Kampf um die Wüste

Die Lage nach dem Putsch in Mali

Bernard Schmid (eine gekürzte Version des Textes ist in der Jungle World 16/2012 erschienen)

Ein Armeeputsch gegen einen Präsidenten, der noch genau einen Monat bis zum Wahltermin im Amt gewesen wäre. Eine Militärregierung, die ihrerseits insgesamt drei Wochen an der Macht bleibt. Eine Front, die während dieser Zeitspanne zusammenbricht. Eine Teilung des Landes in zwei ungefähr gleich großen Hälften. Und im Anschluss eine Übergabe der Macht an einen zivilen „Übergangspräsidenten“, der nun seit dem 12. April die Krise verwalten und das Eingebrockte auslöffeln darf.

Diesem chaotischen Szenario folgten die Ereignisse im westafrikanischen Staat Mali seit dem 22. März dieses Jahres. Ihr Ablauf deutet darauf hin, dass kaum einer der wesentlichen Akteure wirklich über einen Plan verfügte, den er zielstrebig umgesetzt hätte, sondern dass es sich um einen Krisenprozess mit starker Eigendynamik handelt.

In der Nacht vom 21. zum 22. März stürzte die malische Armee den seit 2002 amtierenden Präsidenten Amadou Toumani Touré, allgemein unter seinem Namenskürzel „ATT“ bekannt. Er kandidierte zu dem Zeitpunkt nicht zu seiner Wiederwahl. „ATT“ hatte zwei Amtsperioden absolviert, jedoch erklärt, die demokratischen Spielregeln respektieren zu wollen.

In seiner Amtszeit waren zwar massive Korruptionsphänomene beobachtet worden, für die zum Teil seine Umgebung und insbesondere auch seine Gattin – die den Präsidenten wiederholt zur erneuten Kandidatur zu drängen versuchte – verantwortlich gemacht wurden. Toumani Touré widersetzte sich jedoch dem Wunsch von Teilen seiner Familie und seiner politischen Berater, an der Macht zu bleiben, welcher in hohem Maße dadurch motiviert war, dass diese Kreise eine Aufdeckung ihrer Selbstbereicherung und eventuelle Strafverfolgung vermeiden wollten.

„ATT“ bereitete sich auf die Übergabe der Macht nach dem Wahltermin vor. Die malische Gesellschaft identifizierte sich jahrelang sehr stark mit der Demokratie, die im März 1991 durch eine Massenbewegung zum Sturz des aus der Armee kommenden Diktators Moussa Traoré errungen worden war. Die Revolte gegen General Traoré, der seinerseits 1968 den „sozialistischen Experimenten“ in den ersten acht Jahren nach der Unabhängigkeit von Frankreich unter dem ersten Präsidenten Modibo Keita ein gewaltsames Ende gesetzt hatte, kostete 200 bis 300 Tote durch die Repression. Im Anschluss zeichnete die Situation in Mali sich jedoch durch eine starke Vitalität der Demokratie und gerade auch der „Zivilgesellschaft“, mit vielen NGOs und Bürgerinitiativen, aus. Erst in den letzten Jahren hatte die Demokratie in Mali sich aufgrund von verbreiteter Armut, Korruption der politischen Elite und sozialer Frustrationen allmählich zu diskreditieren begonnen.

Dem Putsch widersetzte sich ein Großteil der Bevölkerung anscheinend nicht oder nur passiv, zum Teil wurde er sogar als Rettungsmaßnahme begrüßt. Die Machtübernahme durch einige, bis dahin wenig bekannte, Offiziere war ihrerseits eine Reaktion auf den schnellen Einbruch der Bürgerkriegsfront im Norden Malis, wo die bewaffneten Rebellen unaufhörlich vorrückten. Viele einfache Soldaten und Unterstützer aus der Bevölkerung hatten zuvor in der Hauptstadt Bamako demonstriert und „zu wenige Mittel durch die Regierung, um der Rebellion Herr zu werden“ beklagt.

