Aminata Traoré: "Das Scheitern und der Affront - Mali ist den Maliern zurückzugeben“

03.05.2013

An dieser Stelle veröffentlichen wir die Stellungnahme von Aminata Traoré angesichts der Situation in Mali. Für ihre (globalisierungs-)kritischen Ansichten wurde Frau Aminata Dramane Traoré im April vo Frankreich de facto zur Persona Non Grata erklärt, als ihr auf Druck Frankreichs das Shengen-Visum verweigert wurde. Auch zu dieser “Affaire” nimmt Frau Traoré in diesem Text Stellung.

„Jede imperialistische Gesellschaft sieht im Anderen die Verneinung des Ideals, das zu erreichen sie selbst sich bemüht. Sie versucht, ihn sich untertan zu machen, indem sie ihn in den Anwendungsbereich ihres Ideals hineinlockt und dort auf dem niedrigsten Rang platziert.“ Wolfgang Sachs1

1. Was ist aus uns in Mali geworden?

„Wem werden wir die Schlüssel zurückgeben?“ lautet bezüglich Mali die Frage, die Pierre Lellouche gestellt hat, Abgeordneter der UMP (Anmerkung der Übersetzerin: französische Partei, die die Staatspräsidenten Chirac und Sarkozy stellte) und Präsident der Sahelgruppe der Kommission für Auswärtige Angelegenheiten der Französischen Nationalversammlung. Das war am 22. April 2013 während der Parlamentsdebatte, die der Abstimmung über die Verlängerung der „Operation Serval“ vorausging. Wie um ihm zu antworten, sagt Hervé Morin, ehemaliger Verteidigungsminister (UMP): „Aber es gibt niemanden, an den wir die Verantwortung übergeben können“. Der Verlängerungsantrag ging reibungslos über die Bühne und wurde einstimmig beschlossen. Und was die Präsidentschaftswahlen im Juli 2013 betrifft, ist das offizielle Frankreich sich nicht nur einig sondern zeigt es auch keine Kompromissbereitschaft.

Er werde „unerbittlich“ sein, hat Staatspräsident François Hollande gewarnt. Dieses Wort ist hier in unser aller Köpfe und hat uns verletzt. Der französische Verteidigungsminister Jean Yves Le Drian meint zu diesem Thema, dass „die Dinge deutlich gesagt werden müssen“ (Radio France Internationale). Die Malier, die Staatspräsident François Hollande als Befreier willkommen hießen, dachten, dass die „Operation Serval“ ihr Land schnell von der AQMI (Al Qaeda au Maghreb Islamique) und den mit ihnen verbündeten Gruppierungen Ansar Dine und MUJAO (Mouvement pour l'unicité et le djihad en Afrique de l'Ouest) befreien und das Leben wieder wie vorher sein würde. Die militärische Intervention hat die Bedrohung durch die Dschihadisten, indem Hunderte von ihnen getötet und enorme Waffenarsenale und Treibstoffvorräte zerstört worden sind, mit Sicherheit verringert. Die Städte Gao und Timbuktu sind jedoch befreit und sind es doch nicht ganz, denn dort operieren nach dem offiziellen Sprachgebrauch „versprengte“ Einheiten und verüben Anschläge. Noch besorgniserregender ist die Tatsache, dass Kidal sich in den Händen der Nationalen Bewegung für die Befreiung des Azawad (MNLA) befindet, die der malischen Armee den Zugang untersagt.

Aus Angst, nicht weiter zu kommen, verringert Frankreich seine Truppenstärke, ohne sich jedoch zurückzuziehen. Seine Zusammenarbeit mit der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (CEDEAO) bei der Mobilisierung afrikanischer Truppen der Internationalen Unterstützungsmission für Mali (MISMA) ist dabei alles andere als befriedigend. Die UN-Blauhelmmission MINUSMA (Mission multidimensionnelle intégrée des Nations Unies pour la stabilisation au Mali) wird im Juli in Aktion treten.

