18.12.2021 | Demo in Wien: Frontex abschaffen, das EU-Grenzregime beenden

Hintergründe zum EU-Grenzregime in Libyen, Algerien, Niger und Sudan

Mittelmeer und Libyen

Illegale Pushbacks, Auslieferungen an die libysche „Küstenwache“ und Zuschauen beim Ertrinkenlassen

Frontex ist ein bedeutender Akteur der tödlichen Grenzabschottung im Mittelmeer. Frontex war in mehreren Fällen nachweislich beteiligt an Pushbacks in der Ägäis aus griechischen Gewässern Richtung Türkei. Mehrfach beobachteten Aufklärungsflugzeuge von Frontex untergehende Boote von Migrant*innen und Flüchtenden und ließen die Menschen ertrinken, statt schnellstmöglich einen Rettungseinsatz einzuleiten. Stattdessen leitet Frontex regelmäßig Informationen über Boote an die sog. libysche Küstenwache, die Menschen gewaltsam in libysche Internierungslager und Foltergefängnisse zurückbringt.

Geflüchtete protestieren nach brutalen Massenverhaftungen und Morden für Evakuierung

In Tripolis protestieren seit Anfang Oktober 2021 tausende Geflüchtete und Migrant*innen vor dem UNHCR-Gebäude, nachdem bei brutalen Razzien mehr als 5000 Menschen gefangen genommen wurden. Nach Angaben der Selbstorganisation „Refugees in Libya“ wurden in Folge der Razzien 6 Menschen von Gefängniswärtern ermordet, außerdem wurden laut Berichten von vor Ort zwei Menschen bei Angriffen gegen die Protestierenden getötet. Die Geflüchteten in Tripolis fordern den Schutz ihres Lebens und ihrer Freiheit und als Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage die Evakuierung aus Libyen an einen sicheren Ort.

Dass sie überhaupt in Libyen festsitzen und dort schweren Menschenrechtsverletzungen ausgeliefert sind, ist direkte Folge der Praktiken des europäischen Grenzregimes und seiner Grenzschutzagentur Frontex, die um jeden Preis Menschen daran hindern, Libyen in Richtung Europa zu verlassen.

Refugees in Libya: Our Political Manifesto

We are Refugees and we live in Libya. We come from South Sudan, Sierra Leone, Chad, Uganda, Congo, Rwanda, Burundi, Somalia, Eritrea, Ethiopia and Sudan. We are fleeing from civil wars, persecutions, climate changes and poverty back in our countries of origin. We were all pushed by circumstances beyond human endurance.

We wanted to reach Europe seeking a second chance for our lives and therefore arrived in Libya. Here we became the hidden workforce of the Libyan economy: we lay bricks and build Libyan houses, we repair and wash Libyan cars, we cultivate and plant fruit and vegetables for Libyan farmers and Libyan dining tables, we mount satellites on high roofs for the Libyan screens etc.

Apparently this is not enough for Libyan authorities. Our workforce is not enough. They want the full control of our bodies and dignity. What we found on our arrival was a nightmare made of tortures, rapes, extortions, arbitrary detentions … we suffered every possible and unimaginable human right violation. Not only once.

We have been forcibly intercepted at sea by the so-called Libyan coast guard – funded by the Italian and European authorities – and then brought back to prisons and inhumane concentration camps. Some of us had to repeat this cycle of humiliation two, three, five, up to ten times.

We tried to raise our voice and spread our stories. We taught these to institutions, politicians, journalists but apart from very few interested ones, our stories remained unheard. We were deliberately silenced. But not anymore.

Since the 1st of October 2021, the day that Libyan police and military forces came to our homes in Gargaresh neighborhood and took ruthless, grave and merciless crackdowns and mass raids against us. Thousands were arbitrarily arrested and detained in inhumane concentration camps.

The day after, we came as individuals and gathered at the UNHCR headquarters. Here we understood we had no other choice than start organizing ourselves. We raised our voices and the voices of the voiceless refugees who have been constantly silenced. We cannot keep on going silent while no one is advocating for us and our rights.

Here we are now to claim our rights and seek protection to countries of safety. Therefore we demand now with our voices:

1. Evacuations to lands of safety where our rights will be protected and respected.

2. Justice and equality among refugees and asylum seekers who are registered with the UNHCR in Libya.

3. The abolishment of funding the Libyan coast guards who have constantly and forcibly intercepted refugees fleeing the Libyan hell and brought them to Libya where all atrocities befalls them.

4. The closure of all detention centers across Libya, which are fully funded by the Italian and European union authorities.

5. The authorities should bring the perpetrators to justice who have shot and killed our brothers and sisters both in and out of the detention centers.

6. The Libyan authorities to stop arbitrarily detaining persons of concern to the office of UNHCR.

7. To call on Libya to sign and ratify the constitution of the 1951 Genève Refugee convention.

Spread our voice! – Sign our manifesto on refugeesinlibya.org!