Das Vorrücken der Rebellion, die ihrerseits ein Konglomerat aus unterschiedlichen Kräften darstellt, steht mit den Veränderungen im Großraum Nordafrika seit einem Jahr in engem Zusammenhang. Und insbesondere mit dem Zusammenbruch des Gaddafi-Regimes in Libyen zwischen Februar und Oktober 2011. Dessen Chef Muammar al-Gaddafi hatte, um seine Opponenten und bewaffneten Widersacher zu bekämpfen, in mehreren afrikanischen Ländern Söldner und Elitesoldaten rekrutiert. Unter ihnen die Präsidentengarde des südlichen Nachbarlands Tschad, aber auch eine Reihe von Tuareg aus dem Norden der Sahelzonenstaaten wie Mali und Niger. Vor dem Hintergrund ihrer ökonomischen Not, der Vernachlässigung ihrer Regionen durch die jeweiligen Zentralregierung, aufgrund politischer Spannungen zwischen teilweise nomadisch lebenden Bevölkerungen im wüstenhaften Norden des Sahelgürtels und den Regierungen im Süden dieser Staaten ließen manche Tuareg sich bereitwillig rekrutieren.

Nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes, ihrem Rückzug in die jeweiligen Herkunftsländer, aber auch nach der Freisetzung größerer Waffenarsenale im nunmehr von rivalisierenden Rebellengruppen und –haufen verwalteten Libyen wurde die Lage im Norden von Mali explosiv. Generell war die dortige Situation mit den Vorgängen in Libyen verflochten und verknüpft. Denn aufgrund seines Erdöl- und Erdgasreichtums und der „panafrikanischen“ politischen Ambitionen des früheren libyschen Diktators war das Regime in Tripolis ein wichtiger Geldgeber für malische Institutionen. Die Cité administrative, das Verwaltungszentrum in Bamako, ist etwa mit libyschen Geldern errichtet worden.

Im Oktober vergangenen Jahres hatten drei höhere Offiziere der malischen Armee, die als gute Strategen galten, sich der Tuareg-Rebellion angeschlossen. Letztere forderte seit längerem eine Autonomie oder die Unabhängigkeit der Nordhälfte des Landes. Diese wüstenhafte Region ist bislang – anders als der ebenfalls von Tuareg bevölkerte Norden von Niger, wo größere Uranvorkommen durch Franzosen, Chinesen und andere Mächte abgebaut werden – arm und weist keine bekannten Rohstoffvorkommen auf. Die Region ist jedoch noch stark unerschlossen, und mögliche Erdgasvorkommen werden an der Grenze zu Mauretanien vermutet. Auch glauben manche Beobachter an die Existenz von Uran- oder Erdölvorkommen.

Ab Mitte Januar dieses Jahres kam es zu einer heftigen Offensive der Rebellen, die sich unter dem Namen der „Bewegung zur nationalen Befreiung von Azawad“ – des MLNA – zusammengeschlossen hatten. Diese bis dahin weithin unbekannte Bewegung forderte die Unabhängigkeit des Nordens von Mali und bezeichnet ihn unter dem Namen Azawad. Am 17. Januar brachen Feuergefechte um die Stadt Ménaka aus, am 18. Januar auch um die Stadt Aguelhok, eine Woche später in Anderamboukane. Schon Anfang Februar waren 10.000 Menschen aus der Region vor den Kämpfen ins Nachbarland Niger geflüchtet.

Mitte Februar folgten Berichte über eine größere Hinrichtung gefangener und wehrloser Soldaten: 100 von ihnen seien in der Nähe von Aguelhok nach ihrer Gefangennahme durch Rebellen erschossen worden. Die französische Regierung erklärte, diese Nachrichten überprüft zu haben, und bestätigte die Information. Daraufhin kam es im Süden von Mali unter der Bevölkerung zu starken politischen Aufwallungen. „Die Söhne des Landes“ würden geopfert, prangerten Demonstranten – Zivilisten und Wehrpflichtige – an, die Regierung gebe der Armee nicht ausreichend Mittel, um standzuhalten. Die Souveränität des Landes, die in früher kolonisierten Ländern allgemein als hohes Gut betrachtet wird, sei bedroht.

Die Machtübernahme durch eine Gruppe von Offizieren, unter dem 40jährigen Hauptmann Amadou Sanogo an ihrer Spitze, wurde in diesem Klima von Teilen der Bevölkerung begrüßt. Nahezu alle politischen Parteien sprachen sich unterdessen gegen den Putsch sowie für die Respektierung des Wahltermins aus und schlossen sich zu einem Bündnis zusammen. Unterdessen erklärte jedoch die linksnationalistische Partei SADI („Afrikanische Solidarität für Entwicklung und Unabhängigkeit“) unter Oumar Mariko den Militärs ihre Unterstützung: Der „gesunde Teil“ der Armee des Landes habe eine Initiative zu dessen Rettung ergriffen, die den Auftakt zu einer „Widerherstellung des Staates und der Demokratie“ bilden könne. SADI hat ursprünglich linke und marxistische Wurzeln, geht jedoch in der Außenpolitik oft verquere Bündnisse ein und unterstützte im Jahr 2011 das Gaddafi-Regime.

