Für Bewegungsfreiheit & selbstbestimmte Entwicklung!

Nach den Hungerrevolten ist vor den Hungerrevolten

Bernhard Schmid (06/2008)

Eine vorläufige Bilanz des Welternährungsgipfels in Rom, und die Situation in mehreren westafrikanischen Ländern nach den Hungerrevolten der letzten Monate

Welche Lösungen für eine Welt, die in bedeutenden Teilen hungert? Das Ringen um Lösungsansätze treibt – jedenfalls offiziell – die hochrangigen Teilnehmer am dreitägigen Welternährungsgipfel in Rom um. Die Konferenz unter der Schirmherrschaft der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO), die am Donnerstag zu Ende ging, versammelte u.a. 50 Staats- und Regierungschefs, Vertreter der UN und der Weltbank sowie Repräsentanten von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Insgesamt kamen 4.800 Delegierte. Inzwischen wird ihr Ausgang weithin als enttäuschend dargestellt, die am Ende vereinbarte Abschlussvereinbarung gilt als fauler Formelkompromiss, „Minimalvereinbarung“ (vgl. den Artikel in Le Monde ) oder gar Ausdruck eines „totalen Scheiterns“ (vgl. den Artikel in Le Monde )

Ursprünglich sollte der Gipfel über Auswege aus der Kimakrise und über „Bioenergien“ beraten. Aber dann brachen, von Februar bis April, heftige Hungerrevolten in mehreren afrikanischen Ländern sowie in Haiti aus, die die dortigen Regierungen zum Abdanken – im Falle Haitis – oder zu Zugeständnissen zwangen und international Aufmerksamkeit erweckten. (Vgl. den Artikel auf Heise.de ) Die aber auch wie im Falle der Unruhen in Kamerun von Ende Februar mutmaßlich bis zu fast 200 Tote, vor allem durch Schusswaffeneinsatz der Polizei, kosteten. Was aber kam nun, nach einigen Wochen und Monaten, überhaupt dabei heraus?

Auf internationaler Ebene wurde durch die Ereignisse eine hektische Betriebsamkeit ausgelöst. Alle Welt kam nun nicht mehr umhin, über das Problem zu sprechen, und der seit mehreren Monaten angesetzte FAO-Gipfel in Rom wurde in seiner thematischen Schwerpunktsetzung umgewidmet. Statt die „Biokraftstoffe“ (auch Agrosprit genannt) als Abhilfe für die Verteuerung des Erdöls und für den – durch das Verbrennen fossiler Kraftstoffe mit ausgelösten – Klimawandel zu verkaufen, wurden diese nun durch einige Teilnehmer auf die Anklagebank gesetzt.

Biosprit auf der Anklagebank

Denn die zunehmende Verwendung von Anbauflächen, um („alternative“) Treibstoffe für Autos statt Nahrungsmittel anzubauen, ist nun angesichts der Nahrungsmittelkrise in die Kritik geraten. Und statt der möglichen umweltschonenden Wirkung, den Verbrauch von Erdölprodukten durch ihren teilweisen Ersatz zu senken, stehen nun ihre Schattenseiten im Vordergrund. Eine Kritik, auf die der brasilianische Staatspräsident Luiz Inacio Lula da Silva (kurz „Lula“ genannt) am Dienstag antwortete. Denn sein Land ist, nach den USA, derzeit der weltweit zweitgrößte Produzent solcher Biokraftstoffe. Präsident „Lula“ wehrte sich jedoch dagegen, dass das neue Exportprodukt verteufelt werde: „Die Biokraftstoffe sind nicht die Banditen, die die Ernährungssicherheit der ärmsten Nationen bedrohen“, erklärte er wörtlich. Er wies darauf hin, dass die für den Anbau von Bio-Äthanol gewidmeten Flächen nur knapp ein Prozent der in Brasilien vorhandenen 340 Millionen Hektar Anbauflächen betrügen. Allerdings müsste, um sich ein realistisches Bild von der Lage zu machen, auch der landwirtschaftliche Wert der jeweiligen Anbauflächen und ihre geographische Lage – etwa die günstige oder ungünstige Anbindung Verkehrswege – berücksichtigt werden.