Frankreich wird vorankommen. In was für ein Abenteuer jedoch hat es unser Land, das doch gar nicht darauf vorbereitet war, gestürzt? Und was für ein Mali werden wir den nachfolgenden Generationen überlassen? Ein Mali, in dem der Abzug des letzten französischen Soldaten einer der Höhepunkte seiner Entkolonialisierung war und das heute den Rest seiner Souveränität verliert?

In seiner Rolle als Befreier zuversichtlich versprach Staatspräsident Hollande uns während seines Aufenthalts in Bamako eine neue Unabhängigkeit, „nicht in Bezug auf den Kolonialismus sondern in Bezug auf den Terrorismus“. So als stünde es Frankreich zu, uns aus einer Gefahr zu retten, an deren Schaffung es selber beteiligt ist, blickt man auf seine Intervention in Libyen zurück.

Ist der malische Mensch ausreichend in die Geschichte eingetreten?2 Ist er Subjekt seiner eigenen Zukunft, um von seinem Recht Gebrauch zu machen, „nein“ zu sagen zu den Entscheidungen, die sein Schicksal bestimmen?

Die Militarisierung als Antwort auf das Scheitern des neoliberalen Modells in meinem Land ist die Entscheidung, gegen die ich protestiere. Während mir der Aufenthalt in den Ländern des Schengenraums untersagt ist, sehe ich mit Bewunderung und Respekt auf die Mobilisierung und Entschlossenheit der Völker Europas zum Kampf gegen dasselbe System, das uns hier in Afrika in aller Seelenruhe zermalmt.

2. Der Zusammenbruch des „siegreichen“ malischen Kapitalismus

Mali leidet unter einer humanitären und Sicherheitskrise im Norden nicht wegen der Rebellion und des radikalen Islam, und unter einer politischen und institutionellen Krise im Süden nicht aufgrund des Staatsstreichs vom 22. März 2012. Dieser reduzierte Ansatz ist das Haupt- und das wahre Hemmnis für den Frieden und nationalen Wiederaufbau. Wir haben vor allem dem Zusammenbruch eines angeblich siegreichen malischen Kapitalismus mit sehr hohen sozialen und humanen Kosten beigewohnt.

Seit den 80er Jahren sind Strukturanpassung, Massenarbeitslosigkeit, Armut und extreme Armut unser Los. Frankreich und die anderen europäischen Länder trifft es nur 30 Jahre später als Mali und seine Leidensbrüder Afrikas, die seit drei Jahrzehnten der Rosskur des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank unterworfen werden.

Der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (Bericht 2001) zufolge ist Afrika der Kontinent, wo Strukturanpassungsmaßnahmen am massivsten, gründlichsten und zerstörerischsten durchgeführt wurden, in den 80er und 90er Jahren, in denen die internationalen Finanzinstitutionen sich um nichts anderes sorgten als um die Korrektur von makroökonomischen Ungleichgewichten und Marktverzerrungen, und Armutsstrategiepapiere von den Staaten verlangten.

Margaret Thatchers Credo „There is no alternative” funktioniert bestens. In wirtschaftlicher Hinsicht heißt es so viel wie “Liberalisiert eure Wirtschaft um jeden Preis“, in politischer Hinsicht „Demokratisiert gemäß unseren Normen und unseren Kriterien“ und im Falle Malis „Geht im Juli wählen“. Zu dieser an sich schon gefährlichen Agenda gesellt sich momentan die die militärische Dimension betreffende Vorgabe „Sichert euer Land unseren Methoden und unseren Interessen gemäß“.

Zum einen auf dem Altar des sogenannten freien und konkurrierenden Handels geopfert, der tatsächlich jedoch absolut unfair ist, wie es der Baumwoll- und der Goldsektor veranschaulichen, und zum anderen auf dem Altar der formellen Demokratie, ist Mali nun auch dabei, im Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus geopfert zu werden.

Die Rebellion der MNLA, der Staatsstreich und die Rekrutierung der jungen und ausgehungerten Arbeitslosen im Norden wie im Süden des Landes durch die AQMI, Ansar Dine und MUJAO stehen mit einem explosiven nationalen Umfeld im Zusammenhang. Ende 2011 und Anfang 2012 war es von Protestmärschen gegen die hohen Lebenshaltungskosten, die Arbeitslosigkeit, die Unsicherheit, das Verfassungsreferendum, die Frage der Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden, die Korruption und das Klima der Straffreiheit geprägt.

