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Erinnerungskultur und Trauerarbeit von Unten (Juni 2014)

Dieser Text ist im Juni 2014 von AktivistInnen des transnationalen Netzwerks Welcome to Europe veröffentlicht worden.

Seit Jahren versucht das Netzwerk „Welcome to Europe“ (w2eu) und mit ihm eng verbundene Strukturen und Menschen, in Griechenland eine Kultur des Gedenkens für Menschen mit zu entwickeln, die an den Grenzen der „Festung Europa“ ihr Leben lassen mussten, bei dem Versuch diese zu überwinden. Wir haben hierbei stets versucht, die verschiedenen Arten der Betroffenheit zu-sammen zu bringen. Hierbei stehen für uns die Angehörigen der Toten an erster Stelle. Aber auch die Menschen, die vor Ort mit den Toten zu tun haben, versuchen wir stets mit einzubeziehen. Außerdem sind für uns nicht nur die Toten, sondern auch die Überlebenden von großer Bedeutung und damit zusammenhängend auch ihre Retter. Schlussendlich haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir mit unserer Art des Gedenkens zwar eigene Akzente setzen, aber dabei stets die örtlichen Reali-täten, Kulturen und Machtverhältnisse bedenken müssen.

An drei Beispielen möchten wir deutlich machen, wie wir versuchen, diese
Prinzipien umzusetzen:

  • Im Jahr 2009 starben an einem einsamen Felsvorsprung an der Nordküste der griechischen Insel Lesbos zwei Mütter und fünf Kinder. Ein Kleinkind wurde von einem der zu Hilfe geeilten Fischer gerettet, in dem dieser ins Wasser sprang. Auch beide Eltern überlebten das Unglück. Die Drei lebten noch einige Zeit auf Lesbos, um Geld für die Weiterreise zu verdienen. Gemeinsam mit dieser Familie und den sie rettenden Fischern besprachen wir ausführlich den Plan, an der Stelle des Schiffsunglücks eine Gedenktafel in der Nähe des dortigen Leuchtturms anzubringen. Hierbei kam es zu einer Begegnung zwischen Retter und Geretteten, die wahrscheinlich sonst nicht stattgefunden hätte. Bei der Gestaltung der Gedenktafel wirkten Flüchtlinge aus der Kultur der Verstorbenen mit. Die Gedenkfeier wurde von griechischen Aktivisten entscheidend mitgestaltet. Die gerettete Familie war dabei und sandte später Fotos von der Gedenktafel und der Feier an ihnen bekannte Angehörige und
    andere Überlebende.
  • Um der vielen Vermissten und Verstorbenen an der Evros-Grenze zwischen der Türkei und Griechenland zu gedenken, gestalteten wir im Sommer 2011 einen Brunnen an einer von vielen Flüchtlingen benutzten Straße um. Da es sich um einen öffentlichen Brunnen handelte, infor-mierten wir den örtlichen Bürgermeister, der zwar seine Zustimmung nicht gab, aber immerhin informiert war. Die Gedenkfeier war entscheidend von Menschen mitgeprägt, die an dieser Grenze Familienangehörige verloren hatten oder sie vermissten. Außerdem war sie geprägt von der lokalen und internationalen Empörung über das unwürdige Verscharren von Hunderten von Evrostoten in einem Massengrab in der Region, das AktivistInnen von w2eu bei der Suche nach Vermissten 2010 entdeckten. Auf der Trauerfeier hielt eine der Reden ein Mann aus Kenia, des-sen Frau bei dem Versuch zu ihm nach Griechenland nachzukommen, im Grenzfluss ihr Leben gelassen hatte. Auch verlasen wir den Brief einer Mutter von drei Kindern, deren
    Mann dort vermisst und nie gefunden wurde. Die Gedenkfeier und die Veränderung des Brunnens wären nicht möglich gewesen ohne die persönliche Unterstützung von vor Ort lebenden Menschen.
  • Im Herbst 2013 gedachten wir an der Ostküste von Lesbos der vielen toten Flüchtlinge rund um die Insel. Die Stelle hatten wir gemeinsam mit dem örtlichen Fischerclub, deren Mitglieder viele Tote und Lebende bergen, sowie in Absprache mit ausgewählten Lokalpolitikern ausgesucht. Hauptpersonen an diesem Tag waren die Angehörigen der Menschen auf der Gedenktafel, die aus Athen angereist waren, um ihrer Verwandten zu gedenken, darunter vier teils sehr kleine Kinder. Die Gedenkfeier war bestimmt von vielen Menschen, die diesen Weg selber gegangen waren und überlebt hatten, aber in vielen Fällen Freunde und Angehörige auf dem gefährlichen Weg hatten sterben sehen. Auch betroffene Fischer nahmen
    teil. Dass die an zwei Holzpaddel geschraubte Gedenktafel den Winter überstand, wäre ohne die enge Zusammenarbeit mit den Fi-schern nicht möglich gewesen. Diese zeigten sich bei einem Besuch im Jahr 2014 auch interessiert an einer weiteren Zusammenarbeit und auch unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Nö-te, die insbesondere durch das Bergen von Toten aus dem Meer entstehen.

