Für Bewegungsfreiheit & selbstbestimmte Entwicklung!

Kein Abschied! Der Aufbruch aus dem Süden und die neue transmediterrane Solidarität

Von Helmut Dietrich, in: ak 574 vom 17.8.2012

Mit der Boats4People Kampagne ist es in diesem Sommer gelungen, ein weiteres transnationales Netzwerk über das westliche Mittelmeer hinweg aufzubauen. Die Westafrika-Karawane von Bamako nach Dakar hatte letztes Jahr den ersten Schritt getan. Nun also das Mittelmeer: das erste Ziel ist die Installierung eines alternativen Notrufsystems für boat people. Langfristig geht es um den Zusammenschluss der sozialen Kämpfe rund ums Mittelmeer. Das Aufbegehren gegen die Verarmung, wie in Griechenland und Spanien, findet weiter südlich schon seit mehreren Jahrzehnten statt. Das ist der Hintergrund der EU-Abschottung gegen den Süden.

1981 hieß es „Berlin, Zürich, Brixton!“ Eine Welle von Hausbesetzungen und Stadtteilunruhen erfasste die europäische Metropolen. Als 1983/1984 die sogenannten Brotrevolten in Nordafrika begannen und nach wenigen Tagen mit Zugeständnissen und Repression niedergeschlagen wurden – in Tunesien gab es mehr als 150 Tote! – , war das der Start für einen neuen Internationalismus in Europa. Der Bezug auf nationale Befreiungsbewegungen war obsolet geworden. Die Staaten, die gegen den europäischen Kolonialismus ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, hatten auf Kosten der Landbevölkerung die nachholende Entwicklung forciert und waren damit wirtschaftlich gescheitert. Sie akzeptierten die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) und strichen die Lebensmittelsubventionen. Das war der Auslöser der Brotrevolten.

Doch dem metropolitanen neuen Internationalismus gelang es nicht, Brücken über das Mittelmeer zu schlagen. Es gelang nicht einmal, die Kontinuität der sozialen Kämpfe im Maghreb nachzuzeichnen und tiefer zu verstehen. Erst in diesen Jahren erscheinen in Europa hervorragende Interviews mit geflohenen AktivistInnen aus dem Maghreb, mit genauen Bildern dieses anhaltenden, so oft unterdrückten Kampfzyklus, siehe z.B. das Interview mit Khaled Garbi Ben Ammar. Er studierte Ende der 1970er Jahre in Tunesien, wurde dann verbannt und floh schließlich 1990 nach Europa (http://uninomade.org/). Ben Ammar spricht davon, wie mobil die Studierenden, Arbeitenden und Arbeitslosen in den 1980er Jahren waren, ständig unterwegs, um bei Streiks und Demonstrationen mitzumachen, auszuhelfen und um gemeinsam zu diskutieren. Davon drang kaum etwas nach Europa. Und das lag, soviel ist sicher, bereits damals an der verdrehten Wahrnehmung in Europa: Nordafrika wurde mit Islamismus gleichgesetzt.

Seit Ende der 1970er Jahre hatten die arabischen Staaten einen bequemen Feind „erfunden“, die IslamistInnen. Zahlreiche Querverbindungen existieren zwischen dem laizistischen Regierungs- und dem oppositionellem Islamismus-Lager. Erst beteiligten sich die Islamisten an der Zerschlagung der Sozialrevolten, dann wurden einige Fraktionen von ihnen selbst blutig unterdrückt.

1988 fand in Bremen der Kongress zum neuen Internationalismus und in West-Berlin der Anti-IWF-Kongress statt. Abertausende beteiligten sich. Kurz danach, im Oktober 1988, ging die Jugend in Algerien landesweit zum Aufstand über. Die Armutsbevölkerung war rundum dabei. Es waren Jugendliche wie in Berlin, mit ähnlichen Ideen – nur viel ärmer und ausgehungert von den konsumfeindlichen IWF-Auflagen. Polizei und Militär schlugen den Aufstand nieder. Es gab ca. 500 Tote. Das Schweigen der metropolitanen Linken war beschämend. Den Rest des Aufstands sammelten die Islamisten ein und gewannen die Wahlen. Daraufhin putschten 1992 die Militärs mit stillem westlichen Segen, und es begann ein furchtbarer Bürgerkrieg, dessen Aufarbeitung bis heute in Algerien strafrechtlich verboten ist.

Wer damals über das Mittelmeer flüchtete, traf noch nicht auf Frontex. Viele südeuropäische Länder hatten gegenüber den MaghrebinerInnen noch keine Visapflicht verhängt. Schengen und die Festung Europa funktionierten am Mittelmeer noch nicht. Das einzige große Hindernis war die Ausreise aus dem Maghreb, denn man bekam nur schwerlich einen Pass; die heimliche Ausreise war aber damals strafrechtlich nicht verboten. In allen westeuropäischen Ländern liefen von den 1960er bis in die 1980er Jahre die Legalisierungen individuell, unter der Hand, als Maßnahme zur Integration in den „Gastarbeiter“-Fabrikarbeitsmarkt.