NGO-Vertreter und andere Kritiker, die durch die Pariser ‚Le Monde' (Donnerstagsausgabe) zitiert werden (vgl. den Artikel in Le Monde ), sprechen hingegen davon, der Boom der Biokraftstoffe „zu einem Drittel“ den derzeitigen Anstieg der Nahrungsmittelpreise – unter dem besonders drastisch die Einwohner in Afrika, Asien und der Karibik zu leiden haben – mit verschuldet. Unterdessen fand „Lula“ Unterstützer für seinen Kurs in der Frage des Anbaus von Agrosprit. Die Regierung des zentralafrikanischen Staats Congo-Brazzaville plädierte in Rom ebenfalls für eine Ausweitung der Produktion solcher „alternativen“ Treibstoffe. Denn ihr Land verhandelt derzeit mit internationalen Investoren darüber, ihnen Land für solche Zwecke zur Verfügung zu stellen. „Man muss an die Arbeitsplätze denken“, die dadurch geschaffen werden könnten, erklärte dazu Macaire Nzomono, der agrarpolitische Berater von Staatspräsident Denis Sassou N'Guesso.

Vordergründige Einigkeit und Interessenkonflikte hinter den Kulissen

Auch bei anderen Themen herrschte in Rom, jenseits der vordergründigen großen Einigkeit in der Besorgnis über die Auswirkungen der Nahrungsmittelkrise, keine Einigkeit. Die beiden internationalen Akteure, die derzeit besonders aktiv sind, um in den kommenden Wochen und Monaten einen „Aktionsplan“ gegen den Hunger in Teilen der Welt vorzulegen – laut UN-Generalsekretär Ban-Ki Moon soll er im Sommer den Teilnehmern des nächsten G8-Gipfel der reichsten Industrieländer vorgelegt werden und ein Maßnahmenpaket über 15 bis 20 Millionen Dollar umfassen – sind die Vereinten Nationen und die Weltbank. Aber die Frage ist, in welcher Logik ihr Handeln sich ansiedeln wird.

Während die UN und ihre Unterorganisationen derzeit eher die Sofortmaßnahmen zur Linderung der Not verwalten, plädieren die Weltbank unter dem US-Amerikaner Robert Zoelick – der in Rom ebenfalls anwesend war – sowie der Internationale Währungsfonds (IWF) unter dem Franzosen Dominique Strauss-Kahn für eine weitere Liberalisierung des Welthandels. Vor dem Hintergrund der Nahrungsmittelkrise stellen sie eine Ausweitung der globalen Handelsströme als geeignete Abhilfe für den ungleichen Zugang zu Ernährungsmöglichkeiten dar. Aber auch UN-Generalsekretär Ban-Ki Moon plädierte in Rom explizit für eine „Liberalisierung der Austauschbeziehungen“ im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO.

Demgegenüber kritisieren Vertreter von NGOs und sozialen Bewegungen, dass der internationale Freihandel – wie ihn etwa die internationalen Finanzinstitutionen IWF und Weltbank verstehen – weitaus eher zu den Ursachen der Nahrungsmittelkrise als zu ihren Lösungen gehöre. Denn in einer Weltwirtschaft, die von strukturellen Ungleichheiten bei Entwicklungsniveau, Produktivität und Armut/Reichtum geprägt ist, führe ein Abbau der Handelsbarrieren oft eher zu einem Niederkonkurrieren der Sektoren mit „niedriger Produktivität“. So werden die (im einheimischen Agrarsektor mit hohen Subventionen ausgestatteten) exportorientierten Nahrungsmittelindustrien Westeuropas und Nordamerikas oft dafür verantwortlich gemacht, bei bestimmten Produkten wie etwa Getreide und Brot durch (seitens der EU und der USA subventionierte) Ausfuhren die potenzielle einheimische Produktion in West- oder Zentralafrika vollends zu zerstören und am Boden zu halten.