Die Militärregierung nahm den Namen „Komitee für die Wiederaufrichtung der Demokratie und die Wiederherstellung des Staates“ (CNRDRE) an. Sie versprach, die Rebellion im Norden zu besiegen. Diese rückte jedoch umgekehrt rapide vor, und der MNLA rief offiziell am 06. April die „Unabhängigkeit von Azawad“ aus. Bislang wurde der proklamierte neue Staat jedoch international nicht anerkannt.

Die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten – französisch CEDEAO, englisch ECOWAS – übte ihrerseits starken Druck auf die Militärregierung aus, diese solle sich zurückziehen und „die verfassungsmäßige Ordnung wiederherstellen“. Hintergrund ist, dass alle Staatsführungen in der Region fürchten, selbst weggeputscht zu werden oder jedenfalls mit dieser Drohung leben zu müssen, wenn ein „erfolgreicher“ Staatsstreich einen Präzendenzfall schaffen sollte. Nach dem Einbrechen der Front im Norden lenkte die Militärregierung dann auch relativ schnell. Am 12. April übergab sie die Macht an den neuen zivilen Übergangspräsidenten, Diouncounda Traoré. Er stellte als erstes einen „totalen Krieg“ gegen die Rebellion im Norden in Aussicht. Dabei dürfte es sich jedoch im jetzigen Stadium lediglich um Kraftsprüche handeln. Allerdings treffen seit Anfang April nunmehr Berichte ein, wonach dort wohnende Tuareg aus der Hauptstadt Bamako fliehen, weil ihnen ein hasserfülltes und bedrohliches Klima entgegen schlage.

Unterdessen beginnt sich auch das Lager der Rebellion auseinander zu dividieren. Denn neben dem MNLA sind auch bewaffnete Islamisten und Djihadisten in der Region aktiv. So nahm die aus malischen Islamisten bestehende Bewegung Ansar eddin (arabisch für „Partisanen der Religion“) die drei Städte Timbuktu/Tombouctou, Gao und Kidal ein.

Auch die Djihadisten sind in Wirklichkeit auf mehrere Organisationen oder Strömungen aufgeteilt. Ansar eddin besteht aus Maliern und wird von dem einheimischen Tuareg Iyad ag Ghali angeführt. Aber an ihrer Seite kämpfen auch ausländische, insbesondere algerische Salafisten und Djihadisten. Drei Anführer der aus Algerien stammenden und in der Sahara aktiven Gruppe AQMI – „Al-Qaida im Land des islamischen Maghreb“, früher „Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC) – wurden dem Bamako-Korrespondenten des Figaro zufolge im von Rebellen eingenommenen Timbuktu gesichtet. Es handelt sich um Abu Zeid, Yahya Abu Hamman und den seit der Entführung europäischer Touristen im Jahr 2003 prominent gewordenen Mokhtar Belmokthar.

Bislang waren die Djihadisten in der Sahara in einer Art Joint-Venture mit den Tuareg verbunden. Die Islamisten waren aus städtischen Gebieten der Anrainerstaaten, besonders Algeriens, in die Wüstenzone ausgewichen, weil sie in den Zentren der Länder selbst den Kampf verloren hatten. In Algerien etwa hatten sie 1999 das Projekt der Machtübernahme auf nationaler Ebene definitiv aufgeben müssen, und die relativ schwachen Reste der vormals bedeutenden bewaffneten Islamistengruppen hatten sich in den „internationalen Djihad“ ohne konkreten Länderbezug zu flüchten begonnnen. Doch die Djihadisten, vormals Stadtbewohner, hätten allein in der Wüsten niemals überleben können. Durch das Knüpfen von auf materiellen Interessen basierenden Kontakten zu den Tuareg sicherten sie sich Überlebensmöglichkeiten. Die zum Teil noch nomadisch lebenden Tuareg sind im Handel mit allen möglichen Waren aktiv – früher mit Salz und mit Sklaven, heute reicht ihre Angebotspalette von Mobiltelefonen bis Kalaschnikows , sind jedoch gegenüber der Vergangenheit deutlich verarmt. Die Islamisten, die sich in der Region zu verankerten suchen, sind gute Kunden etwa für Wasser und Benzinvorräte, aber auch für Gewehre. Die Djihadkämpfer ihrerseits nutzen die Weiten der Wüste als Rückzugsraum, aber auch als mehr oder minder lukrative „Geschäftszone“ etwa für einträgliche Touristenentführungen. Ihre Verbindungen zu den Tuareg und deren Rebellengruppen sind jedoch nicht ideologischer, sondern eher merkantiler Art. Auch wenn es den Islamisten gelungen ist, auch unter den Tuareg und anderen Sahelbewohnern einige Anhänger zu gewinnen.