Mit den 1990er Jahren und erst recht nach dem 9/11 (2001) gingen die nordafrikanischen Regimes entsprechend dem US-Antiterrorismus zu einem ausgefeilten System präventiver Repression in ihren eigenen Ländern über. Verhaftung und Folter drohten bereits, wenn man in Verdacht geriet, nicht denunziert zu haben. Verdächtig war jede Art von Versammlung, nicht nur die von IslamistInnen. Unter Ben Ali (1987-2011) gab es über 30.000 politische Gefangene – bei einer tunesischen Bevölkerung von 9 Mio. Menschen. Schließlich waren die Organisationen zerschlagen. Der Widerstand gegen die Verarmung verlegte sich auf alltägliche und informelle Zusammenhänge.

Gleichzeitig begann die EU, nach Süden auszugreifen. Libyen wurde 2003 aus der internationalen Isolierung entlassen und erhielt Geld durch die Privatisierung der Erdölförderung. Tunesien und Marokko wurde eine größere wirtschaftliche Fördernähe zur EU versprochen. Anders als die EU-Osterweiterung, die eine allmähliche Angleichung der Lebensverhältnisse brachte, kam es gegenüber dem maghrebinischen Süden zu einer sozialgeographischen Frontbildung bei wachsendem EU-Einfluss. Der Wohlstands-/Armutsgraben am Mittelmeer erreichte einen Einkommensunterschied von bis zu 1:10. In der Jahrtausende alten Mittelmeergeschichte beförderte das eine nie gekannte soziale Spaltung zwischen Nord und Süd.

Das Containment gegenüber den „gefährlichen Klassen“ in Nordafrika bildete die Grundlage der ersten EU-Sicherheitsdoktrin und EU-Nachbarschaftspolitik (beide 2003). Die Migrationsabwehr stieg zum gemeinsamen politischen Mantra auf. Mit neuen Gesetzen zu Aufenthalt und Grenzüberschreitung gingen die nordafrikanischen Staaten ab 2003/2004 daran, die freie Ausreise unter Strafe zu stellen, die „Ausländer“ stärker zu überwachen und Razzien durchzuführen. Die nordafrikanische Küsten- und Meeresüberwachung wurde mit Südeuropa und der entstehenden Frontex-Agentur koordiniert.

Das war der Kontext, in dem Blair, Schily und Berlusconi zum Aufbau von EU-Flüchtlingslagern in Nordafrika drängten. Die dortigen Staaten nahmen die EU-Lager-Gelder und rüsteten unter eigener Regie ihre Gefängnisse und Lager zu Abschiebe-Einrichtungen um. 2005 riefen wir – die Forschungsgesellschaft Flucht und Migration mit dem Komitee für Grundrechte – zu Protest gegen diese Exterritorialisierung auf, zeitgleich mit dem französischsprachigen Netzwerk migreurop. (http://www.ffm-berlin.de/aufrufdeutsch.pdf, 2005) Aber es gelang uns nicht, einen transnationalen Austausch zum Thema aufzubauen.

Nachdem die Meerenge von Gibraltar auf das Schärfste überwacht wurde, verlegten sich immer mehr boat people auch aus anderen afrikanischen Ländern, seit 2003/2004 auf die Überquerung des Kanals von Sizilien. Die italienische Regierung rief auf Lampedusa den Notstand aus. Die EU begann mithilfe von Frontex, militärische Überwachungstechnik über dem Meer einzusetzen.

Boat people im Mittelmeer gab es, seitdem die EU um 1990/91 die Visapflicht für alle Menschen aus den südlichen Mittelmeer-Anrainerstaaten eingeführt hatte. Seitdem hat sich das Mittelmeer in den größten Friedhof Westeuropas in der Nachkriegszeit verwandelt. Mit der neuen High-Tech-Blockade und den zunehmenden Abschiebungen auf Hoher See Richtung Libyen (ab 2004/2005) stieg dann die Zahl toter Boat-people nochmals enorm an.

2004 rettete das Frachtschiff Cap Anamur der gleichnamigen Hilfsorganisation 37 Flüchtlinge im Kanal von Sizilien. Das war das erste Signal, dass der Widerstand gegen die Festung Europa mit dem Aufbau eines Rettungssystems im Mittelmeer neu beginnen müsste. Der Versuch wurde damals polizeilich-juristisch zerschlagen, von der europäischen Linken nicht verstanden (denunziert als „humanitäre Show“) und blieb ohne transnationalen oder gar transmediterranen Rückhalt.