Gleichzeitig wurden die Ökonomien dieser Länder zunehmend auf bestimmte Exportkulturen getrimmt, die ihnen Erfolg auf den Weltmärkten einbringen sollten, ihnen aber auch zunehmende Abhängigkeit von einzelnen, wenigen Produkten – und ihren Preisen an den internationalen Märkten – einbrachten.
Darüber, ob der Freihandel und die Agrarexporte aufrecht erhalten, ausgebaut oder gar zurückgefahren werden sollen, herrscht also weiterhin Streit. Führende Politiker, die sich auf dem Welternährungsgipfel in Rom vor internationalem Publikum zu profilieren versuchten, testen unterdessen neue Formelkompromisse dazu aus. So erklärte der französische Agrarminister Michel Barnier einerseits: „Nach der Entkolonisierung haben wir zweifellos den afrikanischen Ländern nicht genügend dabei geholfen, ihre Landwirtschaft zu entwickeln und ihre Bevölkerung zu ernähren.“ (Vgl. den Artikel in Le Monde )

Ein Euphemismus für eine Situation, die dadurch geprägt ist, dass die afrikanische Landwirtschaft seit den 1980er Jahren zunehmend zerstört worden ist – unter dem Ansturm von Agrarexporten etwa der früheren Kolonialmächte, deren Landwirtschaft mit einer weitaus höheren Produktivität ausgestattet ist. Auf der anderen Seite zitiert ‚Le Monde' ihn aber auch mit folgenden Worten: „ Ihm zufolge dürfen die Entwicklungsländer nicht auf die Exportkulturen verzichten, die ihnen Devisen einbringen. “ Damit wendet er sich gegen eine, in seinen Augen zu weitgehende, Umstellung der Produktion dieser Länder auf Selbstversorgung – die sicherlich nicht ohne Probleme vonstatten ginge, aber immerhin eine bedarfsorientierte Perspektive vorgeben könnte. Hingegen fordern französische und andere NGOs als vordringliche Maßnahme, dass die Exporte aus Europa zu Dumpingpreisen und die daraus resultierende Überschwemmung afrikanischer Märkte bei bestimmten Produkten aufhören müssten.

Unterdessen profilierte sich sein oberster Vorgesetzter, Präsident Nicolas Sarkozy – der aber vor allem deswegen nach Rom gekommen war, um den neuen italienischen Premierminister Silvio Berlusconi treffen zu können, nachdem die beiden Männer sich jüngst gegenseitig immer mehr Gemeinsamkeiten (zu)erkannt hatten – sich am ersten Tag der Ernährungskonferenz mit einer großartig angekündigten Rede. Darin machte Sarkozy sich für eine neue weltweite „Ernährungspartnerschaft“ statt. Konkret beinhaltet seine Initiative vor allem den Vorschlag, eine „internationale Gruppe für die Ernährungssicherheit“ einzurichten, die eine planetare „Strategie für die Ernährungssicherheit“ ausarbeiten soll. Auch eine „internationale Wissenschaftlergruppe“, die Analysen zum Thema Ernährungsproblem erarbeiten bzw. zusammenführen soll, ist in Sarkozys Vorschlag vorgesehen. (Vgl. den Artikel ) Neue Gremien und Kommissionen einzurichten, ist immer gut und erfordert erst einmal keine inhaltlichen Festlegungen… Ferner möchte Präsident Sarkozy innerhalb der kommenden fünf Jahre „eine Milliarde Euro“ ausgeben, um die Landwirtschaft in Afrika zu fördern. Dies bleibt allerdings so lange schöne Theorie und Wortgeklingel, sofern andererseits nicht damit aufgehört wird, die einheimische afrikanische Produktion andererseits durch subventionierte Exporte aus Europa – die trotz Teuerung immer noch billiger ausfallen können, dank der Subventionen – zu behindern. Hinzu kommt das Versprechen, im selben Zeitraum (fünf Jahre) die „Nahrungsmittel-Soforthilfe“ von 50 auf 100 Millionen Euro aufzustocken. Das kostet nicht viel. Nicht zuletzt äußerte Sarkozy sich zum Thema „Biokraftstoffe“, allerdings nicht mit einer Kritik an ihrem Anbau(boom) – sondern mit der Forderung, dessen Produktivität zu erhöhen, „damit dieselbe landwirtschaftliche Nutzfläche einen fünf mal höheren Ertrag an Treibstoff erbringen kann“ (vgl. ebenda).