In der Hauptstadt von Lesbos, Mitilini werden seit vielen Jahren in einer Ecke des größten Friedhofs der Stadt im Meer ertrunkene und gefundene Flüchtlinge in größtenteils unbefestigten Gräbern beerdigt. Die zumeist nicht identifizierten Toten sind nach dem Jahr ihres Ertrinkens, ihrer (vermuteten) Herkunft und einer Nummer gekennzeichnet („2010, Afghan, No 4“). Angehörige können ihre Toten wenn überhaupt nur mit Hilfe der Polizeilisten finden, und auch nur, weil die Körper in der
örtlichen Gerichtsmedizin alle DNA-getestet wurden.

Einige wenige örtliche AktivistInnen, teilweise selber Flüchtlinge, kümmern sich seit Jahren um die Beerdigungen und die Gräber, soweit es ihre Kraft zulässt. Nach den Todesfällen sind sie zudem für die verzweifelt suchenden Angehörigen eine wichtige Verbindung zu den mit den Toten befassten Behörden. Sie helfen ihnen bei der Suche aber auch bei der Überführung von identifizierten Toten in die Heimatländer der Angehörigen. In Zusammenarbeit mit diesen Menschen entstand bei einem Friedhofsbesuch im Rahmen einer Reise von über Lesbos nach Europa gelangten jungen Flüchtlin-gen das Bedürfnis, die Gräber würdiger zu gestalten und diesen Teil des Friedhofs zu einem Ort des Gedenkens für die an dieser Stelle der Festung Europa Getöteten umzugestalten.

Wir halten wir es für sinnvoll und richtig, dass die Flüchtlinge weiterhin auf dem gleichen zentralen Friedhof wie die Einheimischen und nicht getrennt beerdigt werden. Dies sollte in Respekt vor den unterschiedlichen Religionen und Trauer- sowie Bestattungskulturen durchgeführt werden. Auch für den Teil des gemeinsamen Friedhofs, in dem Flüchtlinge bestattet werden, muss es systematisch gekennzeichnete und wiedererkennbare Einzelgräber geben. Außerdem sollte es, wie bereits vereinzelt geschehen, möglich sein, dass auch die Flüchtlinge mit den zu ihrer Kultur und Religion gehö-renden Bräuchen und wenn vorhanden auch von den entsprechenden Geistlichen bestattet werden.

Für das Entwickeln eines Gedenkens auf diesem Friedhof der Stadt Mitilini halten wir es für äußerst notwendig, die hier genannten Grundsätze und Erfahrungen zu berücksichtigen. Ohne eine enge und
gleichberechtigte Zusammenarbeit mit den betroffenen Familien und mit Überlebenden, ohne eine gemeinsame Entwicklung mit den vor Ort seit Jahren in der Begleitung der Toten involvierten Per-sonen und Strukturen und ohne eine, die örtlichen Realitäten bedenkende politische Auseinandersetzung ist aus unsere Sicht eine würdige Umgestaltung der Flüchtlingsgräber auf dem Hauptfriedhof von Mitilini nicht denkbar.