Komplexe Realitäten

Kleinbäuerliche Landwirtschaft in Mali unter massivem Druck

Von Olaf Bernau – erschienen in: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 574 / 17.8.2012

Die Pläne waren hochfliegend, als Anfang März eine 30-köpfige Delegation des transnationalen Netzwerks Afrique-Europe-Interact von der malischen Hauptstadt Bamako ins 270 Kilometer nordöstlich gelegene Office du Niger aufbrach – darunter auch 10 AktivistInnen aus Europa. Als Aufhänger fungierte der Umstand, dass die Regierung des westafrikanischen Landes in dem äußerst fruchtbaren Niger-Binnendelta seit 2003 über 900.000 Hektar Acker- und Weideland an transnational operierende Banken, Investmentfonds und Konzerne verkauft hat. Entsprechend ist die Region immer wieder zum Schauplatz öffentlichkeitswirksamer Aktionen gegen Landgrabbing geworden, zuletzt im November 2011 anlässlich einer maßgeblich von der weltweiten Kleinbauernorganisation Via Campesina in Niono ausgerichteten Gegenkonferenz. Um so überraschender war es, dass unsere Delegation eine gänzlich andere Situation vorgefunden hat. In den Begegnungen und Versammlungen mit BasisgewerkschafterInnen, dörflichen RepräsentantInnen und zahlreichen Kleinbauern und -bäuerinnen ist Landgrabbing zwar auch zur Sprache gekommen, doch insgesamt entpuppten sich die Gespräche als ungleich komplexer, ja nachdenklicher und behutsamer. Deutlich wurde vor allem, dass neokolonialer Landraub lediglich ein weiterer Baustein im generellen Prozess der langfristig angelegten Inwertsetzung und somit Einverleibung kleinbäuerlicher Landwirtschaft in den kapitalistischen Weltmarkt ist. Die derzeit beobachtbare Fokussierung auf Landgrabbing durch NGO, soziale Bewegungen, Medien und wissenschaftliche Akteure sollte daher keinesfalls, so unser Fazit, zu einer eindimensionalen Problemdefinition führen. Hierzu gehörte auch, dass wir im Zuge der Delegationsreise einige unserer im Vorfeld formulierten Einschätzungen zur Stärke des aktuellen Widerstands gegen Landgrabbing in Mali bzw. Westafrika (1) deutlich relativieren mussten – eine Erkenntnis, die es nahelegt, mit einer knappen Zusammenfassung der im Office du Niger primär zur Sprache gekommenen Themen zu beginnen.

