Für Bewegungsfreiheit & selbstbestimmte Entwicklung!

28.01.2013 | Protestbrief an den UNHCR

Sehr geehrter Herr António Guterres,
Sehr geehrte Frau Ursula Schulze Aboubacar,
Sehr geehrte Mitarbeitende des UNHCR,

wir sind Aktive und Interessierte aus unterschiedlichen Teilen der Welt. Wir haben von Freundinnen und Freunden, die ohne Perspektive in Choucha leben, erfahren, dass sie einen Protest in Tunis durchführen, welcher sich an den UNHCR als auch die US-Amerikanische und EU-Botschaft wendet. Die Protestierenden sind Flüchtlinge, die das Refugee Status Determination-Verfahren durchliefen ohne als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Sie werden diese Menschen “Migrantinnen und Migranten” nennen, die nicht “unter das Mandat des UNHCR fallen”, und die mit IOM in ihre Herkunftsländer ausreisen sollten – egal, ob sie dort von Verfolgung, (Bürger-)Krieg oder Armut bedroht sind.

Einige von uns haben viele dieser Menschen, denen vom UNHCR seit Oktober diesen Jahres sogar der Zugang zu Lebensmitteln und medizinischer Versorgung verwehrt wird, persönlich kennengelernt. Sie sind jetzt aufgrund ihres irregulären Status in Tunesien akut von Abschiebung bedroht. Wir haben ihre Geschichten gehört und selbstverständlich erzählen sie eine andere Version dessen, was in Choucha passiert und passiert ist, als es der UNHCR, angewiesen auf sein gutes Image und ein dementsprechendes Budget, vermag.

Dabei streiten ihre Mitarbeitenden nicht einmal ab, dass beispielsweise die Übersetzung in den RSD-Anhörungen miserabel war. Und auch Sie werden sicherlich zustimmen, dass es nicht optimal ist, wenn Flüchtlinge ohne Dolmetscherfahrung für andere Flüchtlinge übersetzen. Vor allem in einer für individuelle Schicksale so wichtigen Situation wie der RSD-Anhörung. Es hat uns schockiert von Flüchtlingen in Choucha zu erfahren, wie überfordert Mitarbeitende des UNHCR mit der Bearbeitung von RSD-Verfahren wirkten. Leider war es dem UNHCR in viel zu vielen Fällen nicht möglich die Voraussetzungen aus den UNHCR-eigenen Richtlinien für RSD- Anhörungen zu erfüllen.

Ein Beispiel für das mangelhafte Vorgehen des UNHCR ist der Umgang mit Menschen, die in ihrem Einspruch gegen die erste Ablehnung angaben, dass eine parteiische Übersetzung der Grund für einen schlechten Informationsaustausch in der Anhörung war. Erschreckenderweise fanden sie sich in der zweiten Anhörung mit dem gleichen parteiischen Dolmetscher – einer Angehörigen einer verfeindeten Konfliktpartei – in dem Anhörungsbüro wieder. Solche makaberen Fehler dürfen dem UNHCR nicht passieren, wenn ihm etwas an seiner guten Reputation liegt!

Darüber hinaus klagen viele unserer Freundinnen und Freunde in Choucha über die unerträglichen Lebensbedingungen im Camp und darüber, dass sie sich vom UNHCR alleingelassen, angefeindet und ausgegrenzt fühlen. Wir möchten hier auch an die schrecklichen Ausschreitungen, die Plünderungen und das Brand im Mai 2011, bei dem Menschen starben, verletzt und teilweise re- traumatisiert wurden, erinnern. Der UNHCR hat sich in dieser Phase komplett aus dem Camp zurückgezogen, und hat, bezogen auf den eigenen Anspruch Flüchtlingen Sicherheit zu bieten, auf ganzer Linie versagt. Wir kritisieren insbesondere, dass es auch in den Folgemonaten keinerlei Aufarbeitung der Ereignisse von Seiten des UNHCR gab.

Eine weitere Situation, in der sich der UNHCR sowie dessen Partnerorganisationen aus “Sicherheitsgründen” aus dem Camp zurückzogen, war die Streikphase der Arbeitnehmenden in Choucha Anfang des Jahres 2012. Hierbei waren die UNHCR-Mitarbeitenden selbstverständlich um ihre eigene Sicherheit besorgt – ließen die Flüchtlinge im Camp jedoch im gleichen Moment ohne offizielle Ansprechpersonen in der offensichtlich gefährlichen Situation zurück.