Die kleine Minderheit der Neureichen einmal außen vor gelassen, ist es das malische Volk, das bei der Öffnung der malischen Wirtschaft mit der Brechstange der große Verlierer ist. Abgelenkt wird es durch das verlogene Mantra von der Beispielhaftigkeit unserer Demokratie und unserer wirtschaftlichen Leistungen, die wie es scheint die besten der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion gewesen sind. Abweichende Stimmen werden verfemt.

3. Versagung von Demokratie

Innerhalb seiner eigenen Grenzen demokratisch, wenn man sich den Inhalt und die Lebhaftigkeit der Debatte in der französischen Nationalversammlung und auf den Straßen z. B. über die Heirat für alle ansieht, zeigt Frankreich sich in seinen Beziehungen zu Mali unnachgiebig. Es sieht rein gar nichts Schlechtes an seiner Rückkehr zur Gewalt. Man kennt seine Absichten nicht oder tut jedenfalls so. Man singt und tanzt zu seinem Ruhme, wenn man seine Gunst genießen, politisch existieren und sich in Europa frei bewegen will. Sich dem zu verweigern, liefe darauf hinaus, nicht für Frankreich und daher gegen Frankreich zu sein. Man glaubt sich fast am Tag nach dem Anschlag auf das World Trade Center in den USA im Jahr 2001, als US-Präsident George W. Bush erklärte: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. In meinem Fall sind es die linken Positionen über die verheerenden Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung in Afrika, die staatsgefährdend geworden sind. 2010 hatten sie mir noch eine Einladung von der Sozialistischen Partei auf ihre Sommer-Universität in la Rochelle eingebracht.

Um den Sinngehalt meines Diskurses und meines Kampfes zu verwischen, wurde ich zunächst als Befürworterin des Putsches und Gegnerin der CEDEAO dargestellt. Als Steigerung bin ich nun unter Hausarrest gestellt worden. Karamoko Bamba von der N´KO-Bewegung verdanke ich den afrikanischen Gedanken, wonach „derjenige, der das Gewehr hat, sich dessen nicht bedient, um die Macht zu übernehmen. Und der, der die Macht innehat, übt sie im Interesse des Volkes aus und unter seiner Kontrolle“.

Warum sollte ich die gesamte Verantwortung für den Zusammenbruch des Staates den links Liegengelassenen einer Armee zuschreiben, die genau wie die anderen Institutionen der Republik verdorben ist durch Korruption, Vetternwirtschaft und ein Klima der Straffreiheit?

Es kann doch nicht den Soldaten vorgeworfen werden, ein Land nicht verteidigen zu können, dessen politische und Wirtschaftseliten nicht nur akzeptieren, es unter den schlimmsten Bedingungen für den Markt zu öffnen, sondern die sich dabei auch noch bereichern. Das Scheitern ist in erster Linie ihnen zuzuschreiben, weil sie ein Wirtschaftsmodell gefordert haben, das gleichbedeutend ist mit einem Disengagement und einer Spaltung des Staates, einer Verwahrlosung der Truppen und Massenarbeitslosigkeit. Wenn sie in den 80er Jahren nicht imstande waren, die Verwüstungen durch dieses System zu erkennen, können unsere politischen Führer sie im Hinblick auf die Sackgasse, in die es Griechenland, Spanien, Portugal, Zypern und ihr Referenzmodell Frankreich geführt hat, nun nicht mehr übergehen.

4. Von der Ächtung zur Kriminalisierung

Es ist der 12. April, und ich bin dabei, mich aufgrund einer Einladung der Partei „Die Linke“ nach Berlin und mit einer Einladung der Nouveau Parti Anticapitaliste nach Paris zu begeben, als ich erfahre, dass ich in Europa auf das Betreiben Frankreichs hin zu einer Persona non grata geworden bin. Das Gleiche gilt für Oumar Mariko, den Generalsekretär der Partei SADI (Solidarité Africaine pour la Démocratie et l´Indépendance). Die deutsche Botschaft hat mir ein Visum erteilt, das es mir gestattet, über Istanbul anstatt über Amsterdam, wie ursprünglich vorgesehen, nach Berlin zu reisen. Und was die Etappe in Paris anbelangt, ist diese schlicht und einfach abgesagt worden.