Mit seiner Rede konnte Sarkozy am ersten Konferenztag erhebliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nachdem Frankreich in den vergangenen Jahren die FAO eher stiefmütterlich behandelt hat. Denn französischer Botschafter bei der UN-Ernährungsorganisation in Rom von 2003 bis 2007 war Charles Millon. Ein abgehalfterter konservativer Politiker, dessen politische Karriere in Frankreich ruiniert war, nachdem er 1998/99 ein Bündnis mit den beiden rechtsradikalen Fraktionen (Front National und MNR) im Regionalparlament von Lyon eingegangen war, daraufhin jedoch durch ein Bündnis aus den Linksparteien und „Dissidenten“ seines konservativ-liberalen Lagers als Regionalpräsident gestürzt wurde. Nunmehr äußerte Millon sich in dieser Woche abschätzig über die FAO: Diese sei „ein Dinosaurier“, der unbeweglich und in weiten Teilen unnütz sei (vgl. den Artikel ). Nicht, dass es kein Bürokratieproblem bei der FAO und anderen internationalen Organisationen gäbe. Aber unnützer als ein Charles Millon dürfte die UN-Ernährungsorganisation wohl kaum sein.

Eine weitere Streitfrage am Rande der Konferenz, die bislang freilich eher im Hintergrund blieb, ist jene des Rückgriffs auf gentechnisch veränderte Organismen – deren Anbau von manchen multinationalen Konzernen, aber auch Regierungen (in den Industrie- wie in den Entwicklungsländern) als Beitrag zur Behebung der Nahrungsmittelkrise verkauft wird. Eine Lösung, die aber zugleich neue Probleme mit sich bringt, etwa jenes der Abhängigkeit der Bauern von speziellem Saatgut, das ihnen durch Konzerne wie Monsanto angeboten wird.

Das Problem Reis

Die Hindernisse bei einer Ausrichtung derjenigen Länder, in denen zur Zeit besonders viele Menschen zu Opfern der Preiskrise bei Nahrungsmitteln werden, auf eine zukünftige Selbstversorgung sind mannigfaltig. Der Anbau von Nahrungsmitteln wie etwa Reis stößt in diesen Ländern auf strukturelle, historisch bedingte Handicaps, die unter anderem auch mit den früheren Wirtschaftsstrukturen innerhalb der Kolonialimperien zusammenhängen. Darauf weist auch der wirtschaftsliberale und als sehr pro-französisch geltende Staatspräsident des Senegal (seit 2000), Abdoulaye Wade, im Interview mit der Pariser Tageszeitung ‚Libération' vom 17. Mai dieses Jahres hin. Dort führt er aus: „Das (Anm.: die Abhängigkeit des Senegal vom Ausland beim Hauptnahrungsmittel Reis) ist zuerst ein Erbe der Kolonisation. Die französische Administration hat massiv den Reis, den sie in Indochina anbauen ließ, in den Senegal exportiert. Und wir haben ihn zunehmend angenommen. Um seine Importe zu bezahlen, hat der Senegal sich auf den Monokultur-Anbau von Erdnüssen spezialisiert, der sehr lange Zeit hindurch die (Erdnuss-)Ölfabriken in Marseille und Bordeaux unterhalten hat. Mit der Unabhängigkeit des Senegal (Anm.: im Jahr 1960) hat dies System zwar aufgehört. Aber unsere Abhängigkeit vom Reis ist geblieben.“

Wade spielt in diesen Worten auf die französische Kolonialära an, während derer der Senegal zu „Französisch-Westafrika“ zählte und die heutigen Staaten Vietnam, Laos und Kambodscha das „französische Indochina“ bildeten. In dieser Phase begann der Zuschnitt vieler der betroffenen Länder auf eine enge wirtschaftliche Spezialisierung, die häufig auf die Bedürfnisse der europäischen „Metropole“ angepasst war. Indochina wurde auf den Anbau von Reis sowie, im späteren Vietnam, von Kautschuk spezialisiert. Dabei wurde den einheimischen Arbeitskräften ein hoher Produktivitätszuwachs abgepresst: Von 1900 bis im Jahr 1930 vervierfachte sich etwa die Reisproduktion im „französischen Indochina“, während der durchschnittliche Reiskonsum der Einheimischen im selben Zeitraum um 30 Prozent sank. Später konnten die betroffenen Länder auf dem einmal erreichten „Produktivitätssockel“ – einer stark räumlich konzentrierten und hoch produktiven Reisproduktion – aufbauen und ihre Exporte halten, wobei sie von den Nachbarländern wie Thailand, das heute einer der wichtigsten Reisexporteure ist, nachgeahmt wurden. Ihrerseits wurden Landstriche wie die späteren Staaten Senegal und Mali auf andere Anbauprodukte, etwa Erdnüsse oder Baumwollplantagen, spezialisiert.