a) Landknappheit: Die kleinbäuerlichen Haushalte im Office du Niger profitieren zwar davon, dass ihr Land über ein riesiges, vom Niger gespeistes Kanalsystem bewässert wird, dennoch leiden viele von ihnen an extremer Landknappheit. Denn trotz permanenten Bevölkerungswachstums haben tausende Familien in den letzten Jahrzehnten keine zusätzlichen Ackerflächen seitens der Verwaltung des Office du Niger erhalten – mit der Konsequenz, dass die durchschnittlichen Brachzeiten (zwecks Regeneration des Bodens) von 15 Jahren in den 1970er Jahren auf mittlerweile gerade mal 2 Jahre zusammengeschmolzen und die Erträge pro Hektar dementsprechend zurückgegangen sind. Zusammen mit hohen Dünger-, Wasser- und Saatgutpreisen führt dies zu dramatischen, auch aus anderen Weltregionen hinlänglich bekannten Verschuldungsspiralen. Nicht selten müssen die betroffenen Kleinbauern und -bäuerinnen daher ihre komplette Reisernte verkaufen, um die eigene Versorgung mit kostengünstigerer Hirse zu gewährleisten – notfalls auch auf Basis zusätzlicher Kredite.
b) Mikro-Landraub durch korrupte Verwaltung: Die ohnehin prekären Bodenverhältnisse werden im Office du Niger zusätzlich dadurch verschärft, dass die Behörden Land entschädigungslos konfiszieren, sobald die NutzerInnen mit der Wasserrechnung in Verzug geraten sind. Dieser bei Bedarf auch mit Gewalt durchgesetzte Verwaltungsakt geschieht unabhängig davon, ob das Land seit 3, 10 oder 30 Jahren bestellt wurde. Ebenfalls keine Rolle spielen die Gründe des Zahlungsverzugs – ganz gleich, ob Schädlingsbefall aufgetreten ist oder die zentral gewarteten Abflusskanäle verstopft waren und die gesamte Reisernte im nicht abgeflossenen Wasser vergammelt ist. In solchen Fällen soll zwar eine paritätisch besetzte Kommission den Sachverhalt sorgfältig prüfen, die ausgesprochenen Empfehlungen werden allerdings nur selten eingehalten – ein Aspekt, der nicht zuletzt auf den eigentlichen Charakter der Landbeschlagnahmungen verweisen dürfte. Denn diese erfolgen keineswegs im Interesse des Allgemeinwohls, vielmehr reißen sich die BehördenmitarbeiterInnen das Land in hochgradig korrupter Manier selber unter den Nagel, wahlweise für ihr persönliches Umfeld oder zur Weiterverpachtung an klientelistisch verbundene Parteifreunde, Geschäftspartner oder Regierungsbeamte. Kurzum: Die Kleinbauern und -bäuerinnen im Office du Niger sind in beachtlichem Ausmaß mit Mikro-Landgrabbing konfrontiert, weshalb die zuständige Verwaltung im Rahmen unserer Gespräche immer wieder als postkoloniales „Vampir-System“ tituliert wurde.
c) Agrarpolitische Fehlentscheidungen: Im Zuge diverser (IWF-)Strukturanpassungsprogramme wurde der malischen Regierung in den vergangenen 25 Jahren unter anderem auferlegt, die finanzielle Unterstützung des kleinbäuerlichen Sektors weitgehend einzustellen. Dies umfasste nicht nur die Subventionierung von Dünger oder die Gewährung von Garantiepreisen, letzteres insbesondere im Baumwollbereich. Auch die Beschäftigung von AgrarberaterInnen musste beendet werden – und das mit zum Teil aberwitzigen Effekten. So berichteten Bauern und Bäuerinnen, dass sie auf direkten Druck der Regierung dieses Jahr erstmalig Kartoffeln angebaut hätten, womit Ernteausfälle bei Hirse in anderen Landesteilen kompensiert werden sollten. Einziger Haken: Weder wurden Informationen darüber zur Verfügung gestellt, wie Kartoffeln zu ernten und zu lagern wären, noch hat das Agrarministerium eine geeignete Vertriebsstruktur aufgebaut. Folge war, dass im Frühjahr hunderte Kleinbauern und -bäuerinnen im Office du Niger auf ihren Kartoffeln sitzen geblieben sind – einschließlich zusätzlicher Verschuldung und somit drohendem Landverlust.
d) Migration: Wegen seines künstlichen Bewässerungssystems gilt das Office du Niger als eine vergleichsweise privilegierte Region in Mali. Und doch ist der Mangel an Land derart gravierend, dass Migration auch hier zu einem alltäglichen Dauerbrenner geworden ist. Vor allem zweierlei scheint bemerkenswert: Zum einen wurde immer wieder betont, dass Migration zunächst einmal mit dem Wunsch zu tun habe, einen Beitrag zur Erfüllung der Grundbedürfnisse der eigenen Familie zu leisten, nicht jedoch – wie es häufig den Anschein hat – mit einer vermeintlich nachlassenden Bereitschaft zur bäuerlichen Lebensweise an sich. Entsprechend pointiert, ja süffisant merkte der Vertreter einer Basisgewerkschaft an, dass ein Bauer mit hinreichend großer Landfläche im Office du Niger sehr viel besser (über-)leben könne als „ein Migrant in Europa oder ein Staatsangestellter, der nicht klaut“ (2). Zum anderen sprachen sich verschiedene – auch ältere – GesprächspartnerInnen dafür aus, die „Jungen“ ziehen zu lassen, jedenfalls so lange keine angemessenen Lebensperspektiven im Dorf bereitgestellt werden könnten. Hier begegnete uns einmal mehr jene Schicksalsergebenheit („lieber bei der Überfahrt umkommen, als im Elend leben“), die wir bereits im Laufe der Bamako-Dakar-Karawane Anfang 2011 als eine unter (west-)afrikanischen AktivistInnen äußerst umstrittene Haltung kennengelernt hatten (ak 560).

Gewiss – keines der hier skizzierten Themen war überraschend. Überraschend war allerdings, dass der großflächige Ausverkauf fruchtbarer Acker- und Weideflächen im Office du Niger bei unseren Begegnungen keine oder lediglich eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Vordergründig schien dies damit zusammenzuhängen, dass in dem von uns besuchten Teil des Office du Niger Landgrabbing im XXL-Format weder stattfindet noch geplant ist. Eine Erklärung, an der jedoch im Rahmen der delegationsinternen Debatten rasch Zweifel aufkamen: Angesichts der allgegenwärtigen Landknappheit spreche wenig dafür, dass es den Bauern und Bäuerinnen tatsächlich egal sein könne, wenn in ihrer mehr oder weniger unmittelbaren Umgebung riesige Agrarflächen an externe Investoren verhökert würden – und somit jenes Produktionsmittel, das sie zum Überleben so dringend bräuchten. Die zentrale Frage müsse vielmehr lauten, so unsere Quintessenz, was die Bauern und Bäuerinnen im Office du Niger daran hindere, gegen die systematische Vorenthaltung von Land auf die Barrikaden zu gehen, zumal ja Widerstand gegen Landgrabbing keineswegs unbekannt sei, weder in Mali noch weltweit.