Wir haben erfahren, dass das Budget des UNHCR für das Choucha-Camp 2012 stark gesunken ist. Da sich mittlerweile allerdings viel weniger Menschen in Choucha befinden und auch weniger Aufgaben zu erfüllen sind – ist es uns absolut unverständlich, wie Sie diejenigen, die Sie als abgelehnte Asylsuchende markierten mit der Einführung der so genannten “Refugee-ID”, von jeglichem Zugang zu Lebensmitteln und medizinischer Versorgung ausschließen konnten. Selbst Kleinkindern wird Milch verweigert. Natürlich, laut Ihrer Definition fallen diese “Migrantinnen und Migranten” nicht unter Ihren Zuständigkeitsbereich – wie Sie aber vermutlich selber schon erfahren durften, ist es diesen Menschen nicht möglich zurück nach Libyen oder ihre Herkunftsländer zu reisen. Da der Aufenthalt in Tunesien außerhalb des Camps bereits zu Festnahmen führte, sind die verbleibenden abgelehnten Asylsuchenden faktisch im Camp gefangen – ihnen das mindeste an humanitärer Versorgung zu verwehren, ist nicht hinnehmbar!
Das Choucha-Camp wird noch bis Juni 2013 existieren. Sie haben also noch die Möglichkeit bisherige Fehler auszubessern, und vor allem auf die mehr als berechtigte Forderung der Protestierenden nach Neuaufnahme der Asylverfahren unter akzeptablen Bedingungen einzugehen.

Aus den hier aufgeführten Gründen schließen wir uns den Forderungen unserer streikenden Freundinnen und Freunde aus Choucha an:

  • Wiederaufnahme der Verfahren aller abgelehnten Asylsuchenden!
  • Die Anerkennung der Rechte aller im Camp Verweilenden, das heißt:
  • Zugang zu Lebensmitteln und medizinischer Versorgung für alle!
  • Und Zugang zum Resettlement-Verfahren für alle!

Nach all den Versäumnissen des UNHCR in Choucha, sollten Sie sich endlich in der Verantwortungsehen auf die protestierenden Flüchtlinge einzugehen. Im Namen der unterzeichnenden Organisationen und Einzelpersonen bitten wir Sie nachdrücklich, auf diese Forderungen einzugehen

Signatories / Signataires / Unterzeichnende:

  • Achim Rollhäuser, Lawyer, Athens, Greece
  • Afrique-Europe-Interact, International
  • All Included Amsterdam, Netherlands
  • Andrea Ciannavei, New York, USA
  • boats4people, International
  • borderline-europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V, Germany
  • Café Exil, Hamburg, Germany
  • Caroline von Taysen, Berlin, Germany
  • Charlotte Bomy, France
  • Christine Poppitz, Rüx/Zettlitz, Germany
  • Conseil des Migrants au Maroc, Morocco
  • David Gerald Caudwell Landau, London, United Kingdom
  • Eva Weber and Helmut Dietrich; Research Center on Flight and Refugee, Forschungsgesellschaft Flucht und Migration e.V., Germany
  • Flüchtlingsrat Hamburg, Germany
  • Flüchtlingsrat Niedersachsen, Germany
  • Flüchtlingsrat Wiesbaden, Germany
  • Free movement – network, Finland
  • grenzenlos | leipzig, Germany
  • Hermann-Josef Hardt, Flüchtlingsrat Hamburg, Germany
  • initiative “ausbrechen”, Büren, Germany
  • Ivan Jurica, Austria and Slovakia
  • Karina Brinkhoff, Germany
  • kein mensch ist illegal hanau, Germany
  • Kornelia Metzing, AK Ausländer und Asyl Freiberg e.V., Germany
  • Manuel Junghans, Freiberg, Germany
  • Marc Eichberger, Berlin, Germany
  • Nadine Henkel, Frankfurt am Main, Germany
  • noborder ffm, Germany
  • Occupational Art School, Occupational Arts and Novads, Brooklyn, USA
  • PrekaerCafe, Austria
  • Ralph-Eric Berg, Doctor, Berlin, Germany
  • René Rumpf, Germany
  • Sandro Mezzadra, Professor, University of Bologna, Italy
  • Solongo Baldandorshijo, Germany
  • Stiftung :do, Germany
  • Theda Ohling, Germany
  • Ulrike Beudgen
  • welcome2europe, International
  • Yael Dilger (M.A.), Hamburg, Germany
  • die protestierenden Flüchtlinge in Berlin Protest-Camp
  • Jasper Teunissen, Nijmegen, the Netherlands
  • ARACEM (Mali)
  • Ria Bovenkerk, Zaandam, Netherlands
  • Suzanna van der Meer, Wageningen, Netherlands
  • No Border Network Netherlands
  • Le Collectif des Communautés Subsaharienne au MAROC (CCSM)
  • Comitato Antirazzista Cobas Palermo
  • Le Conseil des Migrants au Maroc
  • L'ATMF (Association des Travailleurs Maghrébins de France)