Angesichts der Nahrungsmittelkrise tendieren die Regierungen dieser Länder heute dazu, langjährige Import-Abhängigkeiten etwa beim Reis nunmehr auflösen zu wollen. Nur wird dies nicht von heute auf morgen möglich sein, denn eine über Jahrzehnte hinweg gediehene Situation lässt sich nicht so einfach abstellen: Dort, wo der Reis angebaut wird, mangelt es an Transportwegen und Verkehrsanbindungen – würde die Produktion bis morgen früh verdoppelt, so könnte der Reis vorläufig gar nicht bis zu den Verbrauchern gebracht werden. So muss erst eine Infrastruktur entstehen, um die einheimische Landwirtschaft auf Reisanbau umstellen zu können.

Angesichts der dramatischen Auswirkungen der Krise aber hat nun zumindest die senegalesische Regierung eine entsprechende Neuausrichtung der Agrarökonomie ihres Landes beschlossen. Bis im Jahr 2015, so lautet der Beschluss, soll der Senegal zum Selbstversorger beim Reis werden. In seinem Interview mit ‚Libération' hat Präsident Abdoulaye Wade dieses Ziel als „absolut realistisch“ bezeichnet.

Auch andere westafrikanische Länder versuchen unterdessen, in aller Eile, ihre einheimische Reis- und sonstige Getreideproduktion anzukurbeln. So finanziert die Regierung der Côte d'Ivoire (Elfenbeinküste) derzeit ein Programm zur Wiederaufnahme des – quasi eingestellten – Reisanbaus. Auch Mali, wo derzeit 300.000 Kinder von Mangelernährung bedroht sind, finanziert seine „Reis-Initiative“. Das Programm sieht vor, die nationale Reisproduktion bis zum kommenden Jahr zu verdoppeln. Beobachter zweifeln jedoch im Moment an den Zahlen, und an der Durchführbarkeit im angegebenen Umfang (vgl. Artikel in ‚Libération' vom 02. 06. 2008 ).

Einstweilen hat die Regierung in Senegals Hauptstadt Dakar es auch geschafft, das dringlichste Problem – bis dahin, wenn es so weit sein wird – in den Griff zu bekommen, nämlich den Ausfall der wichtigsten Versorgerländer Thailand und Indonesien. Angesichts der Preissteigerungen beim Reis, und der dadurch drohenden Verknappung für die Haushalte (die nicht durch eine reale Mengenknappheit, sondern nur durch die Erhöhung der Preis bedingt wird), hatten die beiden Länder in diesem Frühjahr ihre Grenzen für Reisexporte geschlossen. Dieser plötzliche Lieferstopp dient wiederum den internationalen Finanzinstitutionen als Vorlage, um vor „protektionistischen Tendenzen“ zu warnen – und ihrerseits eine Ausdehnung des internationalen Freihandels zu fordern.

Dabei trifft es durchaus zu, dass der brüske Exportstopp durch gewichtige Reislieferanten wie Thailand und Indonesien tatsächlich kurzfristig für zahlreiche Länder, die von ihren Importen bei diesem Grundnahrungsmittel abhängig sind, ein ernsthaftes Problem aufwerfen. Gleichzeitig muss das mittelfristige Problem, wie es möglich sein wird, die Importe zurückzufahren und die einfuhrabhängigen Länder sich selbst ernähren zu lassen, davon unterschieden werden. Auf dieser mittelfristigen Ebene wird die Orientierung auf eine Ausdehnung der globalen Handelsströme, die etwa IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn vorschlägt, eher zum Problem als zum Beitrag zu einer Lösung. Zumal die Erhöhung des Rohölpreises, die auf die internationalen Transportkosten durchschlägt, ihrerseits einen Teil zum Anstieg der Nahrungsmittelpreise – welche, noch einmal, nicht aus einer Mengenknappheit resultiert, sondern ausschließlich aus einer Verteuerung der vorhandenen Menge – beigetragen hat.

