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Der Nord-Süd-Mythos. Mali lässt sich mit eurozentrisch inspirierter Erdkunde nicht verstehen

Von Charlotte Wiedemann, Inamo, September 2013

Es ist erstaunlich, wie selten ausländische Beobachter Mali aus Sicht der Mehrheit
seiner Bevölkerung betrachten. Ich sage hier bewusst nicht: aus Sicht des Südens. Denn
die allfällige Aufteilung Malis in Nord und Süd ist bereits die Mutter vieler falscher
Mythen: Als seien dies zwei Landesteile, die sich in ethnischer Komposition, sozialen
Interessen und kulturellem Lifestyle so bemerkenswert unterscheiden, dass daran
entlang ein Narrativ der malischen Gegenwart gestrickt werden könnte. Ist dieser
fiktive Gegensatz erst einmal hergestellt, betritt der europäische Analyst das Land am
liebsten durch den Norden des Nordens, sprich: durch ein Tuareg-Zelt, als fänden sich
nur hier – bei einer Minderheit, die im nationalen Maßstab zwei Prozent ausmacht –
plausible politische Positionen.

Malis Geographie ist nur bedingt politisch. Fruchtbare Gegenden werden seit
Jahrhunderten enger besiedelt als aride und halb?aride Landstriche, das kann
niemanden überraschen. Dass der rechte Flügel des malischen Schmetterlings auf der
Landkarte so überdimensioniert erscheint, ist Folge kolonialer Grenzziehung – und hat
unzählige Male einen pompös?inhaltsleeren Nachrichtensatz produziert: der besetzte
Norden umfasse zwei Drittel des nationalen Territoriums. Tatsächlich haben die
Djihadisten davon nur einen Bruchteil kontrolliert, ebenso wie später die französischen
Streitkräfte. Die mittelalterlichen Reiche, in deren Tradition, sich das heutige Mali sieht
– das Mali?Reich und das Songhai?Reich – erstreckten sich über noch größere
Territorien als der jetzige Staat; es waren multiethnische Reiche, so wie auch das
heutige Mali in all seinen Regionen multiethnisch ist. (Und überall, nicht nur bei den
Tuareg, durchschneiden die heutigen nationalen Außengrenzen ethnische
Communities, ihren Handel, ihr angestammtes Gewohnheitsrecht.)

Mali war seine Geschichte hindurch ein Brücken?Land: zwischen Klimazonen,
Hautfarben, Kulturen, zwischen nomadischen und sesshaften Lebensformen. In
Zukunft wird es Frieden und Prosperität für diese Land nur geben, wenn mit
modernen Mitteln an die vorkolonialen Traditionen angeknüpft wird: mit dezentralem
Regieren, Anerkennung regionaler Vielfalt, lokaler Kontrolle über Ressourcen. Ein
Konzept für alle, für die Mehrheit.

Haben die Tuareg im Vorgriff darauf das Recht auf Spezialgarantien, aufgrund ihrer
besonderen Konflikt? und Leidensgeschichte mit dem Zentralstaat? Vielleicht. Aber
eher führt diese Frage in eine falsche Richtung. Denn es gibt nicht „die Tuareg“; die
bewaffnete MNLA spricht nur für eine Minderheit. Sie kann noch weniger für die
Gesamtheit der nördlichen Ethnien sprechen (unter denen die Tuareg etwa 30 Prozent
ausmachen). Und den ganzen Landesteil von der algerischen Grenze bis zum Binnen?
Delta des Niger als „Azawad“ für autonom erklären zu wollen, ist unhistorisch und für
die Mehrheit der Malier aus guten Gründen nicht akzeptabel.

Es ist eine Folge französischer Politik, dass der neue Präsident Ibrahim Boubacar Keita
gleichwohl gezwungen ist, gleich zu Beginn seiner Amtszeit mit der MNLA darüber zu
verhandeln. Denn nur weil die französischen Streitkräfte nach ihrem Einmarsch die
MNLA?Kämpfer als Ordnungsfaktor im nördlichen Kidal installierten, konnte die
Regierung in Bamako erpresst werden: Wenn ihr Wahlen im ganzen Land wollt, müsst
ihr einen provisorischen Friedensvertrag unterschreiben und euch danach mit uns an
einen Tisch setzen! Angesichts der relativ wenigen Bürger, die sich dann in Kidal
tatsächlich an die Urnen trauten, hat die Zentralregierung einen hohen Preis bezahlt,
der als Hypothek den Neuanfang belastet.