Erfahren habe ich davon durch die folgende Nachricht, die mir die Rosa-Luxemburg-Stiftung zukommen ließ.

„Die deutsche Botschaft in Bamako hat uns heute morgen darüber informiert, dass Ihr Visum für Deutschland unter der Auflage erteilt wird, nicht durch einen Schengen-Staat zu reisen. Deshalb haben wir ein neues Flugticket gekauft (die Flüge gehen nun über Istanbul), das Sie anliegend finden. Es tut mir leid, dass Sie daher nicht die Möglichkeit haben, drei Tage in Paris zu verbringen. Aber die deutsche Botschaft hat uns darüber informiert, dass Frankreich verhindert hat, dass Sie ein Visum für den Schengenraum bekommen.3 Wir holen Sie Montag am Berliner Flughafen ab.“

Die Organisation „AfricAvenir“ hat daraufhin als Mitveranstalterin einer der Veranstaltungen in Berlin protestiert, und ihre Hauptpartner haben ihrerseits ebenfalls reagiert. Allen, die sich mit mir solidarisch gezeigt haben, danke ich, und im Hinblick auf all diejenigen, die meinen, dass Frankreich das Recht hat, meine Bewegungsfreiheit einzuschränken, weil ich mit Paris nicht einverstanden bin, wenn es seine Politik nur an den eigenen Interessen ausrichtet, erinnere ich hier an den Zweck meines Kampfes.

Wer kann mir vorwerfen, das zu sagen, was die Verfasser des Informationsberichts des französischen Senats so klar wie folgt ausdrücken: „Frankreich kann sein Interesse für Afrika nicht aufgeben, das seit Jahrzehnten seine strategische Stärke ausmacht, morgen eine größere Bevölkerung als Indien und China haben wird (im Jahr 2050 werden 1,8 Milliarden Menschen in Afrika leben, im Vergleich zu 250 Millionen im Jahre 1950), den Großteil knapp werdender Bodenschätze birgt, und einen zwar ungleichmäßigen aber ungekannten Wirtschaftsaufschwung erlebt, der nicht mehr nur vom Höhenflug der Rohstoffpreise sondern auch vom Entstehen einer echten Mittelklasse getragen ist“4.

Wenn die Aussagen zu den demographischen und wirtschaftlichen Aspekten begründet sind, ist der „Wirtschaftsaufschwung“, auf den dieser Bericht anspielt, ein ungewisser und Ursache von Konflikten, da er nicht allen zugute zu kommt, sondern zunächst nur ausländische Unternehmen und ein Teil der politischen und der Wirtschaftselite von ihm profitieren.

Bei der gegenwärtigen militärischen Intervention geht es um Wirtschaftsinteressen (Uran, also Kernkraft und eine unabhängige Energieversorgung), Sicherheit (die Gefahr terroristischer Anschläge gegen die Interessen multinationaler Unternehmen, namentlich AREVA, Geiselnahmen und Bandenkriminalität, insbesondere Drogen- und Waffenhandel), Geopolitik (insbesondere die chinesische Konkurrenz) und Migration.

Auf was für einen Frieden, was für eine Versöhnung und was für einen Wiederaufbau können wir hoffen, wenn diese Interessen sorgsam vor dem Volk verborgen werden?

5. Die Instrumentalisierung der Frauen

Die Ablehnung eines Visums für den Schengenraum zielt zwar nicht auf mich als Frau, zeigt aber, dass diejenigen Frauen, die sich weigern, für die vorherrschenden Interessen instrumentalisiert zu werden, bekämpft werden können. Auf nationaler Ebene mache ich diese schmerzhafte Erfahrung schon seit langem, aber von Frankreich, der Wiege der Menschenrechte, geächtet zu werden, und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der mein Land sich im Krieg befindet, hatte ich nicht erwartet. Darin liegt ein Verstoß gegen die UN-Resolution 1325, die die Einbeziehung von Frauen an der Entscheidungsfindung auf allen Ebenen betrifft, von der Konfliktprävention über die Konfliktlösung bis zum Wiederaufbau.