Unterdessen hat es die senegalesische Regierung aber geschafft, statt ihrer beiden traditionellen Lieferanten einen neuen zu gewinnen und einen sechsjährigen Liefervertrag über Reis mit Indien abzuschließen. Dieser soll so lange in Kraft bleiben, bis das Land im Jahr 2015 das Ziel der Selbstversorgung erreicht haben soll. Ob das so eintreten wird, kann selbstverständlich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vorausgesagt werden. Insofern ist also zumindest gesichert, dass wieder genügend Reis auf den senegalesischen Märkten vorhanden ist, um den Bedarf zu decken. Eine andere Frage ist jedoch jene seines Kaufpreises, der nach wie vor für zahlreiche Haushalte ein gewichtiges Problem darstellt – ähnlich wie derzeit in vielen anderen westafrikanischen Ländern. Die Preise für dieses und andere Grundnahrungsmittel liegen derzeit weltweit, im Durchschnitt, um 53 Prozent über jenen des Vorjahres.

Das Problem der Preise wird noch zusätzlich durch den Faktor „Spekulation“ verschärft, in dem – neben dem Anstieg der Rohölpreise und Transportkosten, sowie dem erhöhten Eigenbedarf der „aufstrebenden“ Industrieländer wie China – die dritte wichtige Ursache für die Verteuerung bei Lebensmitteln zu suchen ist. So wird vermeldet, dass Containerschiffe etwa mit Reis an Bord in der Vergangenheit durchaus mal vier bis fünf Monate im Hafen von Dakar warten konnten, bis ihre Ladung gelöscht wurde. Im Kontext eines bereits begonnen, allgemeinen Anstiegs der Nahrungsmittelpreise wurde so noch zusätzlicher Druck auf den Preis ausgeübt.

Ein Tropfen auf einen heißen Stein

Nunmehr wollen alle vom Phänomen der Hungerrevolten betroffenen Regierungen stärker darüber wachen, dass ihnen die Kontrolle über den Preisanstieg nicht mehr so einfach entgleitet.
Zusätzlich haben die Regierungen im Senegal, in der Côte d'Ivoire (Elfenbeinküste), in Kamerun oder in Gabun Maßnahmen wie etwa den Abbau von Importsteuern auf Nahrungsmittel und Grundbedarfsgüter erhoben. Kein einfacher Schritt, da der Haushalt vieler dieser Staaten zu rund 25 Prozent auf Einfuhr- und Ausfuhrsteuern basiert, weil die wirtschaftlichen Akteure in den jeweiligen Ländern weniger industrielle Produktion und Verarbeitung betreiben, als vielmehr Rohstoffe zu exportieren und Bedarfsgüter zu importieren. Hinzu kommen weitere begleitende Schritte. So hat die kamerunische Regierung unter Präsident Paul Biya Verhandlungen mit den Anbietern von Mobiltelefonen und Telefonkommunikation geführt, um dafür zu sorgen, dass die Kommunikationskosten gesenkt werden. Dies hat zwar nichts direkt mit der Nahrungsmittelkrise zu tun – soll aber die privaten Haushalte „entlasten“ und dadurch den Druck, der durch den drastischen Anstieg ihres Lebensmittelbudgets ausgeübt wird und auf ihnen lastet, in seinen Auswirkungen abmildern. Das Handy ist ein vorrangiges Kommunikationsmittel, da in Kamerun wie in vielen afrikanischen Staaten zahlreiche Haushalte keinen Festnetzanschluss haben, sondern direkt vom telefonlosen Stadium zur schnurlosen Kommunikation übergegangen sind.

