14. Oktober 2015 | Erklärung zu einem Jahr Alarm Phone

“Wir erleben viel Leid und Verzweiflung. Gleichzeitig werden wir jedoch angespornt und inspiriert durch den hartnäckigen Willen und die unglaubliche Entschiedenheit, das Meer zu überqueren und zu den erwünschten Orten innerhalb Europas zu gelangen.”

Sie sind in den letzten Monaten jeden Tag stärker, lauter und sichtbarer geworden: die unglaublich starken sozialen und politischen Kämpfe von Geflüchteten und Migrant_innen für ihr Recht auf Bewegungsfreiheit. Weil alle sicheren und legalen Wege in die EU von den Regierungen versperrt und blockiert sind, wird die Überquerung des Mittelmeers in kleinen überfüllten Booten zu einer der gefährlichsten Etappe auf den Migrationsrouten. Insbesondere seit April dieses Jahres wird unsere Hotline täglich angerufen, von Menschen in Seenot oder von deren Freund_innen und Verwandten. Wir versuchen sicherzustellen, dass ihre Notrufe gehört werden und dass Rettungsoperationen unverzüglich in Gang kommen. Im zentralen und westlichen Mittelmeer sowie in der Ägäis waren wir mittlerweile in hunderte von SOS-Fällen involviert, gleichzeitig haben wir schwere Menschenrechtsverletzungen dokumentiert.

Am 11. Oktober 2015 wurde das Alarm Phone ein Jahr alt. Dieses Datum hatten wir 2014 für den Start unseres Projektes ausgewählt, weil es der Jahrestag eines Schiffunglücks mit mehr als 200 Toten war. Das SOS des Bootes war damals den Verantwortlichen frühzeitig bekannt, aber italienische und maltesische Behörden unterließen bewusst die notwendige Hilfeleistung und reagierten viel zu spät auf den Notruf der über 400 Menschen. Genau ein Jahr später begannen wir mit unserem Alarm Phone: einer Hotline für Menschen, die gezwungen sind, die Meeresgrenzen auf diese riskante Weise zu überqueren und in Seenot geraten. Denn wir fragten uns: Was wäre gewesen, wenn die Menschen auf dem Boot am 11.10.2013 die Möglichkeit gehabt hätten, in einem zweiten Anruf eine unabhängige Telefonnummer zu informieren? Wenn sofort eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Akteure Alarm geschlagen und direkten Druck auf die Behörden ausgeübt hätte?

Als es in der Folge zu weiteren schrecklichen Tragödien und Todesfällen auf See kam, wollten wir nicht länger tatenlos zusehen oder allenfalls die verantwortlichen Behörden anklagen. Wir entschieden uns für den Versuch, in der tödlichsten Grenzzone der Welt in Echtzeit einzugreifen und haben eine Hotline eingerichtet, die 24 Stunden, also rund um die Uhr, erreichbar ist. Das Projekt wird von einem transnationalen Netzwerk getragen, von aktivistischen und migrantischen Gruppen auf beiden Seiten des Mittelmeeres. Wir können zwar nicht physisch intervenieren, da wir auf keine Rettungsschiffe zurückgreifen können. Wir können jedoch Begleitung und Beistand anbieten und Alarm schlagen, wenn Menschen in akuter Seenot nicht unverzüglich gerettet werden, oder wenn diese von europäischen Grenzpolizisten attackiert und zurückgeschoben werden.

Im Lauf des letzten Jahres ist unser Netzwerk weiter gewachsen, so dass wir inzwischen mehr als 100 Aktive aus verschiedenen Städten und Ländern zählen. Wir bekommen Unterstützung aus migrantischen Netzwerken, von Einzelpersonen aus der Zivilgesellschaft, von Menschenrechtsaktivist_innen und -organisationen. Inzwischen arbeiten wir auch mit Kollektiven zusammen, die Schutzsuchende auf ihrem Weg nach Europa und darüber hinaus begleiten. Wir möchten uns bei all diesen Menschen und Gruppen bedanken, weil wir im gemeinsamen Prozess und Austausch viel gelernt haben. Insbesondere möchten wir unseren jungen syrischen Freund_innen danken, die jede Nacht Menschen auf den Booten unterstützen und uns in Fällen von Seenot informieren. Als wir das Alarm Phone initiierten, konnten wir uns nicht vorstellen, wie dramatisch sich die Situation an Europas Seegrenzen im Jahr 2015 zuspitzen würde. Mehr als 500.000 Menschen haben diese Grenzen alleine von Januar bis Ende September 2015 überquert. Mehr als 3000 Menschen sind dabei verschwunden, ertrunken und gestorben.