In den von ihnen eingenommenen Städten, aus denen insgesamt derzeit wenige Nachrichten nach außen dringen, scheinen die Islamisten einen gewissen Zuspruch aus der Bevölkerung zu erfahren. Insbesondere, weil ihnen zugute gehalten wird, dass sie nach den Kämpfen und der Einnahme der Städte Vorkommnisse wie Plünderungen und Vergewaltigungen rigoros unterbanden und darum in den Augen vieler „effizient für Sicherheit sorgten“. Dies sicherlich unter Androhung drakonischer Strafen. In der Nacht vom 09. zum 10. April schnitten mutmaßliche AQMI-Anhänger in der Nähe von Gao einem Mann, der zu einer Diebesbande gehörte und an der Attacke auf einen Passagierbus beteiligt war, die Kehle durch.

Die Tuareg haben sehr viel begrenztere politische Ziele als die Djihadisten: eine Unabhängigkeit des bisherigen Nordens Malis oder mindestens regionale Autonomie. Damit begnügen sich die radikalen Islamisten sicherlich nicht. Auch untereinander sind die Djihadisten sich nicht unbedingt grün. Die einheimischen Kämpfer von Ansar eddin fühlen sich vom Eifer ausländischer Djihadisten, etwa aus Algerien, mitunter überrollt. Eine undurchsichtige Rolle spielt ferner die djihadistische Bewegung MUJAO („Bewegung für Einheit und Djihad in Westafrika“), eine Abspaltung von AQMI. Manche Beobachter halten den MUJAO für einen verdeckten Verbündeten der Machthaber Algeriens, da die Organisation auch in den Flüchtlingscamps der Westsaharaflüchtlinge und ihrer Bewegung Polisario im algerischen Tindouf – die unter enger Aufsicht des algerischen Regimes – aktiv sei. Anfang April kidnappte der MUJAO sieben algerische Diplomaten, unter ihnen den Konsul, im malischen Gao. Innerhalb von kurzer Zeit wurden sie jedoch wieder freigelassen. Manche Stimmen behaupten nun, Algeriens Regierung habe nur nach einem guten Grund für eine Einmischung in die Angelegenheiten des Nachbarlands gesucht. Dies kann jedoch nicht eindeutig bestätigt werden.

Die neue malische Übergangsregierung versucht unterdessen, das Gemengelage aus Tuareg-Rebellen, einheimischen Islamisten der Bewegung Ansar eddin und ausländischen Djihadisten zu „entmischen“. Sie nahm Verhandlungen mit Ansar eddin auf, um diese von AQMi zu isolieren, und weil die malische Gruppe als für ein Abkommen gewinnbar betrachtet wird. Ansar eddin hat daraufhin 160 gefangene malische Soldaten freigelassen, was ihre Popularität unter Maliern positiv beeinflusst hat. Die Tuaregrebellen vom MNLA ihrerseits setzen sich von manchen Praktiken ihrer djihadistischen Nachbarn im bisherigen Nordmali. Eine französische NGO-Mitarbeiterin in Gao berichtete etwa, sie sei von Djihadisten gekidnappt, aber von Tuareg freigelassen worden.

Die Regierung des Nachbarlands Mauretanien, dessen Präsident und General Mohamed Abdulaziz 2008 durch einen Militärputsch an die Macht kam und sich dann 2009 bei Wahlen im Amt bestätigen ließ, mobilisiert gegen die „Gefahr eines neuen Afghanistan im Sahel“. Sie versucht dadurch freilich auch, ihren schon zuvor verfolgten Kurs militärischer Einmischung auch in die Angelegenheiten Malis zu legitimieren und verstärkte französische und US-amerikanische Unterstützung einzufordern.