Tatsächlich haben die, oftmals ausländischen, Telekommunikations-Anbieter – unter ihnen ist in Kamerun die französische Telefongesellschaft ‚Orange', die frühere ‚France Télécom', führend – die Kosten für Handygespräche seit Ende vergangener Woche um bis zu 80 Prozent gesenkt. Was allerdings in erster Linie beweist, wie überdimensioniert bislang ihre Profite gewesen sein müssen und welch enormen Spielraum sie in ihrer Preispolitik besaßen…. Französische Marken werden in Kamerun extrem geschätzt, zugleich wird den Firmen und des Politik des Landes aber oft ihr Umgang mit der Bevölkerung vorgeworfen. ‚Le Monde' bemerkte denn auch in ihrer Mittwochsausgabe, es sei bemerkenswert, dass zwar bei den Unruhen – die das Land im Februar erschütterten – keiner einzigen „weißen“ Person ein Haar gekrümmt worden sei, wohl aber in zahllosen Fällen französische Firmen (neben jenen, die dem Präsidentenclan um Paul Biya gehören) attackiert und ihr Eigentum zerstört worden seien. Die Pariser Abendzeitung sieht darin einen Ausdruck des Zustands der politischen und sonstigen Beziehungen zwischen beiden Ländern.

Was die Nahrungsmittel – die für zahlreiche Einwohner Westafrikas den Löwenanteil ihres monatlichen Budgets ausmachen – betrifft, so haben sich in allen betroffenen Ländern die Maßnahmen der Regierenden unterdessen als ein Tropfen auf einen heißen Stein erwiesen. Bislang zeichnet sich jedenfalls weder in Kamerun, noch in der Côte d'Ivoire oder anderen vergleichbaren Ländern ein Rückgang der Lebensmittelpreise ab.

So berichtet die panafrikanische französischsprachige Zeitschrift ‚Continental' in ihrer Juni-Ausgabe (die Titelseite ist hier online ), dass die durch die Regierung mittels Senkung von Mehrwert- und Importsteuern in die Wege geleitete Preissenkung bei den Nahrungsmitteln bislang bei den Verbrauchern überhaupt nicht angekommen sei. Als Grund dafür wird genannt, dass die Groß- und Zwischenhändler sich ihrerseits mit Waren eingedeckt hätten, als noch die alten Steuersätze galten, und also die vollen Verbrauchssteuern dafür berappt hätten – so jedenfalls das von ihnen vorgetragene Argument. Diese Geschäftsleute seien nunmehr darum bemüht, erst ihre zu den alten Tarifen erworbenen Waren (zum höheren Preis) abzusetzen, bevor sie sich mit neuen eindecken würden. Und da aufgrund überhöhter Preise, die sich zahlreiche Menschen nicht mehr leisten können, der Absatz nur schleppend vollziehe, brauche dies eben seine Zeit. Der Korrespondentenbericht aus Abidjan schließt mit der Feststellung, dass viele Einwohner eben nur noch eine oder zwei Mahlzeiten statt ihrer drei pro Tag einnähmen oder ihre Speisen aus einfachsten Zutaten zusammensetzten, um mit ihrem Haushaltsbudget über die Runden zu kommen.

Aus Kamerun berichtete das in Paris erscheinende Wochenmagazin ‚Jeune Afrique' in seiner vorletzten Ausgabe von Ende Mai (vgl. dazu den Artikel ), dass die Preissenkungen sich dort bislang ebenfalls nicht auf die Verbraucher ausgewirkt hätten. Dort weigern sich die Händler oftmals statthaft, die Senkungen bei den Verbrauchssteuern auf die Endpreise der Verbraucher umzuschlagen – oft ebenfalls mit dem Argument, sie möchten im Kontext allgemein steigender Preise nicht „unter Verlust verkaufen“. Allerdings häufen sich in dem Land nunmehr die – durch die Regierung angeordneten – polizeilichen und administrativen Kontrollen auf den Märkten, wie ‚Continental' im Juni berichtet. Dennoch kostet ein Sack Reis, der noch vor einigen Wochen 7.000 Francs-CFA („Francs der französischen Gemeinschaft in Afrika“, ehemals „Franc-Colonies françaises en Afrique' ) kostete, dort zu Anfang dieses Monats jetzt 9.000 Francs-CFA oder umgerechnet rund 13 Euro.