Muss ich daran erinnern, dass Staatspräsident François Hollande am 8. März 2013, dem Internationalen Frauentag, seinem Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy, der sich Fragen über die Präsenz der französischen Armee in Mali stellte, antwortete, dass sie dort hingegangen sei, „weil Frauen dort Opfer von Unterdrückung und Barbarei wurden! Frauen, denen man vorschrieb, einen Schleier zu tragen! Frauen, die sich nicht mehr trauten, das Haus zu verlassen. Frauen, die geschlagen wurden!“.

Was den Schleier anbelangt, bin ich eine der malischen und sahelischen Frauen, die dem Analphabetismus entkommen sind, und versucht, den gefährlichen Schleier des wirtschaftlichen Analphabetismus zu zerreißen, der die Afrikaner in vollständiger Unwissenheit über neoliberale Politik hält und Stimmvieh aus ihnen macht. Würde Staatspräsident Hollande sich bezüglich des Datums für die Präsidentschaftswahlen in Mali ebenso unerbittlich zeigen, wenn er eine malische Wählerschaft vor sich hätte, die wirtschaftliche, monetäre, politische und militärische Souveränität in den Mittelpunkt der politischen Debatte stellt?

Was die Frauen, die „es nicht mehr wagten, das Haus zu verlassen“, betrifft, so verließ ich mein Land bis jetzt, wann ich es wollte, und reiste genauso frei in Europa und der Welt. Wie auch immer die Situation, in der ich mich im Moment befinde, ausgeht, auf die anderen Malierinnen und Afrikanerinnen, die die globale Welt verstehen und kämpfen möchten, um nicht alles passiv über sich ergehen zu lassen sondern um aufgeklärte und aktive Bürgerinnen zu sein, kann sie nur abschreckend wirken.

6. Hilfe zur Entwicklung oder zur Militarisierung

Das Problem des bewaffneten Dschihadismus bedarf, so scheint es, einer bewaffneten Lösung. In einem Land wie dem unseren ist folglich der Weg für den Kauf von Waffen gebahnt, anstatt den religiösen Fanatismus zu analysieren und zu heilen, der überall dort gedeiht, wo der Staat, beschnitten und privatisiert, notwendigerweise versagt oder ganz einfach nicht vorhanden ist.

Augen und Ohren zumachen, um nicht leer auszugehen, ist in diesem Kontext generalisierter Armut das vorherrschende Verhalten sowohl bei den Staaten als auch bei manchen nichtstaatlichen Organisationen. Und der Krieg – Gipfel des Grauens – ist auch eine Gelegenheit, frisches Geld in unsere ausgeblutete Wirtschaft zu injizieren.

Enttäuscht vom Zaudern und der Umständlichkeit Europas, dessen Solidarität sich bisher durch die Schulung der malischen Armee und einige bilaterale Unterstützungsleistungen ausgedrückt hat, fordert Frankreich die Europäer dazu auf, die finanzielle Anstrengung für die Verteidigung ihrer strategischen Interessen in Westafrika gemeinsam zu bewältigen. Weitere Geldgeber werden ebenfalls beteiligt werden.

Am 15. Mai 2013 werden sie in Brüssel den Plan für die dringlichsten Sofortmaßnahmen (für 2013 und 2014) überprüfen. Werden die Mittel, die man mobilisieren (oder ankündigen) wird, dem malischen Volk zu gute kommen, das nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht, oder werden sie in dieselben Wirtschaftskreisläufe fließen und denselben Praktiken unterliegen, die die Armut und die Ungleichheit verschärft haben?

