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Orte versammelter Migrationsgeschichte(n)

Kurzbericht II Boats4People: Auf den Fähren von Palermo nach Tunis (7. Juli 2012)

Während das B4P-Boot Oloferne noch in Palermo ankerte, um dann mit der 13-köpfigen Besatzung Richtung Monastir in See zu stechen, hatte die mittlerweile auf über 40 Leute angewachsene transnationale B4P-AktivistInnengruppe zur Überfahrt von Palermo nach Tunis auf den kommerziellen Fähren eingecheckt. Aus Platzgründen musste ein Teil auf eine zweite der hintereinander startenden Fähren ausweichen, aber auf beiden waren sicherlich zu über 90 % tunesische MigrantInnen an Bord, die vor allem von Italien aber auch aus anderen europäischen Ländern zum Urlaub oder Besuch ihrer Familien nach Tunesien fahren. Vor diesem Hintergrund haben beide B4p-Gruppen auf der 10-stündigen Überfahrt sehr viele interessante Begegnungen machen können, denn die auf den Booten versammelten TunesierInnen haben alle reichlich Migrationsgeschichten im Gepäck.

Schon vor dem Start der ersten Fähre aus Palermo wurde an deren Reling kurze Zeit ein großes Transparent aufgehängt, auf dem die Forderung „pour la liberte de circulation“ und „no one is illegal“ gemalt war. Und auf diesem Boot, auf dem sich mit 35 Leuten die größere AktivistInnengruppe mit sowohl italienischen als auch arabischen Sprachkenntnissen befand, gelang es späterhin, mit der Fährencrew das Verteilen von B4P-Infomaterial sowie das Abhalten einer Versammlung – sogar unter Einsatz der mitgebrachten Lautsprecheranlage – auszuhandeln. Zunächst wurden zahlreiche kleinere, zumeist sehr spannende Tischgespräche geführt und dabei zu einer Versammlung neben der Bar eingeladen. Der Zuspruch zu dieser außergewöhnlichen Asamblea war prima: in wechselnder Besetzung waren – mit uns – stets rund 60 bis 100 Leute anwesend. Die Vorstellung von B4P erfolgte auf Italienisch und Arabisch, die weiteren Beiträge auf Französisch mit anschließender arabischer Übersetzung. Viel Beifall erntete ein Beitrag unseres kongolesischen Mitstreiters über das EU-Migrationsregime „mit Privilegien für einige, während anderen immer höhere Hürden in den Weg gelegt werden“. Der Fokus dieser Rede lag auf der Migration aus afrikanischen Ländern und auf den Fluchtgründen. Er endete mit der Forderung nach Unterstützung von Bewegungsfreiheit und der Möglichkeit, dort in den Zielländern auch zu arbeiten.

Ein tunesischer Dokumentarfilmer, der mit einem Team in Italien über die Situation der Harragas recherchiert hatte und zufällig mit uns auf diesem Boot auf der Rückreise war, kommentierte diese Rede: “Das System muss sterben!”

Einer unserer tunesischen B4P-Aktivisten hielt eine flammende, mit viel Beifall aufgenommene Rede zur historischen Chance der tunesischen Revolution und was diese für junge Leute bedeutet. „30.000 TunesierInnen haben das Land in Richtung Europa verlassen, um bessere Lebensbedingungen zu finden. Nicht nur TouristInnen sollen Tunesien anschauen dürfen: Vor allem die jungen Menschen als TrägerInnen der Revolution müssen umgekehrt ebenso nach Europa reisen dürfen! Viele Familien haben Kinder oder Angehörige verloren…“. Auch hier: Zustimmendes Kopfnicken und Beifall. Schluß: „Wir werden gegen Grenzen kämpfen! Choucha (subsaharische Flüchtlinge) und Lampedusa (TunesierInnen) sind die gleichen Kämpfe.“ Es gab allerlei weitere Beiträge, die alle qualitativ und ernstgemeint waren. Eine wunderbare Veranstaltung!!

Gleichzeitig war die kleinere B4P-Gruppe auf der zweiten Fähre mit einer Abschiebung konfrontiert. In einem der Räume an Deck saß bereits eine Stunde vor Abfahrt ein Tunesier mit gefesselten Händen und umgeben von 5 italienischen Polizisten in Zivil. Wie einige der im Raum befindlichen TunesierInnen ließen auch wir den Betroffenen spüren, dass wir auf seiner Seite stehen. Nach einer kurzen direkten Ansprache war aber schnell klar, dass er keinen Konflikt eingehen wollte und späterhin erfuhren wir von einem Mitreisenden, der mit dem Abzuschiebenden in arabisch gesprochen hatte, dass dieser 15 Jahre als Papierloser in Italien gelebt hatte und es sicher nach der Abschiebung erneut versuchen wird. Und die tunesischen Mitreisenden zeigten sich solidarisch, indem sie für ihn bei seiner Familie anriefen und ihm kurz vorm Anlegen in Tunis ein Paar neue Schuhe und Kleider schenkten.

Wir lernten währenddessen einen Mann aus Monastir kennen, der vor 9 Jahren als Harraga auf dem Boot nach Italien gelangte, dort immer hart gearbeitet hatte, aber erst bei Zahlung von 5000,- Euro an einen Arbeitgeber den unbefristeten Arbeitsvertrag erhielt, der ihm vor einigen Monaten endlich die Legalisierung ermöglichte. Es war nun seine erste Reise zurück zur Familie, seine Mutter wollte es nicht glauben und konnte seit einer Woche vor Aufregung nicht schlafen … und wir haben ihn eingeladen und er war interessiert, in Monastir an unseren Aktivitäten teilzunehmen.

Als Grassroot-Aktion und -Kommunikation im besten Sinne kann das bezeichnet werden, was am 7. Juli auf den Fähren von Palermo nach Tunis stattfand, einem Ort, der symbolisch wie praktisch die beiden Welten verbindet, zwischen denen die Migrierten sich bewegen. Ein Ort aller möglichen und unmöglichen Erfahrungen und Geschichten und damit eines sozialen Wissens, das viel öfter direkten Eingang in die politischen Kämpfe gegen das Grenzregime finden sollte. Insofern erscheint uns diese Etappe auch für B4P von besonderer Bedeutung.