Mit dem Inkrafttreten der von Präsident Biya befohlenen Maßnahmen zur Abfederung der Verbraucherpreise am 1. April hatten die Haushalte mit einer Senkung dieses Preises gerechnet, doch real ist das Gegenteil eingetreten. Dies ist zum Teil auf die weitere Anhebung des internationalen Preisniveaus, zum Teil aber auch die Preispolitik der privaten Groß-, Zwischen- und Endhändler zurückzuführen.

Nicht zuletzt führen die privaten Geschäftsleute ein weiteres Argument für ihr Vorgehen an: Der Staat habe schließlich, infolge der Unruhen und zwecks Gegensteuern, vor einigen Wochen die Gehälter der Staatsbediensteten um 15 Prozent angehoben. Eine Maßnahme, von der unmittelbar rund 150.000 Personen profitieren wird. Wer nicht unmittelbar beim Staat angestellt ist, geht bei dieser Ankündigung leer aus. Präsident Paul Biya kündigte diesen Beschluss als Beitrag zur Armutsbekämpfung an, hatte dabei jedoch sicherlich auch im Hinterkopf, dass er den Staatsapparat und seine Mithilfe bei der Vorbereitung seiner „Wiederwahl“ im Jahr 2011 – soeben, im April, hat er dafür die Verfassung ändern und die Amtszeitbeschränkung aufheben lassen – benötigen wird. Die privaten Geschäftsleute berufen sich nun darauf, dass sie nicht einsehen, warum sie nichts davon haben sollen, während zugleich mehr Geld im Umlauf befindlich ist. Der Sozialneid wird also möglicherweise die Spirale des Preisanstiegs weiter anheizen.

Unterdessen ist zu erwarten, dass in mehreren Ländern die soziale Situation weiterhin explosiv bleibt. Unterdessen meuterten in der vergangenen Woche die Soldaten der Armee in der Republik Guinea – und machten ihrerseits geltend, dass der Reis, dessen Kaufpreis ihnen zu 40 Prozent durch die Regierung subventioniert wird, zu teuer geworden sei. Zudem machten sie geltend, dass seit zwölf Jahren die ihnen zustehenden Prämien einbehalten worden seien, und reklamierten ausstehende Soldzahlungen in Höhe von fünf Milliarden guineeischen Francs (rund eine Million Euro). Die Soldaten schossen seit Montag vergangener Woche an vielen Orten des Landes in die Luft, wobei drei Zivilisten getötet und weitere zehn schwer verletzt wurden – örtliche Beobachter sprechen davon, dass die schlecht ausgebildete Armee keinerlei Ausbildung über verantwortlichen Umgang mit Schusswaffen besitze und deshalb ohne Rücksicht auf Verluste geballert werde.

Die Popularität ihres Ausstands bei der Bevölkerung erhöht das alles nicht. Selbst wenn die Meuternden am vergangenen Wochenende sogar so weit gingen, die Entlassung sämtlicher Generäle des Landes – „wenn nötig einschließlich des Generals Conté“, also des amtierenden Präsidenten – und den Abgang der durchaus verhassten Militärführung zu fordern. Denn letztere machen die einfachen Soldaten für das Versickern ihrer Sold- und Prämienzahlungen verantwortlich. Am Wochenende verhandelte Präsident Conté allerdings mit den Anführern der Meuterer, woraufhin die Forderung nach dem Feuern aller Generäle urplötzlich verstummte. Ein Fünftel der ausstehenden Soldzahlungen sollen inzwischen geleistet worden sein. Den Meinungswandel der Anführer führt die Webpage Guineenews unterdessen darauf zurück, dass Conté dem Wortführer Claude Pivi ein Auto versprochen habe.

Post scriptum:
Die französische Wirtschaftstageszeitung 'Les Echos' titelte am vergangenen Freitag: „Die Welt ist zu hohen Agrarpreisen verurteilt” (vgl. den Artikel ). Unter Berufung auf die OECD und die UN-Welternährungsorganisation FAO schrieb die Zeitung dazu, voraussichtlich würden die Preise für Grundnahrungsmittel weltweit in den nächsten zehn Jahren hoch bleiben…
Artikel von Bernard Schmid vom 9.6.08

Quelle: http://www.labournet.de/diskussion/wipo/allg/hunger.html