Im Rahmen der Wiederaufnahme der Zusammenarbeit kündigt der dem französischen Außenministerium beigeordnete Minister, der für den Bereich Entwicklung zuständig ist, 240 Millionen Euro an, die für die Landwirtschaft, die Daseinsvorsorge, darunter die Versorgung der Regionen im Norden mit Wasser und Strom, und die Rückkehr der Bevölkerung verwendet werden sollen.

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass in der libyschen Hauptstadt Tripolis am 29. und 30. November 2010 der dritte EU-Afrika-Gipfel abgehalten wurde, zu dem der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi mit großem Pomp die Staatsführer 80 afrikanischer und europäischer Länder empfing.

Die Schaffung von Arbeitsplätzen, Investitionen und Wirtschaftswachstum, Frieden, Stabilität, Migration und der Klimawandel standen auf der Tagesordnung dieses Gipfels. Die Teilnehmer hatten sich auf einen „Aktionsplan“ für eine afrikanisch-europäische Partnerschaft für den Zeitraum von 2011 bis 2013 geeinigt.

Die EU bekräftigte bei dieser Gelegenheit erneut ihre Zusage, bis 2015 0,7% ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfen bereitzustellen und 50 Milliarden Euro für die Hauptziele der für die Jahre 2011 bis 2013 anvisierten Partnerschaft. Jetzt haben wir das Jahr 2013, und von den Millenniumszielen und den Wegen und Möglichkeiten, sie bis 2020 zu erreichen, sind wir weit entfernt. Denn es ist der Wurm drin.

Frieden, Versöhnung und Malis Wiederaufbau haben, wenn sie auf politische Abmachungen gegründet sein müssen, die „Hilfe von außen“ einbringen sollen, keinerlei Aussicht auf Erfolg.

Der Staat bzw. das, was von ihm übrig ist, wie auch die Rebellen kämpfen und verhandeln innerhalb des gleichen Paradigmas, das die Arbeitslosigkeit, die Armut und die Spannungen verschlimmert hat. Differenzen werden über Investitionen in die Infrastruktur beigelegt, dem Ort für schnelles Reichwerden und Korruption par excellence. Die Liste schlecht oder überhaupt nicht ausgeführter Infrastrukturaufträge ist lang. Sie erklärt zu einem Teil die Unzufriedenheit der Bevölkerung des Nordens, die leidet, während mittels der Unterschlagung öffentlicher Mittel und mit Hilfe von Geldern aus dem Drogenhandel vor aller Augen Einfamilienhäuser aus dem Boden schießen.

7. Wagen wir eine andere Wirtschaftsform

Nichts wird mehr wie vorher sein. Das, was schwierig war, läuft Gefahr, mit der Militarisierung, die Mittel absorbiert, die wir dringend für Maßnahmen in den Bereichen Landwirtschaft, Wasserversorgung, Gesundheit, Wohnen, Umweltschutz und Beschäftigung brauchen, noch schwieriger zu sein.

„Operation Serval“ hin, die Unterstützungsmission MISMA und die UN-Mission MINUSMA her, die Verteidigung unseres Landes ist, bevor sie eine militärische ist, zunächst eine intellektuelle, moralische und politische Herausforderung.

Als Präsidentschaftskandidat François Hollande erklärte, dass „es Zeit ist, einen anderen Weg zu wählen. Es ist an der Zeit, eine andere Politik zu wählen.“, fand ich mich in seinen Vorschlägen wieder. Diese Zeit ist gewiss gekommen, sowohl für Frankreich als auch für seine ehemaligen afrikanischen Kolonien. Es ist die der wirtschaftlichen, sozialen, politischen, ökologischen und gesellschaftlichen Übergänge, die nichts zu tun haben mit der Strategie der „internationalen Gemeinschaft“. Sie verweisen auf einen Paradigmenwechsel.

Damit die afrikanischen Staatsführer, die die Lüge von der Unvermeidlichkeit dieses Krieges zur Beseitigung der Gefahr des Dschihadismus verinnerlicht haben, sich nicht irren: der Effekt der Ansteckung, den sie fürchten, hat weniger mit der Mobilität der Dschihadisten zu tun als mit der Gleichartigkeit der ökonomischen, sozialen und politischen Realitäten, die vom neoliberalen Wirtschaftsmodell induziert werden.