Konkrete Antworten hierauf erhielten wir insbesondere von dem bereits zitierten Vertreter einer bäuerlichen Basisgewerkschaft, wobei dieser vor allem zweierlei betonte: Einerseits, dass die staatliche Autorität für viele Bauern und Bäuerinnen „wie ein König“ wirke, insbesondere für jene mit wenig Bildung. Andererseits, dass es im Office du Niger bereits zwischen 2005 und 2008 einen mittels massiver Repression erstickten Kampfzyklus gegen das Mikro-Landgrabbing der Behörden gegeben habe. Dadurch sei nicht nur der bäuerliche Widerstand sowie die Solidarität der Dörfer untereinander spürbar geschwächt worden. Vielmehr sei das auch der Grund dafür, weshalb viele Kleinbauern und -bäuerinnen Angst hätten, öffentlich gegen das durchaus als skandalös empfundene XXL-Landgrabbing im Office du Niger Stellung zu beziehen. Wie schwierig und widersprüchlich die Lage ist, hat sich zudem an kleinen Details bemerkbar gemacht, etwa daran, dass der in Europa allenthalben bekannte Via Campesina-Aktivist und Vorsitzende des Malischen Kleinbauernverbandes CNOP, Ibrahim Coulibaly, unseren GesprächspartnerInnen im Office du Niger nicht der geringste Begriff war. Deutlich wurde auf diese Weise, dass in Mali nicht nur die Bauern und Bäuerinnen, sondern auch institutionelle Akteure ressourcenmäßig auf eine für europäische Verhältnisse kaum vorstellbare Weise eingeschränkt sind. Erwähnt sei nur, dass das einzige Büro von Via Campesina in Mali aus gerade mal anderthalb regulären Stellen besteht – und das in einem Land mit 10 Millionen Kleinbauern und -bäuerinnen auf einer dreimal so großen Fläche wie Deutschland.

Kurzum: Aus dem Umstand, dass in Niono im November 2011 eine Via Campesina-Konferenz gegen Landgrabbing stattgefunden hat oder dass die BewohnerInnen des ebenfalls im Office du Niger gelegenen Dorfes Sadamandougou seit über 2 Jahren gegen die landgrabbingbedingte Zerstörung ihrer Karité-Bäume öffentlichkeitswirksam protestieren (um nur die zwei bekanntesten Beispiele zu nennen), sollte keinesfalls ein gleichsam vor der Tür stehender Bauernaufstand abgeleitet werden – zumindest so viel ist bei unserer Delegationsreise umissverständlich deutlich geworden. Passender erscheint vielmehr, von einem ungleich längerfristigen Prozess auszugehen, womit ich bereits bei einigen abschließenden Bemerkungen zu den konkreten Umständen unseres Besuches im Office du Niger angelangt wäre: Zu Beginn herrschte Skepsis, denn trotz einer Vorabdelegation aus Bamako wurde in den drei von uns besuchten Dörfern gemunkelt, dass es sich bei uns um Parteifunktionäre handeln würde. Gebrochen war der Bann daher erst, nachdem wir ausgiebig die Felder besucht hatten, gilt dies doch für Funktionäre oder BesucherInnen aus Europa als absolut unübliche Praxis. Gleichwohl waren die unterschiedlichen Lebensrealitäten – gedacht als Spannungsbogen zwischen malischem Dorf, Bamako und westeuropäischer Metropole – kaum zu übersehen: Nicht nur bei den materiellen Differenzen, sondern auch anderweitig, etwa in Fragen des Geschlechterverhältnisses oder sprachlich, da Bambara im Office du Niger als maßgebliche Verkehrssprache fungiert – so wie vielerorts in Mali. Vor diesem Hintergrund stand am Ende die Vereinbarung, dass der Kontakt zwischen Afrique-Europe-Interact und Office du Niger in erster Linie über AktivistInnen in Bamako weiterzuentwickeln wäre, während in Europa öffentlichkeitswirksamer Druck auf Investoren und andere NutznießerInnen des Landgrabbings ausgeübt werden sollte (3).

(1) vgl. ak 569: Olaf Bernau. Der globale Widerstand wächst. Bäuerliche Bewegungen machen mobil gegen neokolonialen Landraub.
(2) Das Interview ist zusammen mit weitere Interviews und Analysen zu Landgrabbing in Mali in einer 52-seitigen Broschüre erschienen, die Afrique-Europe-Interact anlässlich der Delegationsreise kürzlich veröffentlicht hat. Bestellung unter: nolagerbremen@yahoo.de
(3) Verwiesen sei in diesem Zusammenhang insbesondere auf eine 24-stündige, von Afrique-Europe-Interact initiierte Belagerung der Deutschen Bank in Bremen: vgl. www.afrique-europe-interact.net

Olaf Bernau ist für NoLager Bremen bei Afrique-Europe-Interact aktiv