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Algerien und Niger

Massenabschiebungen in der Wüste

Monat für Monat werden laut Berichten des Alarme Phone Sahara mehr als tausend, manchmal auch mehrere tausend, Menschen, hauptsächlich Bürger*innen subsaharischer afrikanischer Staaten, aus Algerien in den Niger abgeschoben. Die Massentransporte der Abgeschobenen in Bussen und LKWs finden stets unter brutalen und lebensbedrohlichen Bedingungen statt. Regelmäßig laden die algerischen Sicherheitskräfte die Menschen in der Wüste im Grenzgebiet ab. Nach den Beobachtungen des Alarme Phone Sahara kamen seit Anfang 2021 mehr als 23.000 aus Algerien abgeschobene Menschen im Niger an, mindestens einer starb in den Dezembertagen im Grenzgebiet. Europäische Staaten wie Deutschland beliefern die algerischen Sicherheitskräfte mit Militärfahrzeugen und Sicherheitstechnologie, die u.a. zur Migrationskontrolle eingesetzt werden. Gleichzeitig ist die algerische Regierung daran interessiert, ihre Position als Bollwerk gegen Migrant*innen in Verhandlungen mit den EU-Staaten über Wirtschaftskooperationen und Kredite einzusetzen.

“People have fainted. There were women, there were children. It was very serious. We were abandoned in the desert. (…) We are a maximum of 600 people, 600 migrants. So there are so many of us with too much suffering. We are mistreated like slaves. We are put on buses, thrown at, beaten like animals (…).”

“And when we reach the border by bus, we are not shown the direction, we are thrown stones at, then they start shooting into the air, we are hunted like animals. „Go to Niger, go!“ They don‘t show us the direction.”

Zeug*innenberichte einer Abschiebung von 600 Menschen nach Niger im Mai 2019

Frontex-Vertretung und maßgeschneidertes Migrationsregime nach EU-Zuschnitt

Der Sahelstaat Niger zählt nach Human Development Index zu den ärmsten bzw. arm gemachtesten Ländern der Welt. Gleichzeitig investieren die EU-Staaten im Rahmen von Kooperationsabkommen zur Migrationskontrolle Milliarden von Euro im Niger, da einige der wichtigsten Sahel-Sahara-Transitrouten durch das Land führen. Nicht zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung, sondern zur Aufrüstung der Migrationskontrolle. Mit tödlichen Folgen: Verschärfte Präsenz von Kontrollposten und Patrouillen auf den Reiserouten durch die Wüste führen dazu, dass Fahrer, die Migrant*innen transportieren, auf die abgelegensten und gefährlichsten Routen ausweichen, wo oftmals Menschen dem Tod preisgegeben sind, wenn Fahrzeuge in der Wüste liegenbleiben. Auch Frontex betreibt ein Büro in der nigrischen Hauptstadt Niamey, zunächst mit „beratender Funktion“ für die nigrische Migrationspolitik. In Folge von „Beratung“ durch europäische Akteur*innen wurde im Niger u.a. das Anti-“Schlepperei“-Gesetz 036-2015 eingeführt, das Transporte und andere Dienstleistungen für Migrant*innen kriminalisiert. Ein Gesetz, das zahlreiche nigrische Bürger*innen ins Gefängnis gebracht und ihrer Existenzgrundlagen beraubt hat und durch den Verfolgungsdruck zusätzlich die Gefahr auf den Migrationsrouten verschärft hat.

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Sudan

Diktatoren und Militärherrscher als Türsteher Europas

Der sudanesische Staat, mit dem die EU-Staaten seit der Diktatur von Omar al-Bachir Grenzschutz-Kooperationsabkommen betreiben, ist ein mächtiger Akteur der Flucht- und Migrationskontrolle im östlichen Afrika, sowohl gegen die eigene Bevölkerung als auch gegen Flüchtende aus den umliegenden Ländern wie Südsudan, Äthiopien und Eritrea. Sudanesische Militärführer haben erst kürzlich wieder von den EU-Staaten eingefordert, mit ihnen weiter zu kooperieren, da nur sie in der Lage seien, Millionen Flüchtende in der Region festzuhalten. Und die Militärs, die bereits unter der Diktatur von Omar al-Bachir schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben, nutzen ihre Position als Garant für geschlossene Grenzen auch, um nach dem Sturz des Diktators ihre Position in den Machtkämpfen im Sudan zu stärken. Denn die revolutionären und demokratischen Volksbewegung im Sudan fordert eine zivile Regierung ohne Militärherrschaft, die Militärführer dagegen wollen auch in Zukunft politische Schlüsselpositionen besetzen. Militarisierte Migrationskontrolle zementiert immer auch nach innen autoritäre Herrschaft in den betroffenen Ländern.

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