Wenn die dschihadistischen Anführer auch von woanders herkommen, sind die Kämpfer in der Mehrheit junge Malier ohne Arbeit, ohne Ansprechpartner und ohne Zukunftsperspektive. Die organisierten Drogenhändler schöpfen bei der Gewinnung von Drogenkurieren und -dealern aus demselben Reservoir einer hilflosen jungen Generation.

Die Mutlosigkeit und die materielle Armut der Berufsanfänger, Landwirte, Viehzüchter und anderer verwundbarer Gruppen schafft den wahren Nährboden für Revolten und Rebellionen, die, wenn sie falsch gedeutet werden, zahlreichen kriminellen Netzwerken Zulauf verschaffen. Die Bekämpfung des Terrorismus und des organisierten Verbrechens, ohne Blutvergießen, funktioniert in Mali und Westafrika mittels einer ehrlichen und genauen Analyse der Bilanz der drei letzten Jahrzehnte eines ungezähmten Liberalismus und einer Zerstörung des wirtschaftlichen und sozialen Netzes sowie der Ökosysteme. Nichts hindert die Hunderttausenden jungen Malier, Nigerianer, Tschader, Senegalesen, Mauretanier und andere, die jedes Jahr die Anzahl der Arbeitsuchenden und der Antragsteller nach einem Visum vergrößern, daran, sich bei den Dschihadisten einzureihen, wenn die Staaten und die Finanzinstitutionen und sonstigen Organisationen, mit denen sie zusammenarbeiten, nicht imstande sind, das neoliberale Wirtschaftsmodell in Frage zu stellen.

8. Die unerlässliche Zusammenführung der Kämpfe

Ich plädiere für einen Geist der Solidarität, der uns das genaue Gegenteil von der Militarisierung tun lässt, uns unsere Würde zurückgibt, und uns das Leben und die Ökosysteme schützen lässt.

Alles würde in die richtige Richtung gehen, wenn die 15.000 Soldaten Lehrer, Ärzte und Ingenieure wären, und wenn die Milliarden Euro, die ausgegeben werden, für diejenigen bestimmt wären, die sie am dringendsten brauchen. Unsere Kinder müssten dann nicht hergehen und sich als schlechtbezahlte Soldaten, Drogendealer oder religiöse Fanatiker töten lassen.

Wir sind es uns schuldig, uns selber an die fundamentale Aufgabe zu machen, unser tiefes, unsicheres Ich und unser verwundetes Land zu transformieren. Der große Vorteil eines systemischen Vorgehens besteht in der Enttribalisierung des Konflikts zu Gunsten eines politischen Gewissens, das diejenigen, die die globalisierte Wirtschaft zermalmt, versöhnt und zusammenbringt. Die Touareg, Fulbe, Araber, Bamanan, Sonrhai, Bellah und Senufo würden aufhören, einander gegenseitig die Schuld zuzuschieben, und stattdessen gemeinsam und auf eine andere Weise kämpfen.

Dieses globalisierungskritische Vorgehen gibt uns unsere Würde zurück in einem Kontext, in dem wir dazu neigen, uns selber schuldig zu fühlen und uns – an Händen und Füßen gebunden – einer „internationalen Gemeinschaft“ zu überlassen, die Richter und Partei zugleich ist.

Es plädiert für ein Zusammenführen der Kämpfe, die innerhalb der Grenzen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsteilen stattfinden, die von der Barbarei des kapitalistischen Systems auf die Probe gestellt werden und weder aufgeben noch sich unterwerfen wollen. Sie müssen gemeinsam nach Alternativen zum Krieg suchen.

Führen wir den Kampf doch – anders als die freiheitlichen Staaten, die den Krieg vorgezogen und in Waffen zur Zerstörung von Menschenleben, sozialer Bindung und Ökosystemen investiert haben – mit Ideen, und berufen wir einen Bürgergipfel für eine andere Entwicklung Malis ein, um den Schraubstock der kapitalistischen Globalisierung zu lösen. Es geht darum, die Debatte über die Beziehung zwischen neoliberaler Politik und jedem Aspekt der Krise zu führen: die Massenarbeitslosigkeit der jungen Menschen, Rebellionen, Aufruhr, Staatsstreiche, Gewalt gegen Frauen, und religiöser Fanatismus.