Schon die transnationale Karawane in Westafrika 2011 kündigte an, dass der neue Internationalismus nun doch praktisch Fuß fassen würde. Eine zentrale Rolle spielen MigrantInnen, Fremdsprachenkundige und mobile Jugendliche, die ihr soziales Dorf der Freundschaften und des Austauschs über tausende Kilometer zu spannen wissen.

Als die EU auf die Arabellion mit Militarisierung, Schiffsblockade und Frontex-Einsatz im Kanal von Sizilien antwortete, kam es 2011 zu einem zweiten Höhepunkt der Zahl toter Boat-people. Erstmals dokumentierbar war die unterlassene Hilfeleistung. Unter den High-Tech-Augen der EU und der Nato verdursteten und ertranken die Flüchtlinge auf See. Inzwischen gibt es aktive soziale wie politische Kontakte quer über das westliche Mittelmeer. Und die billige High-Tech befindet sich in­zwischen auch in der Hand von Flüchtlingen, MigrantInnen, Rebellierenden und noborder-AktivistInnen. Daraus entstand die Kampagne Boats4People, Wochen der reisenden Begegnung und Diskussionen – und damit auch der Aufbau eines alternativen Notrufsystems: WatchTheMed.

Alles über B4P, mit Berichten und Bildern von den Stationen in Cecina, Palermo, Tunis, Monastir und Lampedusa sowie Presse-Kommuniqués und unterschiedlichsten Infos, lässt sich nachlesen auf www.boats4people.org; www.ffm-online.org; http://afrique-europe-interact.net/

Bleibt am Schluss zu resümieren: Die alte Flüchtlingshilfe mit Wurzeln im jüdischen Widerstand gegen nationalsozialistische Verfolgung, weiter entwickelt im Algerienkrieg und in den Unabhängigkeitskämpfen als Menschen auf der Flucht wie auch AktivistInnen unterstützt wurden; neu definiert als GI-Deserteure während des Vietnamkriegs versteckt werden mussten – sie bleibt Vorbild. Aber Boats4People vermeidet manche Fehler aus den 1970er Jahren: Zwar bezieht sich B4P auch auf alternative Organisationen wie attac in Nordafrika, aber verengt den Blick nicht auf die Suche nach politischen Bruder- oder Schwesterorganisationen. Die Fluchthilfe bietet die breiter angelegte Chance, eine Brücke zwischen den sozialen Kämpfen übers Mittelmeer zu schlagen.

KASTEN

Fähren-Assamblea zwischen den Welten: „Wenn wir nicht genug Boote für die AktivistInnen haben, nehmen wir die Fähre von Palermo nach Tunis.“ Der Vorschlag hatte zunächst einen pragmatischen Hintergrund, den Mangel an ausreichend Booten, zudem waren auch schon bei früheren Noborder-Aktivitäten – wie 2009 auf Lesbos – Fährschiffe für Proteste genutzt worden.

Nette Transparentaktionen beim Auslaufen aus Palermo und der Ankunft in Tunis gab es dann auch dieses Mal, doch dass die 10-Stunden-Fähre zu einer der interessantesten B4P-Stationen wurde, lag an einem Zusammentreffen der besonderen Art. Einerseits waren da die Passagiere, zu über 90 % tunesische MigrantInnen, die vor allem aus Italien aber auch aus anderen europäischen Ländern zum Urlaub oder Familienbesuch in ihr Herkunftsland übersetzten. Und andererseits gab es eine ca. 40-köpfige transnationale Reisegruppe von B4P, mit mehrsprachigem Infomaterial und Lautsprecheranlage ausgerüstet und neugierig auf eben die Migrationsgeschichten, die fast alle Passagiere im Gepäck hatten.

Der Funke sprang über: Viele B4P-AktivistInnen fanden sich schnell in zahlreichen kleinen, zumeist sehr spannenden Gesprächsrunden wieder, und luden dabei zu einer Versammlung später auf Deck ein. Der Zuspruch zu dieser außergewöhnlichen Assamblea mit offenem Mikrophon war großartig: Es waren stets rund 60 bis 80 Leute anwesend. Beiträge und Diskussionen über Reichtumsgefälle, Rassismus und Reisefreiheit, um nur ein paar Themen zu nennen, liefen in italienisch, arabisch und französisch. „Die Grenze ist das Problem“ – aus unterschiedlichen Blickwinkeln lag hier der ausgesprochene Konsens.

Als grass roots-Aktion und -Kommunikation im besten Sinne kann bezeichnet werden, was am 7. Juli auf dieser Fähre stattfand, einem Ort, der symbolisch wie praktisch die beiden Welten verbindet, zwischen denen so viele Menschen sich bewegen. Ein Ort aller möglichen und unmöglichen Erfahrungen und Geschichten und damit der Produktion sozialen Wissens das viel öfter direkten Eingang in die politischen Kämpfe gegen das Grenzregime finden sollte.