Innerhalb einer einzigen Woche im April dieses Jahres sind über 1200 Menschen bei Schiffsunglücken im Mittelmeer vor der Küste Libyens ums Leben gekommen. Diese Todesfälle sind die unmittelbare Konsequenz des Unwillens Europas, angemessene Rettungsaktionen vorzubereiten und durchzuführen. Statt nach dieser Katastrophe im April endlich Maßnahmen zu ergreifen, die das Sterben auf See verhindern, wurden neue Mittel der Abschreckung beschlossen: mit Eunavfor Med startete eine Militäroperation gegen sogenannte Schlepper und das Budget der Triton-Mission der europäischen Grenzkontrollagentur Frontex wurde verdreifacht. Verschiedene zivile und humanitäre Rettungsschiffe, unter anderem von MSF, MOAS und Sea-Watch, haben seitdem versucht, diese Lücke zu füllen und dabei tausende Leben gerettet.

In den vergangenen Sommermonaten ertranken auch immer wieder Menschen in der Ägäis, hier hat sich mittlerweile die Hauptseeroute nach Europa entwickelt. Während die Entfernungen zwischen der Türkei und den griechischen Inseln relativ kurz sind, bleibt die Überquerung des Meeres dennoch gefährlich, vor allem wenn starke Winde und entsprechende Strömungen aufkommen. Zudem droht den Menschen auf See noch eine weitere Gefahr: immer wieder wurden wir Zeug_innen, wie maskierte Grenzschutzeinheiten die Boote Geflüchteter attackierten, wie sie die Passagiere bedrohten, ihnen den Motor wegnahmen und teilweise sogar die Boote platt gestochen haben. Trotz all dieser Hindernisse schlagen sich dennoch täglich tausende Menschen zu den kleinen griechischen Inseln durch und niemals zuvor erreichten die Menschen auf diesem Weg so schnell ihre weiteren Ziele.

Die am wenigsten frequentierte Seeroute liegt zurzeit zwischen Marokko und Spanien, jedoch wissen wir auch hier von Dutzenden Toten. In der Mehrheit der Fälle fing die Marokkanische Marine die Menschen in den Booten ab und zwang sie zurück zu den Orten, denen sie entfliehen wollten.

In hunderten Situationen konnten wir Menschen in großer Not effektiv unterstützen. Oftmals konnten wir ihre Boote mittels GPS-Daten lokalisieren, Informationen zu ihrer Situation sammeln und psychologische Begleitung bieten. Gleichzeitig haben wir die verantwortlichen Küstenwachen alarmiert und gegebenenfalls Druck ausgeübt, um so schnell wie möglich die Rettung zu veranlassen. Es ist für unsere Schichtteams bisweilen nicht einfach zu bewältigen, mit der Verzweiflung und dem Leiden von Menschen in Seenot konfrontiert zu sein. Doch gleichzeitig sind wir angespornt von der tausendfachen Entschiedenheit, diese Meeresgrenze zu überwinden und zu den erwünschten Orten innerhalb Europas zu gelangen.

