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Radio-Feature: Oury Jalloh - die widersprüchlichen Wahrheiten eines Todesfalls (inkl. Manuskript)

Feature von Margot Overath, erstmalig ausgestrahlt am 22.10.2014. Direkt anhören auf der Webseite des Mitteldeutschen Rundfunks

Siebenter Januar 2005. Dessau, Sachsen-Anhalt. In einer Polizeizelle verbrennt ein an Händen und Füßen gefesselter Mensch bei lebendigem Leibe. Selbst verschuldet, sagen die einen. Ermordet, sagen die anderen. Was geschehen ist, wird nur gedeutet. Klare Beweise liegen nicht vor. Da auch der zweite Prozess vor dem Landgericht Magdeburg keine endgültige Aufklärung über das Entstehen des Brandes bringt, knüpft die Autorin an ihre Recherche für ihr erstes Feature zum Fall Jalloh “Verbrannt in Polizeizelle Nummer fünf” an und hinterfragt die Ermittlungsergebnisse erneut. Mit Unterstützung von Gerichtsmedizinern, Toxikologen und Kriminalbeamten geht Margot Overath Ungereimtheiten nach und bekommt Hinweise auf einen dritten Mann. Ging es am Anfang um unterlassene Hilfeleistung des Dienstgruppenleiters, ermittelt die Staatsanwaltschaft Dessau seit 2014 gegen Unbekannt wegen Mordes.

Auszug aus dem Manuskript:

“Frühling 2013. Zum ersten Mal kommt jemand auf mich zu mit einer Information über einen möglichen Tatverdächtigen. Ein pensionierter Polizeibeamter aus Halle. Obwohl er die siebzig überschritten hat, sei ihm die Lust am Aufklären von Kriminalfällen geblieben, erzählt er mir am Telefon. Vor einigen Monaten habe ein Mann Kontakt zu ihm aufgenommen, der behaupte, Hinweise zu haben, die zur Lösung des Falls führen könnten. Er nennt ihn 'Hinweisgeber', so wie früher, als er noch im aktiven Dienst war. […]

Es sei um Rassismus und sexuelle Demütigung gegangen. Tatsächlich war der Unterleib Oury Jallohs besonders tief verbrannt. Die Polizeizeugin Beate H. ging um 11 Uhr 45 hinunter in den Gewahrsamskeller, weil sie ein Geräusch von Schlüsseln aus der Gegensprechanlage gehört hatte. Fünfzehn Minuten, bevor der Brandmelder anging. Ihrem Vernehmungsbeamten sagte sie am Nachmittag des Katastrophentages, dass Jallohs Hose geöffnet und deutlich runtergezogen war. Die Unterhose war zu sehen. Wie war das möglich? Seine Hände waren gefesselt und zu beiden Seiten gespreizt. Am Tag danach bespreche ich die Geschichte mit einem Anwalt. Er rät mir, persönlich die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe zu informieren, was ich auch tat. Der Generalbundesanwalt nahm meine Informationen an, schrieb mir aber später, er sei nicht zuständig. Im Herbst 2013 gab er sie nach Sachsen-Anhalt zurück. So kamen sie nach Dessau. Von der Staatsanwaltschaft Dessau erfuhr ich, dass sie den Hinweisgeber vernommen und überprüft habe, seine 'mutmaßlichen Äußerungen' aber situationsbedingt und für das Ermittlungsverfahren unbrauchbar seien. Die Staatsanwaltschaft hatte nur den Hinweisgeber überprüft, wollte wissen wer der Mann ist. Als ich ihn in der Lobby eines Berliner Hotels traf, wirkte er hektisch, extrem nervös. Fast eine Stunde lang redete er nur über Dinge, die mich nicht interessierten. Ich wollte grade gehen, als er endlich zur Sache kam:'Ich sage nicht, dass er es getan hat. Ich sage nur, er ist der Schlüssel. Er verkehrt in den entsprechenden Kreisen'. Da solle ich recherchieren, aber ich soll aufpassen, es sei gefährlich.”

Über die Autorin

Margot Overath studierte Sozialwissenschaften und begann 1980 bei Radio Bremen als freie Reporterin im Jugendfunk. Es war die Zeit der Hausbesetzungen, der radikalen Proteste und der darauf folgenden Gerichtsverfahren. In vielen Prozessen saß sie auf der Pressebank und berichtete. Seit 1984 schreibt sie Radiofeatures für verschiedene ARD Anstalten. 1997 wurde sie mit dem CIVIS Preis für die Features “Abgeschoben” (RB) und “Auf der Flucht. Wie der junge Koudjo aus Togo doch noch in Deutschland Asyl bekam” (DLR/RB) ausgezeichnet. Für “Auf der Flucht” erhielt sie ein Jahr später auch den Preis der Internationalen Journalistenvereinigung (IFJ). Ihr erstes Feature zum Todesfall Oury Jalloh mit dem Titel “Verbrannt in Polizeizelle Nr. 5” produzierte die Featureredaktion des MDR 2010. Es wurde mit zahlreichen Preisen geehrt (u.a. “Robert Geisendörfer Preis” und “Marler Medienpreis Menschenrechte” von Amnesty International).