Innovative und intensive Information und Bildung in den Landessprachen wird es den Maliern erlauben, endlich untereinander über ihr Land und seine Zukunft zu sprechen.

Da alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren werden, fordern wir lediglich unser Recht auf:

  • eine andere Wirtschaftsform, um selber über die Reichtümer unseres Landes zu verfügen, und um frei eine Politik zu wählen, die uns vor Arbeitslosigkeit, Armut, Irrfahrt und Krieg schützt
  • ein wirklich demokratisches politisches System, das für alle Malier verständlich ist, in den Landessprachen verfasst und debattiert wird, und sich auf kulturelle und gesellschaftliche Werte gründet, die weithin geteilt werden
  • Meinungsfreiheit und Freizügigkeit.

9. Gebt uns die Schlüssel für unser Land zurück!

Das offizielle Frankreich, das urbi et orbi verkündet, wir hätten „keinen Staat, der dieser Bezeichnung würdig wäre“ und ebenso wenig eine Armee, „die diese Bezeichnung verdient“, findet sicherlich, dass wir auch als Volk nicht existieren, wenn es so weit geht, sich zu fragen, „wem die Schlüssel zurückzugeben sind“, und die Abhaltung unserer Wahlen im Juli 2013 zu verlangen. Damit, dass eine nationale Verständigung – die es uns ermöglichen sollte, gemeinsam unter Maliern den Puls unseres Landes zu fühlen – nicht stattgefunden hat, kann Frankreich gut leben. Mit dem Notstand, der verhängt, ein erstes Mal und dann, um den Übergang „abzusichern“, ein zweites Mal verlängert wurde, genauso gut.

Ich habe nicht das Gefühl, dass „der Krieg gegen den Terrorismus“ im Irak, in Afghanistan und in Libyen Frieden gebracht hätte, und dass die Blauhelme es vermocht hätten, der Bevölkerung der Demokratischen Republik Kongo und Haitis die Sicherheit zu garantieren, die von ihnen zu erwarten die Menschen das Recht hatten.

Aber ich bin davon überzeugt, dass in jeder Malierin und in jedem Malier ein(e) Soldat(in) und Patriot(in) steckt, die bzw. der sich an der Verteidigung ihrer bzw. seiner Interessen und der Interessen Malis beteiligen dürfen muss, ausgehend von einer guten Kenntnis seines wahren Zustandes in einem globalisierten Wirtschaftssystem.

Die Antwort auf die unerträgliche Frage von Claude Lellouche ist klar: Mali ist den Maliern zurückzugeben. Wir können uns sehr gut um unser Land kümmern, denn wir, die Sahelvölker, wissen – und Bouna Boukary Dioura hat daran erinnert – dass Liebe und Beharrlichkeit letztendlich Felsen zum Blühen bringen.

Gebt Malis Schlüssel dem malischen Volk zurück!

Aminata D. Traoré, Bamako, 3. Mai 2013

Übersetzung: Martina Mielke; übertragbares Recht zur Veröffentlichung: Rosa-Luxemburg-Stiftung

[1] Wolfgang Sachs und Gustavo Esteva: Des ruines du développement, Montreal 1996

[2] Adü: Anspielung auf die von Frankreichs damaligem Staatspräsidenten Sarkozy im Juli 2007 in Dakar/ Senegal gehaltene Rede, nach der das Drama Afrikas darin besteht, dass der afrikanische Mensch noch nicht ausreichend in die Geschichte eingetreten sei

[3] AdÜ: Die Rosa-Luxemburg-Stiftung weist darauf hin, dass diese E-Mail den Informationsstand vom 12. April 2013 wiedergibt.

[4] Jean-Pierre Chevènement und Gérard Lacher: Mali: comment gagner la paix?, Rapport d´information numéro 513 vom 17.4.2013, angefertigt im Auftrag der commission des affaires étrangères, de la défense et des forces armées