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Wachsender Unmut im »Dschungelcamp«

Bewohner wollen Schließung von Flüchtlingsheim Möhlau / Kreistag Wittenberg berät Alternativen

Von Hendrik Lasch

206 Menschen leben im Flüchtlingsheim Möhlau – und wehren sich gegen Isolation und miserable Wohnbedingungen. Unterstützt werden sie selbst aus Afrika. Demnächst berät der Kreistag über eine mögliche Schließung.

Alassanie Dicko ist ein sehr ernster Mann. Mit verschlossenem Gesicht sitzt er in einem engen Zimmer im Flüchtlingsheim Möhlau und hört sich die Geschichten der Bewohner an: von Berisha, die seit zehn Jahren in der ehemaligen Kaserne am Heiderand wohnt, hier ihren Mann begraben hat und nicht versteht, warum ihr 18-jähriger Sohn keine Lehre beginnen kann. Von Nwefor, der aus Nigeria kommt, in Gräfenhainichen zwei kleine Kinder hat, aber in Deutschland keine Aufenthaltsgenehmigung erhält. Von der erkrankten Mohamedine, die der Vorladung zur syrischen Botschaft nur folgen kann, wenn ihr Mann mitfährt: »Aber die Ausländerbehörde erlaubt ihm das nicht.«
Alassanie Dicko hört lange schweigend zu. Erst draußen, im Hof vor dem heruntergekommenen Block, der von Ruinen umstellt am Ende einer langen Straße weit weg vom Dorf steht, platzt es aus ihm heraus. »Europa macht uns glauben, es sei auf Werten gegründet«, sagt er: »Welche Werte sollen das sein? Europa ist eine Lüge.«
Dicko hat einst selbst versucht, in Europa Fuß zu fassen. In Belgien wollte er eine Ausbildung machen; er wurde abgeschoben. Später schickten ihn auch französische Behörden nach Mali zurück. Heute arbeitet er bei AME, einer Hilfsorganisation, die gegründet wurde, nachdem sich in Mali in drei Jahren sieben abgeschobene Flüchtlinge das Leben genommen hatten. AME will so etwas verhindern und hilft den Menschen, die psychischen Folgen zu bewältigen, die, wie er betont, zum Beispiel aus der in Europa über Monate und Jahre erlittenen Isolation herrühren.
Isoliert sind auch die Menschen, die in Möhlau leben. Viele der 206 Insassen hausen hier seit Jahren – ohne die Erlaubnis zum Arbeiten und weit weg von der deutschen Gesellschaft. Das Heim, 37 Kilometer von der Kreisstadt Wittenberg und elf Kilometer von Gräfenhainichen entfernt, sei »so eine Art Dschungelcamp«, sagt Fabian Nagel vom Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt. Man muss hier gut zu Fuß sein, um Läden, Arzt oder Behörden besuchen zu können. Manchmal reicht selbst das nicht: Letzten Winter hätten die Kinder nicht zur Schule gehen können, weil der Bus die unberäumte Straße nicht passieren konnte.
Nicht nur Flüchtlingsorganisationen üben scharfe Kritik an Möhlau; auch die Bewohner selbst gehen auf die Barrikaden – ein seltener Vorgang. »Wir müssen hier leben wie Kriminelle, aber wir sind Menschen«, sagt Solomon, Sprecher der 2009 gegründeten Initiative, die mit einem offenen Brief an die Behörden nicht zuletzt in Wittenberg für Aufsehen gesorgt hatte – in einem Ort also, der, wie der zornige junge Mann betont, »doch eine christliche Stadt ist«.
Mittlerweile zeigt der Druck offenbar Wirkung. Am 21. Juni soll sich der Kreistag mit der Zukunft der, wie es im Behördendeutsch heißt, »Gemeinschaftsunterkunft« Möhlau befassen. Denkbar ist sogar deren Auflösung. Zwar werden einem Antrag der Grünen, alle Flüchtlinge im Landkreis künftig nur noch dezentral in Wohnungen unterzubringen, kaum Erfolgsaussichten eingeräumt – nicht zuletzt wegen der von der Verwaltung errechneten 727 000 Euro Mehrkosten pro Jahr. Doch auch einer Vorlage von Landrat Jürgen Dannenberg (LINKE) zufolge beabsichtige man, die Unterbringung der Migranten »ab 2011 zu verändern«. Erwogen wird, den in Möhlau lebenden 25 Familien Wohnungen in größeren Städten zur Verfügung zu stellen und die übrigen Flüchtlinge in kleineren Heimen unterzubringen. Verwiesen wird auf die »guten Erfahrungen«, die man im Landkreis Mansfeld-Südharz mit einer dezentralen Unterbringung gesammelt habe.
Mehr Geld wird der Landkreis ohnehin ausgeben müssen. Bislang wird, so die Vereinbarung mit dem Betreiber des Möhlauer Heims, für jeden Bewohner ein Tagessatz von 7,18 Euro gezahlt – verglichen mit anderen Kreisen ein »relativ niedriger Tagessatz«. Dieser Zustand, der sich in den Zuständen im Heim niederschlägt, werde sich, heißt es in der Kreistagsvorlage, »perspektivisch wohl nicht halten lassen«.

Quelle: Neues Deutschland, 09.06.2010