Und an den Verhandlungstisch drängen sich nun auch die malisch?arabischen Milizen,
die mit der einen Hand auf die Tuareg?Konkurrenz schießen und mit der anderen ein
Kooperations?Abkommen unterzeichnen. Privilegierte Behandlung für Bewaffnete ?
eine schlechte Weichenstellung. IBK, wie der Präsident in Mali genannt wird, hatte im
Wahlkampf versprochen, eine Nationalkonferenz aller Bevölkerungs?Gruppen des
Nordens einzuberufen; auch müsse auf Basis einer Übergangsjustiz (transitional justice)
„das Recht auf Wahrheit“ und „das Recht auf Wiedergutmachung“ erfüllt werden. Ob
die Zivilbevölkerung nun tatsächlich eine Mitsprache bekommt, bleibt abzuwarten.

Versöhnung kann in Mali indes nicht interethnisches Händchenhalten bedeutet. Was
der Norden braucht, braucht das ganze Land: einen Staat, der nicht Eigentum gieriger
Eliten ist. Die Präsidentschaftswahl hat gezeigt, was die allermeisten Malier, jenseits
von Nord?Süd?Kategorien verbindet: Sie wollen ein Ende der Korruption, einen
sauberen politischen Neuanfang. Ablesbar ist dies am Absturz von „Adema“, größte
malische Partei, Mutter der Fassadendemokratie und Heimat des bisherigen Interims?
Präsidenten; Ademas Kandidat blieb unter zehn Prozent. Und jener Politiker, der noch
Anfang 2012 ausersehen war, künftiger Staatschef im malischen Kartenhaus zu sein,
blieb gar unter fünf Prozent. Wie populär der Sturz dieses Systems durch einen Putsch
junger Offiziere im März 2012 tatsächlich war, hat sich nun an der Urne bestätigt. Das
ist eine Zeitenwende, zumindest im Bewusstsein. Doch wer könnte sie in Realität
umsetzen und den Bruch mit den alten Methoden exekutieren, gegen den Widerstand
all ihrer Nutznießer?

Eine wenige Aspiranten, die den Bruch mit der Vergangenheit glaubwürdig
verkörperten, waren nicht hinreichend bekannt, nicht populär genug. Und sie
verfügten nicht über die Geldmittel, dies in kurzer Zeit zu ändern. Unter denen, die
reich, gerissen und volkstümlich genug sind, um Sportstadien füllen zu können, war
IBK das kleinere Übel – sagen Stimmen der Zivilgesellschaft. Der Mann habe
zumindest einen eigenen Kopf, sei keine Marionette. Doch müsse man ihm scharf auf
die Finger sehen und gegen seinen autoritären Stil eine Gegenmacht von unten
aufbauen.

Neben dem Wunsch nach einer sauberen Politik gab es ein zweites Motiv – und vor
allem dies hat IBK letztendlich an die Macht gebracht: Kränkung. Das Gefühl einer
nationalen Kränkung hat sich tief in Malis kollektiver Psyche eingenistet. Wehrlos
gewesen zu sein gegenüber Rebellen und Djihadisten, gezwungen Frankreich zu Hilfe
zu rufen, und nun tausende ausländische Soldaten im Land dulden zu müssen – für
das vehemente Nationalbewusstsein der Malier war all dies schwer erträglich. IBK
versprach, Malis Ansehen wiederherzustellen und setzte auf sein Image als Politiker
der harten Hand, der Staat und Armee wieder stark machen werde.

In der noch jungen Demokratie der 90er Jahre hatte er als Premierminister Dauerstreiks
von Schülern und Staatsbediensteten mit Prügel und Tränengas erstickt, die Schulen
geschlossen, ein ganzes Schuljahr für nichtig erklärt. Im Wahlkampf trat er nun auf wie
ein autoritärer Vater, nannte sich selbst „einen Mann, der sein Volk kennt, der ihm
zuhört, der es liebt“. Vor allem die weniger Gebildeten mögen solchen Paternalismus.

IBK kam zugute, dass er sich nach dem Putsch im März 2012 diskret zurückhielt und
sich nicht der sogenannten „Anti?Putschisten?Front“ anschloss, in der sich ein Großteil
der alten politischen Klasse versammelte; sie hieß im Volksmund auch die „Front der
Schande“. Viele Malier hoffen, IBK werde nun verwirklichen, was die Putschisten
damals versprachen, nämlich „Null Toleranz gegen Korruption“ und eine starke
Armee.

