich jedoch nicht, um etwa Wasser zu trinken – was etwa in Marokko oder Algerien staatlich geahndet werden könnte. In jüngerer Zeit nehmen jedoch gleichzeitig eine Politisierung der Religion, und offen reaktionäre Tendenzen zu, was eng mit der politischen und Staatskrise zusammenhängt.

So wurde bei einer Regierungsumbildung im August 2012 erstmals ein eigenes Religionsministerium für den HCI geschaffen, während Mali allerdings eine „laizistische Republik“ bleibt. Und neben der eher toleranten malekitischen Schule, die den Islam in Mali prägt, wächst der Einfluss einer als wahhabitisch bezeichneten Richtung. Diese wird so genannt, weil sie aus den reaktionären Golfstaaten unterstützt wird – dennoch ist bislang undenkbar, eine der inquisitorischen Staatsideologie in Saudi-Arabien vergleichbare Praxis in Mali real umzusetzen. Vollverschleierungen, die auch das Gesicht verstecken und in den Golfstaaten häufig in Mali anzutreffen, bleiben eine Rarität: Wer viel in Bamako unterwegs ist, trifft durchschnittlich zwei Fälle pro Tag. Die Mehrheit der Frauen trägt traditionelle westafrikanische Kopfbedeckungen, die auch immer wieder einmal abgesetzt werden. Es gibt keinerlei durchgesetzten Bedeckungszwang.

Die als wahhabitisch bezeichnete Vereinigung Sabati entstand in ihrer heutigen Form kurz vor der Präsidentschaftswahl, und unterstützte die Kandidatur von „IBK“ nach einer internen Debatte. Ausschlaggebend war wohl in erster Linie, dass man auf einen möglichen Gewinner setzten wollte, statt auf einen aussichtslosen Kandidaten, um an ihn dann Forderungen richten zu können. Auch wenn „IBK“ dafür bekannt war, durchaus einen Whisky oder Rotwein bei Tisch nicht zu verachten – damit hat er zwar Schluss gemacht, allerdings auf Anraten der Ärzte hin, nicht so sehr der Imame.

Ferner ist Keïta seit den frühen neunziger Jahren mit einem religiösen Würdenträger eng verbunden, dem „Chérif von Nioro“, dem er damals eine lebensrettende Operation bezahlte. Aus Dankbarkeit blieb der Kleriker, der auch ein schwerreicher Geschäftsmann ist, ihm in Freundschaft verbunden. Seien es Handelsinteressen oder politische Symbole: Sabati, die von sich behauptet, heute 15 Prozent der Wählerschaft mobilisieren zu können, wird sich im Falle einer Wahl des von ihr unterstützten Kandidaten zu Wort melden.

Die „Wahhabiten“

Abdou (Vorname redaktionell geändert) gilt seinen Nachbarn als Wahhabit. Er ist in der als Dawa – das arabische Wort für den Aufruf zum Gebet – bezeichneten, missionarisch tätigen Richtung des politisierten Islam tätig. Und er ist Hochschullehrer für Fremdsprachen. Sieben Jahre studierte er in Südwestdeutschland, wo er ganz besonders die Ordnung schätze: „Nach meiner Rückkehr nach Mali hatte ich lange ernste Wiedereingliederungsschwierigkeiten.“ Seine Frau trägt ein knallorangenes Kopftuch. In ihrem Haus gibt man, was in Mali sehr selten ist, Menschen des entgegengesetzten Geschlechts zum Gruß nicht die Hand. Aber die vielleicht zehnjährigen Töchter wirken sehr aufgeweckt, springen herum und albern mit dem Vater umher.

Abdou wählt selbst nicht: „Ich habe bislang nur einmal mitgestimmt. Unter uns Muslimen gibt es eine Debatte: Soll man das kleinere Übel unterstützen? Oder droht man dann nicht, einen Anteil an dem, was der einmal gewählte Kandidat dann tut, auf das eigene Sündenregister zugeschrieben zu bekommen? Heute halte ich mich aus dem Wählen heraus.“ Auch er erhofft sich jedoch, dass Mali einen besseren Neuanfang nehme. Und dass das Lohnproblem der Hochschullehrer geregelt werde: „2011 streikten wir ein volles Jahr lang. Am Ende gab es auch eine Vereinbarung, die einen Gutteil unserer Forderungen durchgesetzt hätte. Aber dann kam der Putsch, und die Übergangsregierung wollte sich nicht festlegen. Nun hoffen wir das Beste für die Zeit nach der Wahl.“

Dass es eine Unterstützung für „IBK“ gebe, führt er selbst auch darauf zurück, dass „er mitunter islamisch geprägte Formulierungen wir bismillah rahim (Im Namen Gottes des Barmherzigen) in seine Reden integriert.“ Die organisierten Muslime sollten sich aber auch für ihre Belange einsetzen wie 2011, als der HCI erfolgreich gegen eine relativ progressive Reform des Frauen- und Familiengesetzes mobilisierte. Abdou störte vor allem daran, dass es ein gesetzliches Verbot der Frauenbeschneidung geben sollte. Auf den Einwand, der Islam als solcher schreibe diese Praxis – die in den Großstädten rückläufig, aber auf dem Land noch weitverbreitet ist – gar nicht vor und sie existiere in der Mehrheit der arabischen Länder nicht, antwortet er, aber sie werde vom Islam toleriert. „Und was vom Islam begünstigt wird, kann ein Präsident jedenfalls nicht gesetzlich verbieten, Er darf eine Aufklärungskampagne machen, um zu sagen, warum es nicht gut sei. Aber gesetzliche Eingriffe gehen nicht.“ Die Jihadisten wiederum hält er schlichtweg für Kriminelle, die ihren Geschäftsinteressen, ob im Handel mit Drogen oder Geiseln, nachgingen.

Kein Blankoscheck

Zweifellos wird der nächste Präsident Malis es nicht leicht haben. Er wird mit unterschiedlichen Erwartungen von Links und von Rechts, von Religiösen und Säkularen, von Tuareg und von der französischen Ex-Kolonialmacht, von Separatisten und ihren Gegnern konfrontiert werden. Dies alles im Kontext eines wirtschaftlich schwachen Landes. Auf Desinteresse, Resignation und Passivität der Bevölkerung darf er hingegen wahrscheinlich nicht zählen.