Dieser „Sommer der Migration“ ist immer noch nicht zu Ende; das, was wir in den vergangenen Monaten sahen und erlebten, hat jedoch jetzt schon wahrlich historische Ausmaße. Die Bewegung von hunderttausenden Menschen bewirkte die größte je dagewesene Krise des europäischen Grenzregimes. Während Europas Abschreckungsmethoden und –maßnahmen die Flucht und Migration in Kämpfe zwischen Leben und Tod verwandeln, nahmen diese Menschen ihr Recht auf Bewegungsfreiheit wahr und überquerten unaufhaltbar und selbstbestimmt eine Grenze nach der nächsten. Während einige Länder versuchten, ihre Grenzen wieder aufzurüsten, Polizei und Militär einsetzten und noch höhere Stacheldrahtzäune hochzogen, schafften sie es nicht, diese soziale Bewegung aufzuhalten. Die Ankommenden sind Europas jüngste Bürger_innen und werden Europa für immer verändern und transformieren. Tausende Europäische Bürger_innen
haben sie willkommen geheißen und in Solidarität mit ihnen für sichere Passagen und Ankünfte, für ihre Rechte und gute Unterbringung, und gegen Repression und Abschiebung gekämpft.

Das Alarm Phone ist nun ein Jahr alt geworden und wir wünschten, wir könnten sagen, dass unsere Arbeit nicht mehr benötigt wird, da es nun sichere Wege gibt für die, die aus verschiedensten Gründen fliehen. Da dies in der nahen Zukunft nicht wahrscheinlich ist und die Grenzregime neue Möglichkeiten finden werden, Menschen mit aller Gewalt auf und von ihrer Reise auf- und abzuhalten, versprechen wir, weiter zu kämpfen. Wir verstehen uns selbst als Teil einer Bewegung für globale Gerechtigkeit. Auf dieser Grundlage fordern wir „Fähren statt Frontex“, Bewegungsfreiheit für alle, sichere und legale Wege nach Europa und eine Gesellschaft und Kultur, die die neu Ankommenden willkommen heißt.

Wir möchten all denen danken, die das Alarm Phone innerhalb des letzten Jahres durch ihre Unterschriften und Spenden, politisch und sozial unterstützt haben. Wir möchten im Besonderen danken:

  • All den hunderten Geflüchteten auf den Booten, die uns angerufen haben: Euer Vertrauen und euer Mut waren Geschenke für uns. Es ist eure Entschlossenheit, die uns anspornt und es uns möglich macht, weiter zu kämpfen.
  • Father Mussie Zerai; all den Netzwerken von syrischen Aktivist_innen, Nawal Souffi und ihrem ganzen Team; dem mazedonischen Kollektiv und all den anderen, die eine ähnliche Arbeit wie wir machen und uns mit ihrem Wissen und ihrer Überzeugung inspiriert haben.
  • All den mutigen Fischer_innen, die hunderte Menschen in türkischen und griechischen Gewässern gerettet haben; unseren Freund_innen von Sea-Watch, den Crews von Médecins Sans Frontières und MOAS.
  • All den Crews der Frachtschiffe, die nicht gezögert haben, schnell auf SOS-Rufe zu reagieren und Rettungsaktionen durchführten, auch wenn sie dafür weder ausgerüstet noch ausgebildet waren.
  • All den Mitgliedern der Küstenwache – in den Rettungszentren wie im Einsatz auf See – die ihr Bestes gegeben haben, um Migrant_innen und Geflüchtete in Seenot zu retten, und die nicht – wie einige ihrer Kolleg_innen – an gewalttätigen und unmenschlichen Praktiken wie unterlassener Hilfeleistung, Rückschiebungen, Angriffen und Abfangaktionen beteiligt waren.

Wir möchten uns auch bei all unseren Freund_innen bedanken, die ihre eigenen Erlebnisse, das Meer auf kleinen Booten zu überqueren, mit uns geteilt haben: Der Austausch mit Euch hat uns die verschiedenen Situationen viel besser verstehen lassen. Bei all den unzählbaren Freund_innen, die unseren Schichtteams zuhören, wenn diese jemanden zum Sprechen brauchen. Bei all denen, die jeden Tag für die Bewegungsfreiheit für alle kämpfen.

Zu guter Letzt: Wir sind nach wie vor erfreut und darauf angewiesen, Spenden für unser Projekt zu bekommen.

Kontakt: wtm-alarm-phone@antira.info

Forschungsgesellschaft Flucht & Migration
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