IBK schwört, er habe sich persönlich nie illegal bereichert. Nun gut ? er bezog als
Botschafter, Minister, Abgeordneter jahrzehntelang Gehälter, die immer ein
Hundertfaches dessen waren, was ein malischer Bauer in seiner Tasche sieht. Der
populären Forderung, sein Vermögen offen zu legen, kam er nicht nach. Und als
Präsident des Parlaments hat er die korruptive Konsens?Politik des später gestürzten
Staatschefs Amadou Toumani Touré aktiv mitgetragen. Nun verspricht er einen Bruch
mit dessen Methoden. Doch eine Ahndung von Schuld wird es mit ihm nicht geben.
Die angeprangerten Taten haben bei ihm keine Täter.

Noch ein ganz anderes Phänomen kennzeichnet das Mali dieser Tage: Alle
einflussreichen muslimischen Führer riefen auf, zur Wahl zur gehen. Das galt für
Mahmoud Dicko, Vorsitzender des Hohen Islamischen Rats und dem Wahhabismus
nahe; es galt ebenso für dessen bekanntesten Gegenspieler, den Prediger Ousmane
Madani Haidara, ein moderner Sufi mit Millionen Anhängern. Haidara war nach dem
Putsch auf dem politischen Parkett immer wieder als Vermittler aufgetreten; jetzt
lehnte er es ab, seinen gewaltigen Anhang auf einen bestimmten Kandidaten
einzuschwören. Ein religiöser Führer, sagte er, muss neutral bleiben.

Anders die neue muslimische Lobby?Vereinigung „Sabati“; sie mobilisierte ganz offen
für IBK. Der Sabati?Präsident Moussa Boubacar Bah ist eine angesehene Gestalt der
jüngeren Prediger?Generation, die er auch offiziell im Islam?Rat vertritt. Vor der Presse
betonte er die nicht?religiösen Ziele von Sabati: hohe Wahlbeteiligung, saubere
Regierungsführung. Zu den zahlreichen Forderungen eines Sabati?Memorandums
gehört aber auch: Der Staat solle religiöse Vereinigungen finanziell so fördern wie
politische Parteien, Alkoholwerbung verbieten und die Zuständigkeit für arabisch?
sprachige religiöse Schulen übernehmen. Der Bankier dieser Lobby?Gruppe ist ein
schwerreicher traditioneller Sufi?Führer, der sogenannte Chérif von Nioro; er hatte
2012 den Putsch begrüßt und sich deswegen den Hass der alten politischen Klasse
zugezogen.

Die muslimischen Protagonisten sortierten sich in diesem Wahlkampf nicht so simpel,
wie man es im Westen gern annimmt: hier religiös radikal, dort religiös moderat.
Sondern sie unterscheiden sich nach Nähe oder Ferne zur Macht. Die einen wollen
sich direkt in die politischen Dinge einmischen, die anderen nur indirekt. So wurden
in mehreren Moscheen Imame ausgebuht, als sie auf die Wahlempfehlung zu sprechen
kamen; bleib gefälligst beim religiösen Thema deiner Predigt! Es kam sogar zu
Handgreiflichkeiten. Für friedliche und transparente Wahlen zu beten, das war vielen
Gläubigen genug.

Gleichwohl liegt eine gewisse Pikanterie darin, dass eine vom Westen aufgedrängte
Wahl nun ihren Erfolg nicht zuletzt der mobilisierenden Kraft religiöser Akteure
verdankt. Denn deren Ansehen stieg in Mali in jenem Maße, wie das Ansehen der
politischen Klasse verfiel ? eben jener Politiker, die vom Westen als Pfeiler der
Demokratie alimentiert wurden. Mahmoud Dicko, der Islam?Rat?Vorsitzende, benennt
diesen Widerspruch mit der ihm eigenen Schlitzohrigkeit: „Die Institutionen der
Demokratie wurden zur Geisel genommen von Leuten, die sich nur bereichern
wollten. Darum haben sich die Menschen mehr der Moschee zugewandt. Wieso soll
das ein Rückschritt an Demokratie sein? Wenn Demokratie tatsächlich universell ist,
muss sie sich unserer Realität und unseren Werten anpassen.“

Auch wenn Mali formell eine säkulare Republik bleibt (und das ist anzunehmen), wird
sich der religiöse Einfluss aus dem öffentlichen Leben nicht mehr zurückziehen. Für
eine eigenständigere Politik gegenüber dem Westen muss das nicht von Nachteil sein.